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Bilanz deutscher Ostpolitik
Warum die Entspannungspolitik keinen Wandel durch Annäherung brachte

Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine wird die deutsche Ostpolitik unter neuen Vorzeichen betrachtet. Aus der einst progressiven Idee wurde für viele eine Generalentschuldigung für eine schwache und ignorante Politik. Nicht nur die SPD steht dabei in der Kritik.

Von Norbert Seitz |
Bundeskanzler Willy Brandt und der sowjetische Ministerpräsident Alexei Nikolajewitsch Kossygin unterzeichnen den Moskauer Vertrag über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion
Bundeskanzler Willy Brandt und der sowjetische Ministerpräsident Alexei Nikolajewitsch Kossygin: Der Moskauer Vertrag war im August 1970 die erste Station der neuen Ost- und Entspannungspolitik in der sozialliberalen Ära. (picture alliance / SvenSimon)
Die Welt war geschockt, als der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar 2022 den Angriff auf die Ukraine ankündigte und ihn ebenso fadenscheinig wie absurd begründete: „Ich habe beschlossen, eine Militäroperation durchzuführen. Ihr Ziel ist der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren der Misshandlung und dem Genozid des Kiewer Regimes ausgesetzt sind. Dafür streben wir die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine an.“

In diesem Moment stand fest: alle Versuche der dialogischen Diplomatie im Vorfeld des Feldzuges waren fehlgeschlagen. Vertreterinnen und Vertreter einer westlichen Russland-Politik, die auf Entspannung setzten, werden dafür mitverantwortlich gemacht. Auch vom Politologen Herfried Münkler: Aus seiner Sicht ist die vertrauensorentierte Politik des Prinzips „Wandel durch Annäherung“ bei Putin gescheitert. „Jetzt allerdings sollte es auch dem Letzten klargeworden sein, dass an die Stelle von Vertrauen und vertrauensfördernden Maßnahmen generalisiertes Misstrauen angezeigt ist.“

Entspannungspolitik statt Politik der Stärke

„Wandel durch Annäherung“ lautete die Devise, mit der die Entspannungspolitik vor nunmehr sechzig Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges aus der Taufe gehoben wurde. Ihr Architekt war Willy Brandts Vertrauter Egon Bahr. Das Fundament dafür stammte jedoch aus den USA: „Das Ganze ist nur rückgängig zu machen durch Krieg. Und Krieg will niemand", zitiert Bahr den US-Präsidenten John F. Kennedy.
Noch während des Baus der Berliner Mauer im August 1961 hatte Kennedy so vor unüberlegten Reaktionen gewarnt. Der Kalte Krieg befand sich auf dem Höhepunkt, die bis dahin verfolgte „Politik der Stärke“ verhieß keinen Fortschritt mehr. „Es war klar, niemand würde uns helfen, diese Mauer wegzukriegen. Also mussten wir überlegen: Was kann man tun? Man kann eigentlich nur zu dem Ergebnis kommen: Man muss mit der anderen Seite verhandeln.“

Zwei Jahre nach dem Mauerbau erläuterte der US-Präsident seine Strategie vor der American University in Washington: „Beide, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sowie die Sowjetunion und ihre Verbündeten, haben ein gemeinsames tiefes Interesse an einem gerechten und wirklichen Frieden und einer Einstellung des Wettrüstens. Abkommen, die zu diesem Ziel führen, sind im Interesse der Sowjets wie auch in unserem Interesse. Selbst bei den feindlichsten Ländern kann man damit rechnen, dass sie solche vertraglichen Verpflichtungen akzeptieren und einhalten, die in ihrem eigenen Interesse sind.“  
Auf diese „Strategy of Peace“ stützten sich auch der Regierende Bürgermeister von Berlin ,Willy Brandt, und sein Senatssprecher Egon Bahr, als sie im Juli 1963 in die Evangelische Akademie nach Tutzing an den Starnberger See fuhren, um dort ihr Konzept „Wandel durch Annäherung“ zu entwickeln. Was vielfach verschwiegen wird: Brandt hegte zunächst Zweifel an der von Bahr gewählten Formel. Der Grund?    

„Dass es missverstanden werden könnte: als ein sich selbst in grundsätzlichen Positionen wandeln Wollen, was ja nicht gemeint war. Was gemeint war, aber häufig durch ganz knappe Formeln nicht hinreichend rüberkommen kann, nämlich, dass durch mehr Kontakt, mehr Zusammenarbeit die Verhältnisse sich im anderen Teil Europas rascher verändern können, als wenn die von uns abgetrennt blieben.“

Nachkriegsgeschichte: Moskauer Vertrag von 1970

Der Moskauer Vertrag war im August 1970 die erste Station der neuen Ost- und Entspannungspolitik in der sozialliberalen Ära: Nach zähen Verhandlungen hatte man sich darauf geeinigt, den „internationalen Frieden aufrechterhalten“ und „Konflikte nur friedlich lösen“ zu wollen.
Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Rundfunkansprache aus Moskau: „Die Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland ist ein wichtiger Augenblick in unserer Nachkriegsgeschichte. 25 Jahre nach der Kapitulation des von Hitler zerstörten deutschen Reiches und 15 Jahre, nachdem Konrad Adenauer hier in Moskau die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart hatte, ist es an der Zeit, unser Verhältnis zum Osten neu zu begründen. Heute haben wir, so hoffe ich zuversichtlich, einen Anfang gesetzt, damit der Zerklüftung entgegengewirkt wird.“

Diese Mischung aus Anerkennung des Status quo und einer latenten, längerfristig angelegten Veränderungsabsicht Richtung Deutsche Einheit begründete den ambivalenten Kern der Neuen Ostpolitik. Die souverän gewordene Bundesrepublik betrieb damit erstmals eine weitgehend eigenständige Außenpolitik. „Der Kanzler schritt langsam auf das Denkmal zu. Als der Kanzler dann vor dem Denkmal stand, fiel er, ja man muss es wirklich so sagen, fiel er plötzlich auf die Knie. Es war spontan. Niemand konnte sich diesem Augenblick entziehen.“
Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) während des Kniefalls vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in Warschau im Jahr 1970
Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) während des Kniefalls vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in Warschau im Jahr 1970 (imago/Sven Simon)
Brandts Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Ghetto-Aufstands ging in die Geschichte ein, seine Ost- und Entspannungspolitik wurde als Paradigma einer mutigen Staatskunst gepriesen. Er erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Noch galt dieser Neuanfang als progressiv.

Osteuropa-Forscher: "Man glaubte, der Ostblock würde sich durch Entspannungspolitik liberalisieren"

Die Begeisterung für diese Politik wuchs, vor allem in der jüngeren Generation. Die Bilanz konnte sich in der Tat sehen lassen. Der Moskauer Vertrag von 1970 war ein Gewaltverzichtsabkommen auf der Basis der seit 1945 entstandenen Realitäten. Der Warschauer Vertrag erkannte die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze an. Das Viermächte-Abkommen über Berlin von 1971 sicherte den freien Zugang zum Westteil der Stadt. Und der Grundlagenvertrag mit der DDR vom Dezember 1972 strebte „gutnachbarliche Beziehungen« an, später flankiert von einem Transitabkommen und einem Verkehrsvertrag.

Im August 1975 erhielt dieser Entspannungsprozess mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die KSZE, in Helsinki einen größeren Rahmen. Während Moskau dort den sowjetischen Machtbereich nach 1945, also gleichsam seine Kriegsbeute, festigen wollte, kam es dem Westen auch darauf an, die Freizügigkeit im Kulturellen und auf dem Bildungssektor vertraglich zu verankern. Von den oppositionellen Minderheiten innerhalb der kommunistischen Diktaturen wurde das dankbar aufgenommen. Dazu Jan Claas Behrends, Osteuropa-Forscher an der Viadrina in Frankfurt an der Oder:

„Das Problem begann dann ja nach Helsinki mit dieser Überhöhung der „Wandel durch Annäherungs“-Formel, wo man ja glaubte, auf die Dauer würde sich der Ostblock liberalisieren durch diese Entspannungspolitik, auch innenpolitisch sich liberalisieren, das heißt die Leute würden mehr Freiheiten bekommen in der Sowjetunion und in der DDR, aber auch dauerhaft sich eher integrieren in das Weltsystem, und die Gegnerschaft zum Westen würde sich abbauen. Und dies ist ja genau das, was nicht eingetreten ist.“

Kohl und Honecker: Nähe und Freundschaft statt Distanz

Denn bis zum Amtsantritt Michail Gorbatschows 1985 hatte die UdSSR zur Entspannungspolitik wenig beigetragen. Mit dem Einmarsch der Sowjettruppen in Afghanistan 1979, mit dem Jaruzelski-Putsch in Polen 1981 oder im Nachrüstungsdrama mit der Stationierung der SS 20 und Pershing 2-Raketen. In den USA unter Ronald Reagan wurde die Sowjetunion wieder wie im kältesten Krieg als „Macht des Bösen“ wahrgenommen.
Gleichzeitig formierten sich aber die Dissidentengruppen in Osteuropa. Bürgerrechtsbewegungen expandierten, die Charta '77 in der Tschechoslowakei, Solidarnosc in Polen oder vereinzelte Gruppen aus kirchlichen Milieus in der DDR.
„Das große Problem, was dann deutlich wurde für die Ostpolitik war ja, dass man es geschafft hatte, sehr enge, teilweise sogar freundschaftliche Beziehungen zu den Machthabern in Osteuropa aufzubauen, und es aber vernachlässigt hat, die gesellschaftlichen Kontakte und auch die Kontakte zur Opposition ein Stück weit zu pflegen. Und das ist einem vor allem natürlich insbesondere während der Solidarnosc-Krise auf die Füße gefallen, als zwar die westdeutsche Zivilgesellschaft, teilweise die Kirchen, sehr stark die Solidarnosc unterstützt haben, aber die Regierung sich dann entschieden hat, eigentlich alles zu tun, den Status quo zu bewahren, auch letztendlich die polnischen Machthaber zu stützen.“
Nach dem Sturz von Kanzler Helmut Schmidt 1982 kam die Regierung Kohl-Genscher auch unter der Prämisse einer Kontinuität der Ostpolitik und ihres Vertragswerks zustande. Während die neue Bonner Koalition zunächst den konfrontativen NATO-Doppelbeschluss gegen die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung durchsetzte, bemühte sie sich gleichzeitig krampfhaft, den deutsch-deutschen Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß sicherte 1983 per Milliardenkredit das Fortleben des ökonomisch schwer angeschlagenen SED-Staates, und Kanzler Kohl empfing im September 1987 Erich Honecker in Bonn.     
„Auch diese Gesprächsprotokolle Kohl-Honecker, die sind eine recht peinliche Lektüre. Da wird auch ziemlich viel Nähe und Freundschaft gepflegt, obwohl das doch da mehr Distanz hätte geben sollen. Es gipfelt ja dann alles in diesem Honecker-Besuch, der dann schon in der Perestroika-Ära ja eigentlich, wenn man zurückblickt, aus der Zeit gefallen ist. Dann hätte man eigentlich schon auf Gorbatschow setzen müssen, man setzt noch auf Honecker.“

Die SPD und ihre Kontakte zur SED

Derweil betrieb die SPD aus der Opposition heraus, gestützt auf ihre guten Kontakte zur SED, eine sogenannte „neben-gouvernementale Außenpolitik“. Sie war getragen von einem fragwürdigen Entspannungsdogma, das da lautete: dem Frieden und dem Überleben der Menschheit hätten sich alle anderen politischen Ziele unterzuordnen, auch die nationale Selbstbestimmung. Damit wurden Systemkritiker als Friedensstörer stigmatisiert. Die einst progressive Neue Ostpolitik hatte sich – vor allem dank der SPD - zu einer strukturkonservativen Veranstaltung zurückentwickelt. Verknöcherten Regimen im Osten nutzte sie. Dennoch mischten sich Egon Bahr und die Seinen, als die Mauer fiel, unter die Sieger der Geschichte.
„Diese Erzählung von Bahr, dass die Ostverträge direkt zur Deutschen Einheit führen, die wird ja heute noch unwidersprochen wiederholt. Obwohl man ja weiß, dass das absurd ist, diese Behauptung aufzustellen. Als Osteuropa-Historiker kann ich nur sagen, man kennt ja mittlerweile ganz gut die sowjetischen Akten aus der späten Breschnew- bis frühen Gorbatschow-Zeit, und die reden kaum über deutsche Ostpolitik. Der Sinn von Perestroika ist ja auch am Anfang, nicht Entspannung herzustellen, sondern die Sowjetunion wieder wettbewerbsfähig zu machen. Innerhalb dieser recht diffusen Politik von Gorbatschow entsteht dann diese Möglichkeit zur Deutschen Einheit. Aber das so zu konstruieren, dass das sozusagen mit dem Moskauer Vertrag in irgendeiner Weise in enger Verbindung steht, das lassen die Quellen eigentlich nicht zu.“
Die Rede war von einer Art „Doppel-Ostpolitik“, die das wiedervereinigte Deutschland in den 1990er-Jahren betrieb. Einerseits wurde die Sonderbeziehung zu Russland unter der persönlichen Freundschaft zwischen Helmut Kohl und Boris Jelzin fortgesetzt. Andererseits erfuhren die Osterweiterungen von NATO und EU eine moderate Unterstützung. Gleichzeitig wurden Warnzeichen übersehen - der bereits brutal geführte erste Tschetschenien-Krieg unter Jelzin und dessen offenbar gefälschte Wiederwahl von 1995. Schließlich verschloss man auch die Augen vor den positiven Entwicklungen in den anderen ehemaligen Sowjet-Republiken, allen voran in der Ukraine, wo sich immerhin ein erster demokratisch herbeigeführter Präsidentenwechsel vollzog.    

Enge Beziehung zwischen Schröder und Putin

„Der Kalte Krieg ist vorbei. Die Welt befindet sich auf einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen, ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf dem Kontinent nie ein Vertrauensklima. Ohne ein Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich.“ 
Mit dieser teilweise auf Deutsch vorgetragenen Rede im Deutschen Bundestag löste Wladimir Putin, der neue russische Hoffnungsträger aus Sankt Petersburg am 25. September 2001 Begeisterung unter den Abgeordneten aus.
Russlands Präsident Wladimir Putin und Altkanzler Gerhard Schröder umarmen sich bei der Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft 2018
Russlands Präsident Wladimir Putin und Altkanzler Gerhard Schröder umarmen sich bei der Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft 2018 (Imago)
Fortan brach unter Kanzler Schröder die ostpolitische Meinungsführerschaft der sogenannten „Putin-Versteher“ an. Zeitzeuge des Schauspiels im Deutschen Bundestag war der grüne Bundestagsabgeordnete und frühere Bürgerrechtler Werner Schulz: „Man hat einen Enkel von Gorbatschow in ihm gesehen. Man hat darauf gehofft und vertraut, dass es ein gutes Verhältnis mit Russland gibt. Wir hatten keinen Wandel durch Annäherung, sondern einen Wandel durch Anbiederung erlebt, den Kanzler Schröder betrieben hat. “
Noch auf der Schlussgeraden seiner Kanzlerschaft besorgte er Russland eine hohe Bürgschaft. Siebzehn Tage nach seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt erhielt er den Chefposten im Aufsichtsrat des Gaspipeline-Unternehmens Nord Stream AG. In der SPD wurde selbst das von vielen als logische Fortsetzung der Entspannungspolitik betrachtet. So sieht es Jan Claas Behrends: „Ich glaube, der Unterschied zwischen der CDU und der SPD in der Russland-Politik ist der, dass es eben nicht diese Überhöhung gibt durch den Mythos Ostpolitik, der in der SPD diese moralische Unterfütterung noch bietet, dass man sagt: man steht hier in einer großen Linie mit Willy Brandt und der Abrüstung und der Deutschen Einheit oder so.“

Merkel: Dialog-Diplomatie in der Tradition der Ostentspannung

Schröder-Nachfolgerin Angela Merkel hielt am Primat der besonderen Beziehungen zu Russland fest. Trotz des blanken Entsetzens in Europa über die Annexion der Krim 2014 wurde im Jahr darauf der Deal mit der Ostseepipeline Nord Stream 2 vereinbart – gegen alle Bedenken in Osteuropa, vor allem in der Ukraine. Unverdrossen klammerte Merkel sich später an ihre Dialog-Diplomatie, sei es im Minsker Normandie-Format, wenn es um die Ukraine-Krise ging, oder wie zum Beispiel 2018 beim Treffen mit dem russischen Präsidenten auf Schloss Meseberg.    
„Wir wollen gute Beziehungen zu Russland. Und die Zahl der Probleme, die uns beschäftigen, von der Ukraine bis zu Syrien, bis zu der Frage, auch der Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich, ist so zahlreich, dass es gerechtfertigt ist, dass man doch in einem permanenten Dialog ist. Und zu all den Themen hat Russland doch einen großen Einfluss. Und wenn wir friedliche Lösungen wollen, muss man das über das Gespräch immer wieder versuchen.“
So waren die sogenannten „Putin-Versteher“ nicht nur unter den ostpolitischen Nostalgikern der SPD anzutreffen, sondern auch in der wirtschaftsfreundlicher orientierten Union mit vielen Kritikern der EU-Sanktionen, "ging es dann unter Merkel und für die CSU doch recht pragmatisch wohl eher ums Geschäftemachen bis hin um die Eindämmung von Putin. Das war eine Politik, die Frau Merkel durchgesetzt hat, bis zum Schluss, wo sie in ihrer letzten Legislaturperiode noch konsequent verweigert hat, dass auch nur eine Flinte an die Ukraine geliefert wird.“
Seit Putin am 24. Februar seinen Krieg gegen die Ukraine entfesselte, ist der Katzenjammer im Entspannungslager gigantisch. Die verunglückte Dialog-Diplomatie in der Tradition der alten Ostentspannung steht seither im Kreuzfeuer der Kritik. Das Geschichtsforum der SPD konnte sich in der Beurteilung des russischen Angriffskriegs nicht einigen. In der Erklärung der Mehrheit wird unter anderem festgestellt: „Bemühungen sozialdemokratischer Politiker und Politikerinnen, im Dialog mit Russland auf Deeskalation zu setzen, waren nicht falsch, haben sich jedoch leider als vergeblich erwiesen.“

Historiker: Offenbarungseid für das Scheitern der westlichen Politik

Drei Historiker, darunter auch Jan Claas Behrends, wollten diese aus ihrer Sicht „halbherzig wirkende Bestandsaufnahme der Entspannungspolitik“ nicht unterzeichnen. In ihrem Minderheitenvotum heißt es, Brandts Ostpolitik könne nicht zum, Zitat, „Selbstzweck mit sakrosanktem Charakter“ erhoben werden. Nicht nur ukrainische Städte lägen in Trümmern, sondern auch „die lange gehegte Hoffnung, dass zwischenstaatliche Konflikte in Europa ohne militärische Gewalt gelöst werden könnten.“
Am Appeasement des Westens in der Ukraine-Krise gebe es nichts zu beschönigen, auch nicht mit dem Verweis auf gute Absichten, unterstreicht wie Behrends auch der Politologe und Amerika-Kenner Christian Hacke: „Auf jeden Fall ist es ein Offenbarungseid für das Scheitern der westlichen Politik. Nämlich wir haben keine Kombination von überzeugender Abschreckung beziehungsweise militärischer Sicherheit. Und wir hatten auch keine kluge Diplomatie.“
Im Zentrum der Kritik an der Russland-Politik der letzten Jahre steht auch Bundespräsident Frank Walter Steinmeier mit seiner früheren Rolle als Schröders Kanzleramtschef und als Außenminister. Dessen Hoffnungen auf einen „Wandel durch Handel“ oder gar einer „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland war für viele seiner Parteifreundinnen und- freunde stets wichtiger als die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts im bedrohten Nachbarstaat. Die Ukraine durfte bestenfalls auf eine gelittene Neutralität hoffen.
Doch mit Beginn von Putins Überfall musste auch Steinmeier eine bittere Bilanz ziehen. Es sei eindeutig ein Fehler gewesen, an Nordstream 2 festgehalten zu haben, erklärte der Präsident, und es sei auch ein Fehler gewesen, an ein gemeinsames europäisches Haus und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands zu glauben. „Zu dieser bitteren Bilanz gehört auch die Fehleinschätzung, dass wir und auch ich gedacht haben, dass auch ein Putin des Jahres 2022 am Ende nicht den totalen, politischen, wirtschaftlichen, moralischen Ruin des Landes hinnehmen würde für seine imperialen Träume oder seinen imperialen Wahn.“