Stefan Heinlein: Am Telefon begrüße ich jetzt den Grünen-Politiker Ottmar von Holtz, Obmann seiner Partei im Bundestagsausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Guten Abend, Herr von Holtz.
Ottmar von Holtz: Guten Abend.
Heinlein: Sie sind geboren und aufgewachsen in Namibia, haben dort lange Jahre gelebt. Wie präsent ist die deutsche Kolonialgeschichte noch bei den Menschen in Namibia?
von Holtz: Die ist sehr präsent, weil es ganz viele Straßennamen gibt, die noch nach Menschen benannt sind, die aus der deutschen Kolonialzeit stammen. Die ist auch präsent, weil es viele Geschäfte gibt, vor allen Dingen aber auch, weil es in der dritten oder vierten Generation Menschen gibt, deren Vorfahren in der deutschen Kolonialzeit von dem damaligen deutschen Reich aus in die Kolonie ausgewandert sind.
Heinlein: Welche Erinnerungen haben die Menschen? Sind das durchweg negative Erinnerungen und Geschichten, die man sich erzählt, oder gibt es auch positive Dinge der deutschen Kolonialzeit, an die man sich erinnert?
von Holtz: Diese Erinnerungen sind tatsächlich nur an den gegenwärtigen Symbolen zu sehen. Erinnerungen gibt es allerdings tatsächlich bei vielen Menschen aus beispielsweise der Herero-Community, weil tatsächlich Verwandte, Großeltern oder Geschwister der Großeltern in der deutschen Kolonialzeit mit den Deutschen aneinandergeraten sind und dabei auch zu Tode gekommen sind. Da kenne ich durchaus Geschichten, die einem noch sehr nahegehen, wenn man die hört.
"Wunden gehen wieder auf"
Heinlein: Das waren ja schreckliche Verbrechen, Mord, Folter, Zwangsarbeit, die die deutschen Kolonialherren vor mehr als 100 Jahren verübt haben in dem damaligen Deutsch-Südwestafrika. Sind diese Wunden der Vergangenheit vor 100 Jahren bis heute noch präsent, oder sind die inzwischen verheilt?
von Holtz: Nein, die sind präsent. Das Schlimme ist, dass man in den letzten Jahrzehnten schon versucht hat, darüber hinwegzukommen, dass aber, seitdem das namibische Parlament einstimmig beschlossen hat, einen Versöhnungsprozess mit Deutschland angehen zu wollen und es wieder auf die Tagesordnung gekommen ist, wie sieht das eigentlich aus, wie steht Deutschland zu dem, was damals passiert ist, es aber seitdem nur Gespräche ohne Ergebnisse gibt, dass diese Wunden wieder aufgehen und alte Verletzungen zutage treten, und das ist ein sehr unglücklicher Zustand, den wir da gerade haben.
Heinlein: Gibt es in Namibia eine Art Erinnerungskultur an die Verbrechen der deutschen Kolonialherren?
von Holtz: Ja, die gibt es. Das ist vor allen Dingen selbst organisiert durch die Herero und durch die Nama, die sich an diese Geschehen damals dann in Form von Ritualen erinnern und auch Erinnerungsstätten haben, aber nicht die richtigen Erinnerungsstätten an den richtigen Orten. Da wünscht man sich tatsächlich auch dort, wo die Verbrechen geschehen sind, auch eine Art Gedenkstätte, die dann auch vielleicht von der namibischen Regierung organisiert und bezahlt wird. Das fehlt leider.
Heinlein: Sie waren heute bei den Gedenkfeierlichkeiten in Berlin dabei. Welchen Eindruck hatten Sie von diesen Gedenkfeierlichkeiten?
von Holtz: Mich hat das emotional sehr berührt. Ich habe tatsächlich sehr gemischte Gefühle gehabt. Als deutscher Parlamentarier, aber namibischer Herkunft, war mir vieles sehr vertraut. Die Menschen waren sehr vertraut. Es waren sehr viele Menschen aus Namibia, Herero und Nama dort. Vor allen Dingen die Sprache, die man da gehört hat, das war mir alles sehr vertraut. Diese Gemengelage in dem eigenen Bewusstsein auch, dass meine Großeltern selber, meine Vorfahren damals in der Zeit in der deutschen Kolonie waren, ohne dass ich weiß, es nicht herausfinden konnte, was sie konkret gemacht haben und getan haben in der Zeit, dann das heute zu hören, das hat mich emotional doch sehr stark berührt.
"Ich glaube, dass Deutschland zahlen muss"
Heinlein: Staatssekretärin Michelle Müntefering hat sich ja heute verneigt und um Verzeihung für die Verbrechen gebeten. War das für Sie eine persönliche oder eine offizielle Geste?
von Holtz: Ich schätze das so ein, dass das eine persönliche Geste war. Ich glaube, dass wir eine wirklich offizielle Geste erst hinbekommen, wenn der Deutsche Bundestag so etwas beschließt, wenn wir, ähnlich wie wir das mit der Armenien-Resolution gemacht haben, auch eine Resolution im Deutschen Bundestag gemeinschaftlich verabschieden, mit den demokratischen Parteien, mit den Stimmen aller demokratischen Parteien verabschieden, wo wir anerkennen, wo wir das Bekenntnis ablegen, dass es ein Völkermord war, wo wir um Entschuldigung bitten und auch die Bundesregierung auffordern, irgendwie eine Form von Zahlung zu leisten. Ich glaube, dann haben wir den Zustand erreicht, dass es eine offizielle Entschuldigung ist.
Heinlein: Deutschland muss zahlen? Die Bundesregierung muss nach Ihrer Auffassung, nach Auffassung Ihrer Fraktion Geld in die Hand nehmen, Reparationen zahlen, um die Verbrechen der Ur-Urgroßväter zu sühnen?
von Holtz: Ich glaube, dass Deutschland zahlen muss. Das muss nicht unbedingt eine Reparationszahlung sein. Das ist ein feststehender juristischer Begriff. Das kann man auch anders nennen. Aber eine Sonderzahlung jenseits der Entwicklungszusammenarbeit, die Deutschland ja in Namibia leistet in sehr, sehr großer Höhe, jenseits dieser Entwicklungszusammenarbeit wird Deutschland auch eine Sonderleistung zahlen müssen, die den Nachfahren derjenigen, die dem Genozid zum Opfer gefallen sind, zugutekommen. Ja, das finde ich schon.
Heinlein: In welcher Höhe sollte diese Sonderleistung stattfinden? Es gibt ja Zahlen, es gibt ja Forderungen von Seiten der Herero, die die Bundesregierung als überzogen brandmarkt.
von Holtz: Ja, das ist schwierig zu beziffern. Das ist, glaube ich, auch einer der Punkte, warum man bislang noch keine Einigung erzielt hat, weil es an der Zahl hängt. Man sollte sich, glaube ich, vor allen Dingen mal darauf verständigen über die Modalitäten, wie dieses Geld gezahlt wird, an wen es gezahlt wird, wofür es gezahlt wird. Man kann dann möglicherweise auch besser sich annähern, was die Höhe angeht. Eine Höhe selber habe ich in diesem Sinne für mich nicht ausgerechnet. Da würde ich mich jetzt auch gar nicht festlegen wollen.
"Vielleicht fürchtet man einen Domino-Effekt"
Heinlein: Warum, Herr von Holtz, tut sich denn Deutschland nach so vielen Jahren, nach über 100 Jahren so schwer mit der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte? Geht es da allein ums Geld?
von Holtz: Das wüsste ich, ehrlich gesagt, auch gerne. Ich bin mit dem Thema jetzt erst seit kurzem befasst, so konkret befasst, seitdem ich im Bundestag bin. Ich bin neu im Bundestag und versuche, dahinter zu kommen, woran es wirklich liegt. Es gibt ja Verhandlungsrunden, es gab bislang sechs Verhandlungsrunden, demnächst soll es eine siebte geben. Es gibt, glaube ich, auch seitens der Bundesregierung eine gewisse Befürchtung, dass man sich möglicherweise mit einer Art Reparationszahlung, wenn sie dann auch so heißt, festlegt und möglicherweise an anderer Stelle Begehrlichkeiten weckt und Forderungen. Man weiß auch gar nicht, was auf EU-Ebene da passiert, wenn jetzt ein Gericht feststellt, dass man Reparationszahlungen leisten muss. Es gibt ja auch andere europäische Länder, die Kolonien hatten, und vielleicht fürchtet man auch so einen Domino-Effekt. Ich weiß es nicht. Das ist reine Spekulation, aber wirklich faktisch wissen tue ich es nicht.
Heinlein: Der Grünen-Politiker Ottmar von Holtz. Wir haben das Gespräch aus Termingründen vor dieser Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.