"Wir sind jetzt in der Kirche, im Hauptraum. Das ist eine typisch deutsche, eine westliche Kirche."
Wladimir Winogradov hat die schwere, hölzerne Eingangstür hinter sich zugemacht. Er steht in der Mitte des schlichten, lichtdurchfluteten Kirchenschiffs.
"Die Kirche wurde im gotischen, im neugotischen Stil erbaut, aber mit sibirischem Einschlag. Für die Menschen, die hierher kommen, ist das ungewöhnlich."
"Für Russen ist das ein außergewöhnlicher Ort"
Der Gebäudekomplex an einer der großen Hauptstraßen in Omsk fällt tatsächlich schon von Weitem auf. Rote Backsteine, ein hoher Kirchturm. Keine bunten Kuppeln und kein Kreuz mit einer Querstrebe auf der Turmspitze, wie bei orthodoxen Kirchen in Russland üblich. Auch innen ist einiges anders.
"Die Bänke zum Beispiel, in der orthodoxen Kirche gibt es die nicht. Der Altar ist offen, es gibt keine Ikonen, sondern Bilder – das ist sehr selten. Der Hauptteil der Kirche ist auch frei zugänglich. Wir haben ein einfaches Kreuz, ohne Figuren. Für Russen ist das wirklich ein außergewöhnlicher Ort."
Das liegt daran, dass die Christuskirche, so der offizielle Name des Gebäudes, zur evangelisch-lutherischen Kirche in Russland gehört.
Wladimir Winogradow, 36 Jahre alt, arbeitet hier als Pastor und Propst. Von der westsibirischen Großstadt Omsk aus ist er für die Region Sibirien zuständig. Er ist Ansprechpartner für die Gemeinden in seinem Gebiet, betreut Prediger und noch einige Tausend Mitglieder, von denen viele – wie er auch – deutsche Wurzeln haben.
"Das gehörte einfach zusammen: der Mensch und der Glaube"
Seit dem 16. Jahrhundert, kurz nach der Reformation, hat sich der evangelisch-lutherische Glaube in Russland ausgebreitet. Oft waren es Ausländer, die ihre Religion mitbrachten.
Mitte des 18. Jahrhunderts lud Zarin Katharina II. fremde Siedler ein, sich in ihrem Reich niederzulassen. Es kamen vor allem Deutsche, Lutheraner, die dem evangelisch-lutherischen Glauben in Russland zum Durchbuch verhalfen. Winogradow erzählt:
"Jeder Mensch, der kam, war gläubig. Ohne die Religion wären die Menschen nicht nach Russland und nach Sibirien aufgebrochen. Und es war selbstverständlich, dass dort, wo eine Siedlung entstand, auch eine Kirche oder ein Gebetshaus gebaut wurde, in dem gemeinsam Gottesdienste begangen werden konnten. Das gehörte einfach zusammen: der Mensch und der Glaube."
Zeitweise zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Russland
Im 19. Jahrhundert wurde die evangelisch-lutherische Kirche dann staatlich anerkannt, der Zar wurde zum Kirchenoberhaupt. Die Lutheraner hatten zu der Zeit mehrere Millionen Mitglieder und bildeten die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Russland.
Das änderte sich mit der Russischen Revolution 1917. Die Religion wurde in den Jahren nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki zurückgedrängt. 1938 wurden alle verbliebenen evangelisch-lutherischen Kirchen in der Sowjetunion geschlossen.
Mit dem Überfall von Hitler-Deutschland auf die Sowjetunion 1941 gerieten auch die deutschen Siedler unter Generalverdacht. Stalin ließ 900.000 von ihnen aus dem Wolgagebiet und anderen Regionen nach Zentralasien und Sibirien deportieren. Noch vorhandene Religions- und Verwaltungsstrukturen der Lutheraner wurden zerstört. Das Trauma der Russlanddeutschen.
"Aus dem Untergrund an die Öffentlichkeit"
Zwar existierten im Untergrund einige Gemeinden weiter. Aber erst einige Jahrzehnte später entspannte sich die Lage:
"In den 70er-Jahren begann die Kirche, sich von der Verfolgung durch den Staat zu lösen, und trat aus dem Untergrund an die Öffentlichkeit. In den 70er-Jahren wurde in Kasachstan die erste Lutheraner-Gemeinde offiziell registriert, danach eine in Omsk, andere folgten. Diese Entwicklungen erreichten 1991, nach dem Ende der Sowjetunion, ihren Höhepunkt."
Aber die Freude über die neuen Freiheiten währte nur kurz. Denn in den 90er-Jahren, die von politischer Instabilität und großer wirtschaftlicher Unsicherheit geprägt waren, sind Hunderttausende Russen mit deutschen Wurzeln zurück in die alte Heimat gegangen. Wladimir Winogradow erinnert sich an dramatische Szenen.
"1992, 1993 hat unsere Kirche viele Mitglieder verloren. An einem Sonntag haben wir, hier in unserer Omsker Gemeinde, mehrere Familien verabschiedet. Stellen Sie sich das mal vor, eine Familie, das waren 20, 30 Menschen, die nach Deutschland gegangen sind, an einem Sonntag. Das war wirklich massiv, ein Teil des Saales hat sich einfach geleert. Ein schlimmer Zustand."
"Guten Tag! Und auf Wiedersehen!"
Auch viele Dörfer, in denen die Nachfahren deutscher Siedler wohnten, haben sich damals stark verändert. Aus Aleksandrowka zum Beispiel, gut 50 Kilometer von Omsk entfernt, ist ein Großteil der 1.000 Bewohner in die Bundesrepublik gegangen.
Im Verwaltungs- und Veranstaltungsgebäude neben der Omsker Kirche arbeitet Irina Kondratewna. Sie freut sich über Besuch. Ein paar Worte auf Deutsch kann sie auch:
"Guten Tag! Und auf Wiedersehen!"
Kondratewna wacht über einen kleinen Raum voller Gegenstände, die das Siedler-Leben zeigen und von der russlanddeutschen Geschichte der Gegend erzählen.
"Kennen Sie diesen Gegenstand? – Nein! – Das ist ein Butterfass."
"Menschen an die Kirche heranführen"
Sie zeigt auf ein altes Butterfass aus Holz. Daneben steht ein altes Spinnrad, ein Bügeleisen. Damit will Irina Kondratewna das historische Bewusstsein schärfen. Und auch für die lutherische Kirche werben:
"Es kommen viele Leute hierher und wir versuchen, sie an die Kirche heranzuführen. Wir veranstalten oft Gottesdienste gemeinsam. Es gibt hier viele interessante Leute."
Auch kleine Kinder kämen manchmal, erzählt Kondratewna. Dann basteln sie, oder weben und singen. Potentieller Nachwuchs.
"Ohne Spenden von außen ginge das nicht"
Denn bis heute wandern Kirchenmitarbeiter und Mitglieder nach Deutschland aus. Das Durchschnittsalter in vielen Gemeinden ist hoch. Insgesamt sinke die Zahl der Mitglieder in seinem Gebiet, sagt Winogradow, nur einige städtische Gemeinden würden wachsen. Hinzu kommt noch ein anderes Problem: Das Geld reicht nicht.
"Wir stehen bis heute finanziell nicht auf eigenen Füßen, obwohl wir schon 25 Jahre hier sind. Und natürlich ist es nicht einfach, so eine Kirche hier in Russland zu erhalten. Ohne Partner, Freunde und Spenden von außen ginge das nicht."
Einen Großteil der Baukosten für die Christuskirche in Omsk – die 1994 eingeweiht wurde – hat die Bundesregierung übernommen, die deutsche Minderheiten weltweit unterstützt. Auch von der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers kam Geld. Bis heute gibt es Beziehungen nach Deutschland.
"Einige bezeichnen uns als Sekte"
Und dann gibt es noch die orthodoxe Kirche, der die meisten Russinnen und Russen angehören. Die Orthodoxie ist eng mit dem russischen Staat verbunden, legitimiert oft die Politik des Kremls und hat starken gesellschaftlichen Einfluss – nicht immer ein einfacher Partner.
"Unser Erzbischof in Moskau hat zur orthodoxen Kirche gute Beziehungen. Aber je weiter weg man von Moskau und dem orthodoxen Patriarchen ist, desto unterschiedlicher sind die Meinungen über die Lutheraner. Einige Metropoliten und Geistliche bezeichnen uns offen als Sekte. In den Dörfern ist es mal so, mal so."
Und auch der Staat fordert viel: Die bürokratischen Anforderungen, etwa bei der Missionierung oder der Jugendarbeit, sind hoch. Das sei viel Arbeit, wenn man die Regeln einhalten wolle, sagt Wladimir Winogradow – aber das sei es wert.
"Bewahren, an was unsere Großeltern geglaubt haben"
Die Herausforderungen bleiben dennoch groß. Die deutschen Wurzeln der evangelisch-lutherischen Kirche in Sibirien verblassen, immer weniger Gottesdienste werden auf Deutsch gefeiert, Neumitglieder sind oft Russen ohne deutsche Wurzeln.
"Für die Zukunft ist es notwendig, dass wir zu einer russischsprachigen Kirche werden. Aber: Es ist genauso wichtig, die alten, deutschen Traditionen zu bewahren. Wir wollen uns nichts Neues ausdenken, sondern das bewahren, an was unsere Großeltern geglaubt haben, was ihre Kultur ausgemacht hat. Wir haben nicht das Recht, uns davon zu distanzieren und das zu vergessen."