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Deutsche Popmusik
Wie "deutsch" ist Krautrock?

Krautrock gilt als eine deutsche Erfindung. Zwei neue Publikationen setzen sich kritisch mit dieser Annahme auseinander: Wolfgang Seidel, einst Mitglied und Drummer bei Ton, Steine, Scherben, mit seinem Buch "Wir müssen hier raus!" und der Historiker Alexander Simmeth mit "Krautrock Transnational".

Von Klaus Walter |
    Nein, das ist kein Krautrock. Das ist Politrock made in Westberlin 1972, Ton Steine Scherben, "Wir müssen hier raus". Da ist Wolfgang Seidel, Gründungsmitglied der Band um Rio Reiser, schon nicht mehr dabei. Trotzdem hat Seidel sein Krautrock-Buch nach diesem Lied benannt, für ihn ist "Wir müssen hier raus!" das Lied, "das das Lebensgefühl am besten beschreibt. Eine der ersten Jugendbewegungen Anfang der Sechziger waren ja die Gammler, die bloß raus (wollten) aus diesem Land, überall hin in Europa, aber nur raus aus diesem damals noch sehr grauen und repressiven Deutschland."
    Seidel ist Jahrgang 1949, hat also die Tristesse der sogenannten Wirtschaftswunderjahre noch am eigenen Leib mitbekommen. Und das Gefühl: Wir müssen raus aus diesen Einschlussmilieus: Schule, Kirche, Militär, Fabrik.
    Konrad Schnitzler, einer der großen Exzentriker des Krautrock, überführt die Rhythmen der Fabrik in seine Musik. Wobei auch das kein typischer Krautrock ist, wenn es den überhaupt gibt. Krautrock kommt ja in der Regel ohne viele Worte aus. Die politische Bedeutung des Krautrock sieht Wolfgang Seidel denn auch weniger in den Songtexten.
    Wie entstand der Begriff Krautrock?
    "Textlich hat der Krautrock wenig hinterlassen, daran kann man es also nicht festmachen. Aber wenn man auf die Bands guckt, also Ideen wie kollektives Arbeiten, dieser antikommerzielle Anspruch, das Zusammenleben in Wohngemeinschaften oder Kommunen, das heißt, die Krautrockmusiker waren von ihrem Lebensstil ganz klar verbunden mit der antiautoritären Bewegung."
    Besonders eng ist diese Verbindung bei der Münchner Krautrock-Kommune Amon Düül. Die ist auch bei der Boulevardpresse gern gesehen, da fallen immer Fotos ab von schönen jungen Frauen mit wenig Klamotten. Oder gar keinen. Über die dekorative Rolle kommen nur ganz wenige Frauen hinaus, auch der Krautrock ist eine Männerdomäne. Das bestätigt der Historiker Alexander Simmeth in seiner umfangreichen Chronik "Krautrock Transnational". Laut Simmeth sind Amon Düül auch verantwortlich für den Begriff Krautrock, und zwar wegen dieser Musik: "Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf", ein Song aus "Psychedelic Underground", dem Debüt-Album von Amon Düül aus dem Jahr 1969. Für Wolfgang Seidel dagegen hat eine andere deutsche Band das Label Krautrock erfunden:
    "Jochen Irmler von Faust hat mir erzählt, dass tatsächlich sie, also Faust, die Erfinder waren, weil auf der ersten Platte, die sie aufgenommen hatten, als die Band nach England übergesiedelt war, hatten sie ein Stück 'Krautrock' betitelt."
    Alles andere als national
    Die Band mit dem sehr deutschen Namen Faust mit dem Stück "Krautrock". Aber wie deutsch ist eigentlich dieser Krautrock? Als Faust in den frühen 70ern in England leben, stellen sie fest, dass der Begriff "Kraut" für Deutsche nach wie vor gängig ist. Und es ist kein Kompliment. So kommt es zu einer auf den ersten Blick paradoxen Konstellation: Ein rundes Dutzend doch recht unterschiedlicher Bands aus der Bundesrepublik Deutschland wird unter dem verkaufsträchtigen Sammelbegriff Krautrock vermarktet, und am Ende will es keiner gewesen sein. Die meisten Krautrocker lehnen das Label ab. Seidel:
    "Das hat auch damit zu tun, dass die Musiker sich selbst gar nicht als etwas Spezielles und schon gar nicht als speziell Deutsches gesehen hatten, die suchten eigentlich Anschluss an die internationalen Trends der Rockmusik."
    Das Nationale war im Krautrock verpönt, darin ist sich Wolfgang Seidel einig mit Alexander Simmeth.
    "Das Phänomen Krautrock war also gekennzeichnet durch eine große Altersspanne und unterschiedliche Erfahrungswelten, aber auch durch ein übergreifendes transnationales Selbstverständnis sowie ungewöhnlich starke transnationale Einflüsse und Verflechtungen",
    schreibt Alexander Simmeth in "Krautrock Transnational" und erzählt ausführlich die, nun ja, transnationale Geschichte von deutschen Musikern, die von angloamerikanischen Vorbildern lernen, sich dann von ihren Vorbildern emanzipieren, woraufhin Briten und Amerikaner auf diese komische Musik aus Deutschland aufmerksam werden und ihr einen Namen geben: "Krautrock".
    Ja, es gab auch Hits im Krautrock. Die Kölner Gruppe Can mit ihrem japanischen Sänger Damo Suzuki und "Spoon", 1972 Platz 6 der deutschen Hitparade. Auch das erfährt man in den beiden Krautrock-Büchern. Wolfgang Seidel erzählt in "Wir müssen hier raus" unterhaltsam aus der Perspektive des involvierten Zeitzeugen. Alexander Simmeth ist Jahrgang 1973 und stützt sich als Nachgeborener in seinem wesentlich umfangreicheren Buch "Krautrock Transnational" auf eine intensive Recherche. So schreiben beide Autoren die Geschichte des Krautrocks zwar nicht neu, bieten aber viele neue Perspektiven.
    Wolfgang Seidel: "Wir müssen hier raus! Krautrock, Free Beat, Reeducation", Ventil-Verlag (Testcard Zwergobst), 133 Seiten, 14 Euro.

    Alexander Simmeth: "Krautrock transnational: Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968-1978", Transcript, 368 Seiten, 34,99 Euro.