Am 18. Januar 1871 wurde mit der Proklamation des Kaiserreiches die Deutsche Einheit ausgerufen. Das Bild von diesem Tag wird heute maßgeblich von Anton von Werners Gemälde bestimmt, der die Proklamation im Spiegelsaal von Versailles mit sehr viel Pathos glorifiziert hat.
Reichsgründung: Abfolge von Pleiten und Pannen
Die Zeremonie zur Reichsgründung sei eigentlich eine Abfolge von Pleiten und Pannen gewesen, die erst im Nachhinein mit sehr viel symbolischer Kraft aufgemotzt worden sei, sagte Nonn. Man habe angefangen, Nationalhelden, um aus diesem Ereignis einen Mythos zu machen, der die innere Einheit schaffen sollte. Doch viele Teilnehmer seien von der Reichsgründung nicht begeistert gewesen - denn das habe für viele den Verlust von Macht und Einfluss bedeutet.
Deutsch-Französischer Krieg als Katalysator
Der Historiker sieht den Krieg von 1870/71 gegen Frankreich als Katalysator, um die Einigung zu ermöglichen. "Davor waren die Württemberger und ganz besonders die Bayern eigentlich dem abgeneigt. Und als der Krieg dann einmal kam, der eigens entgegen des Mythos nicht von Bismarck provoziert worden ist, sondern von französischer Seite, dann gab es die Gelegenheit, diese Ressentiments zu überwinden und den Nationalstaat zu schaffen", sagte der Historiker.
Kaiserproklamation in Versailles 1871
Dass der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles vor den Toren von Paris zum deutschen Kaiser proklamiert wurde, sei als Demütigung der französischen Gegner beabsichtigt gewesen. Preußische Truppen und deren süddeutsche Verbündete hatten zuvor das Reich des französischen Kaisers Napoleon III. militärisch besiegt.
Der Historiker warnte aber davor, daraus langfristige historische Entscheidungen herauszufiltern: "Der Erste Weltkrieg 1914 oder auch der Zweite Weltkrieg schon gar nicht, waren damit in keiner Weise determiniert. Es gab zwar so eine deutsch-französische Erbfeindschaft, aber es gab auch häufig den Versuch, diese zu deeskalieren", sagte Nonn im Deutschlandfunk.
Kaiserreich wirkt bis heute nach
Der Historiker macht deutlich, dass das Kaiserreich bis heute nachwirkt - vor allem die geschichtspolitische Debatte. Er sprach die schwarze Legende des Kaiserreiches an - "der autoritäre, militaristische, antisemitische Obrigkeitsstaat" und "diese noch einseitigeren Vereinnahmungen als die gute alte Zeit."
Mit Blick auf die Vorkommnisse vor dem Reichstag im August 2020 sagte der Historiker: "Aber gerade die Leute, die auf den Treppen des Reichstags oder sonst wo jetzt Reichskriegsflaggen schwenken, haben in der Regel überhaupt keine Ahnung davon, was das Kaiserreich wirklich gewesen ist."
"Im Kaiserreich stecken die Wurzeln der Demokratie, der Demokratie von Weimar, auch die Demokratie der Bundesrepublik drin. Aber andererseits eben auch die Wurzeln des Nationalsozialismus und das ist wahrscheinlich der entscheidende Grund, warum das Kaiserreich nach wie vor so umstritten ist", sagte Christoph Nonn im Deutschlandfunk.