Tosend brechen sich die Wellen des Mittelmeeres an der Küste von Alexandria. Draußen am Horizont sind einige große Frachtschiffe zu sehen, die den Hafen von Alexandria ansteuern. Markus Schildhauer kann das genau verfolgen – eine App auf seinem Handy zeigt ihm, welche Schiffe gerade wo unterwegs sind und demnächst in den Hafen einlaufen. Der 57-jährige Münchner leitet die deutsche Seemannsmission in Alexandria – regelmäßig ist er im Container-Hafen, geht an Bord der Frachter aus aller Welt und spricht mit den Seeleuten.
"Ich bin von Haus aus Kaufmann und hab die letzten 20 Jahre lang als Geschäftsführer von Firmen gearbeitet. Ich hab jetzt nichts mehr zu verkaufen, aber für mich ist das eine sehr bewegende Erfahrung, die ich mit den Seeleuten mache."
Seeleute kommen nicht mehr aus dem Hafen
Zusammen mit seiner Frau Karin betreibt Markus Schildhauer das Seemannsheim in Alexandria – einen Ankerplatz für alle, die mal raus wollen aus dem ägyptischen Alltag, sagen die beiden, ein Ort für den, der einen Schlafplatz in Alexandria braucht oder einfach Kontakt zur christlich-deutschen Gemeinde in Ägypten sucht. Ursprünglich auch ein Platz für Seeleute aus aller Welt – doch seit einigen Jahren kommen diese in Alexandria aus Sicherheitsgründen nicht mehr raus aus dem Hafen. Deshalb fährt Markus zu den Frachtschiffen hin, geht an Bord.
"Wir heißen zwar Seemannsmission, hier in Ägypten allerdings offiziell nicht Mission, weil das in einem muslimischen Land falsch aufgefasst werden könnte, sondern hier sind wir ein Seefahrerzentrum. Aber wir kümmern uns um jeden Seemann, egal welcher Religion. Bei uns steht nicht die Religion im Fokus, sondern der Mensch.
Es gibt viele, die an Bord kommen, wenn ein Schiff im Hafen liegt, viele Kontrollen, alle wollen etwas von den Seeleuten. Und wenn ich dann an Bord komme, sagt der Wachhabende durch sein Funkgerät "Seamen mission on bord", und man merkt, wie ein Lächeln durch die Menschen geht, weil ich will nichts von den Seeleuten - ich bin für sie da. An Bord unterhalte ich mich in der Regel als erstes mit dem Koch, denn der weiß alles, was an Bord vor sich geht. Und dann kommen immer Leute."
Das wichtigste Thema für die Seeleute: die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. Kaum eine Crew, die nicht ein Boot – voll besetzt mit afrikanischen Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa – gesehen hat, viele davon in Seenot. Die Seeleute der Handelsschiffe versuchen, den Flüchtlingen zu helfen – doch oft vergeblich, erzählt Markus.
Seeleute sind traumatisiert und verzweifelt
"So ein Containerschiff hat eine Bordwand von 20 Metern, die glatt nach oben verläuft. Es gibt eine Gangway, aber auf der haben nur wenige Menschen Platz, sonst gerät sie so in Schwingung, dass Menschen abstürzen. Und das passiert oft während der Rettungsmaßnahmen, dass Menschen ins Wasser fallen und ertrinken. Das sind Bilder, die will kein Mensch erleben."
Traumatisiert, zweifelnd, äußerst niedergeschlagen – so erlebt Markus Schildhauser oft die Seeleute, wenn er zu seinen Besuchen an Bord kommt.
"Heiligabend wollte ich an Bord eine schönen Gottesdienst feiern, Weihnachtslieder singen und ich erlebte die Crew sehr niedergeschlagen. Und dann stellte sich raus: Sie hatten kurz vorher ein Flüchtlingsboot auf dem Meer gefunden – und fast alle Menschen sind vor ihren Augen ertrunken."
Neben den Flüchtlingen ist es die Einsamkeit, die den Seeleute am meisten zu schaffen macht – viele sind monatelang auf den Handelsschiffen unterwegs, Telefonate in die Heimat sind nur kurz vom Hafen aus möglich.
"Wir haben eine Art 'Seeblindheit' in Deutschland. Wir wissen zwar, dass das Glas auf dem Tisch von irgendwo herkommt. Aber es sollte uns bewusst sein, dass dahinter Menschen stehen, die auf den Schiffen unterwegs sind und damit Erlebnisse und Entbehrungen verbinden."
Finanziert wird die Arbeit der Seemannmission zum Großteil von der Evangelischen Kirche Deutschlands. 16 deutsche Seemannmissionen gibt es im Ausland, demnächst müssen bis zu sechs möglicherweise aus Kostengründen schließen.
Eine Oase der Ruhe im Chaos der Stadt
Das Seemannsheim, Zuhause von Markus und Karin, liegt in Alexandria in einer ruhigen Seitenstraße, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Hinter der Pforte öffnet sich eine andere Welt – raus aus dem ägyptischen Alltag, dem Verkehrslärm und Chaos – eine Oase der Ruhe und des Grünen. Nur die benachbarte Bahnlinie und ein nahegelegenes Gefängnis lässt manchmal noch Lärm von draußen eindringen. Markus Frau, Karin Streicher - eigentlich gelernte Altenpflegerin - kümmert sich liebevoll um die alte Villa, in der die Seemannsmission seit den 50er-Jahren untergebracht ist – die Bundesrepublik Deutschland hat damals das Grundstück gekauft, um der christlichen Seemannsmissionsarbeit in Ägypten ein Zuhause zu geben.
"Da muss ständig was repariert werden, das ist eine alte Dame, die gepflegt werden muss. Und ja, mit pflegen kenne ich mich aus, das lohnt sich."
Bei einem Auslandseinsatz in Kamerun in den 90er-Jahren lernten Markus und Karin das dortige Seemannsheim kennen und schätzen – daraus entstand der Traum, selbst einmal ein solches zu leiten.
"Ich hab mir einen Wunsch erfüllt und ich denke, es gelingt uns, die Seele des Seemannsheims weiterzugeben, ein Ort, an dem man sich wohlfühlen kann, an dem alle willkommen sind, an dem man ein Stück Deutschland erfahren kann."
Schon immer ein Ort des Lebens
Karin und Markus leben hier Tür an Tür mit ihren Besuchern, die in Gästezimmern im Obergeschoss untergebracht sind. Morgens gibt es Frühstück mit frischen Eiern von eigenen Hühnern, abends nach dem deutschen Abendbrot mit selbst gebackenem Bort holt Markus den selbstgebrannten Obstschnaps raus. In alten Zeiten, vor 40, 50 Jahren, saßen hier Abend schon mal bis zu 100 Seemänner, erzählt Karin.
"Die Seemannsmission war immer ein Ort des Lebens. Wir feiern hier auch viele Feste, nach den Gottesdiensten, die Gäste feiern mit uns."
Als Christen in Ägypten zu leben, ist für Markus und seine Frau Karin kein Problem. Sie haben sich hier noch nie unwillkommen gefühlt, sagen sie. Auch wenn Karin neulich – am Palmsonntag – nicht weit entfernt vom Terror war – sie war zufällig in der Innenstadt unterwegs, als vor der Sankt Markus Kirche eine Bombe explodierte – ein Selbstmordattentäter sprengte sich in die Luft und riss 17 Menschen mit in den Tod. Ein Schock nicht nur für Alexandria. Dennoch – Karin und Markus fühlen sich in Ägypten absolut sicher, sagen sie. Auch als Christen. Und ihr Glaube hat sich hier in Ägypten noch mal gestärkt.
"Hier bin ich Glaubenshelfer"
"Das ist für mich die Auseinandersetzung mit einer ganz anderen Religion, wir diskutieren viel darüber, auch wie gehen wir in Deutschland mit dem Islam um. Man setzt sich mit seiner eigenen Religion viel mehr auseinander, mir ist hier meine Religion viel bewusster geworden."
"Mein Glaube hat mich schon immer begleitet, hier bin ich sozusagen Glaubenshelfer, wenn ich an Bord Gottesdienste feiere, ich habe immer auf meinem Smartphone ein paar Kirchenlieder dabei, dann können die Männer mitsingen. Der Kapitän eines Schiffes sagte mal zu mir: Ich bin Atheist, ich komme nicht zum Gottesdienst – und der Erste Offizier sagte das auch. Beide waren beim Gottesdienst dabei und als es um die Segnung der Kabinen ging, sagt der Erste Offizier: Also meine Kabine dürfen Sie ruhig auch segnen!"
Und eines wünschen sich Markus und Karin für die Zukunft: Dass die Seemannmission in Ägypten noch lange weiter das sein kann, was den beiden wichtig ist: Ein Ankerplatz – auch für die Seele.