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Wohnkonzerne
Um was es nach dem Volksentscheid zur Enteignung in Berlin geht

Die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner hat im September 2021 beim Volksentscheid für die Enteignung großer Immobilienkonzerne gestimmt. Gelöst sind damit die Probleme des Wohnungsmarktes in der Hauptstadt nicht, der Druck auf die Politik aber erhöht. Nun sollen wohnungspolitische Kommissionen den Weg weisen.

Von Sebastian Engelbrecht |
"Haus Liebe statt Dax Diebe" seht auf einem als Protestplakat funktionierenden Haus aus Pappe.
59,1 Prozent der Berlinerinnen und Berliner haben am 26. September beim Volksentscheid für die Enteignung großer Immobilienkonzerne gestimmt (imago images/snapshot / K.M.Krause)
Die Enteignungs-Aktivisten feiern ihren Triumph. Mit lila-gelben Transparenten belagern sie die Zentrale der Berliner Sozialdemokraten, das Kurt-Schumacher-Haus in Wedding. 59,1 Prozent der Berlinerinnen und Berliner haben am 26. September beim Volksentscheid für die Enteignung großer Immobilienkonzerne gestimmt. Ein Erfolg, der in dieser Größenordnung die kühnsten Träume der Mieterbewegung übertraf.
Schon eine Woche später, am 4. Oktober vergangenen Jahres, zeigen sie den Politikern der stärksten Regierungspartei mit ihrer Kundgebung, dass sie keine Ruhe geben werden, bis die Vergesellschaftung der großen Immobilienunternehmen Wirklichkeit wird.
Einer der zuversichtlich gestimmten Demonstranten ist der Student Jonas Schmidt vom „Kiezteam Reinickendorf“ der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. „Wir demonstrieren hier, um den Druck auf die Politik weiter hoch zu halten. Über eine Million Berlinerinnen und Berliner haben für die Vergesellschaftung gestimmt. Das sind mehr Leute als die FDP, CDU, SPD und AfD zusammen Stimmen bekommen haben. Das ist der eindeutigste Auftrag der Berliner Bevölkerung an die Politik, und wir wollen, dass der Volksentscheid umgesetzt wird und dieses Verfahren weder verwässert noch verzögert wird.“

Vonovia im Fokus der Enteignungsaktivisten

Unternehmen wie die Vonovia stehen hier am Pranger. Das Immobilienunternehmen, mit mehr als 565.000 Wohnungen einer der größten Wohnungskonzerne Europas, übernahm im Herbst vergangenen Jahres seinen größten Konkurrenten, die „Deutsche Wohnen“. Seither konzentrieren sich die Forderungen der Aktivisten vor allem auf die Vonovia, aber auch auf alle anderen Firmen mit mehr als 3000 Wohnungen.
„Schluss mit halbherzigen Kompromissen. Es ist Zeit für Entschlossenheit. Deshalb fordern wir: Vergesellschaftung jetzt!“
Trotz des Erfolgs der Initiative schlug Berlins Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, nach der Wahl einen neuen wohnungspolitischen Kurs ein. Die Vergesellschaftung von Wohnungen lehnt die SPD-Politikerin entschieden ab. Giffey hat völlig andere wohnungspolitische Pläne. In der Manier einer Wirtschaftsliberalen predigt die Regierende Bürgermeisterin Berlins den Neubau als Mittel gegen Wohnungsnot und hohe Mieten. Ende Mai schlug sie für die Zukunft eine Regel vor, „nach der niemand mehr als 30 Prozent seines Haushaltsnettoeinkommens für die Miete zahlen“ muss.

Giffey hat völlig andere Pläne als Vergesellschaftung

Anders als beim Mietendeckel will Giffey hierfür aber kein Gesetz auf den Weg bringen. „Wir sind nicht diejenigen, die hier eine gesetzliche Regelung machen für eine Obergrenze, sondern wir sind – und das will ich nochmal erinnern – mit unserer gesetzlichen Regel gescheitert vor dem Bundesverfassungsgericht. Und wir haben eine Situation, in der es jetzt darum geht, einen anderen Weg zu gehen, nämlich ein Bündnis zu schließen, in dem alle Partner, die dort drin sind, sagen: Wir haben erkannt: Es gibt trotzdem Handlungsbedarf. Und wir gehen eine Selbstverpflichtung ein, dass wir dazu beitragen, den sozialen Frieden in unserer Stadt zu bewahren, indem wir alle bereit sind, ein Stück weit zu geben.“
Im Januar versammelte Giffey alle wohnungspolitischen Akteure an einem Runden Tisch und gründete das „Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen“. Beteiligt sind die Bauwirtschaft, der Mieterverein, Sozialverbände, Gewerkschaften und viele andere – und natürlich Rolf Buch, der Vorstandsvorsitzende der Vonovia. Das Unternehmen verfügt allein in Berlin über mehr als 40.000 Wohnungen. Beim „Bündnis für Wohnungsneubau“ sollen nach dem Willen der regierenden Bürgermeisterin am Ende alle Beteiligten Selbstverpflichtungen eingehen, auch die Wohnungskonzerne. Aus der Sicht von Nina Henckel, Sprecherin der Vonovia, ist das schon der Fall. „Wir sehen uns als verantwortungsvoller Vermieter in Berlin – und das ist ja auch genau der Grund, warum wir unsere Mieten begrenzt haben.“

Vonovia: Höchstens ein Prozent Mieterhöhung in drei Jahren

So werde die Vonovia die Mieten in Berlin in den nächsten drei Jahren jeweils höchstens um ein Prozent anheben, verspricht Henckel. In den zwei Jahren danach werde man bei Mietsteigerungen nicht über die Inflationsrate hinausgehen. „Was ich sagen kann, ist, dass wir uns als Teil der Gesellschaft in Berlin verstehen. Wir haben im letzten Jahr den kommunalen Wohnungsunternehmen Wohnungen verkauft. Wir haben bei der Rekommunalisierung geholfen. Wir begrenzen unsere Mieten in Berlin. Wir treten aktiv für den Neubau ein. Wir wollen auch in Berlin neu bauen. Trotz der gestiegenen Preise, Energiepreise, Baupreise, wollen wir in Berlin neu bauen. Wir bauen auch gerade neu in Berlin.“
Zudem betreibt die Vonovia ein sogenanntes Härtefallmanagement. Bedürftigen Mietern bietet der Konzern, nach eigenen Angaben, eine „Staffelung“ der Miete an – oder eine andere, passendere Wohnung. „Das bedeutet, dass zum Beispiel nach einer Modernisierung, die bei uns auch sehr moderat ausfällt in der Mieterhöhung – dass, wenn jemand sagt: Ich kann mir die Erhöhung nach der Modernisierung nicht mehr leisten – dass die dann mit uns sprechen können, dass wir das gemeinsam angucken, was wir da für Lösungen finden.“
Statistik zeigt den Bestand eigener Wohnungen der Wohnungsgesellschaft Vonovia in den Jahren von 2013 bis 2021. Abgebildet wird der Wohnungseigenbestand zum 31. Dezember des jeweiligen Jahres.
Im Herbst 2021 sicherte sich Vonovia die Aktienmehrheit an ihrem größten Konkurrenten in Deutschland, der Deutsche Wohnen. Die Grafik zeigt den Wohnungseigenbestand der Vonovia zum 31. Dezember des jeweiligen Jahres. (Vonovia/ Statista)

Kritiker glauben dem Versprechen des Wohnungskonzerns nicht

Kritiker der Aktiengesellschaft Vonovia beobachten allerdings, dass das Unternehmen seine Versprechen nicht alle einhält. Daniel Zimmermann vom Deutschen Mieterbund äußert Zweifel. „Ja, wir beobachten beispielsweise in Berlin, dass diese Ankündigung ohnehin etwas obsolet zu sein scheint –  jetzt schon –, weil im letzten Jahr hat die Vonovia die Mieten in Berlin um circa acht Prozent gesteigert hat. Das ist ein Nachholeffekt aus dem Mietpreisdeckel, aber trotzdem galt ja im letzten Jahr eigentlich schon das Versprechen von der Vonovia. Und das ist aber faktisch so nicht umgesetzt worden. Ich denke, dass diese Versprechen dann in Zukunft doch noch mal zur Disposition stehen, ob das tatsächlich eingehalten wird.“
Skeptisch zeigt sich auch Kalle Kunkel, Sprecher der Initiative "Deutsche Wohnen und Co. enteignen". „Diese Ankündigung von Vonovia, immer nur um ein Prozent zu erhöhen, muss man eh schon sehr stark relativieren. Also kurz nach dieser Ankündigung haben Mieterinnen und Mieter in Berlin Mieterhöhungsankündigungen von bis zu zehn Prozent bekommen individuell. Und das heißt auch, da muss man schon mal ein großes Fragezeichen hinter machen, hinter dieser Ankündigung an sich.“

"Diese Konzerne sind an den Aktienmärkten orientiert"

Kunkel glaubt dem Ein-Prozent-Versprechen der Vonovia nicht. Er erinnert an das Interview, das Vonovia-Chef Buch Anfang Juni dem Handelsblatt gab. Darin hatte er angekündigt, man müsse die Mieten der Inflationsrate entsprechend anheben. Kalle Kunkel meint, in dieser Ankündigung zeige sich der wahre Charakter des Immobilienriesen. „Und jetzt kriegen die Panik wegen der ansteigenden Zinsen und sozusagen der Rahmenbedingungen und haben Angst eigentlich um die Bewertung ihrer Immobilien. Und deswegen kündigen sie jetzt in aller Öffentlichkeit an, dass die Mieten weiter steigen werden, um ihre Investoren zu beruhigen, dass sozusagen die Werte in ihren Immobilien sicher sind. Und da sind wir auch schon im Kern des Problems. Diese Konzerne sind an den Aktienmärkten orientiert. Und ihre Politik und auch das, was sie ankündigen, richtet sich an den shareholder-value-Interessen dieser Aktienmärkte aus.“
Bürgermeisterin Giffey konnte den großen Konzernen im „Bündnis“ für Neubau am Ende nur wenig Zugeständnisse abringen. Sie verpflichten sich in einer Abschlussvereinbarung lediglich dazu, auf Erhöhungen der Nettokaltmieten zu verzichten, wenn dadurch die Mietkosten eines Haushalts auf mehr als 30 Prozent des Nettogehalts steigen würden. Außerdem geloben die großen Immobilienunternehmen, 30 Prozent ihrer Wohnungen an Haushalte „mit geringen Einkünften“, also mit Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein, zu vermieten.
Damit ist der Paradigmenwechsel in der Berliner Wohnungspolitik endgültig vollzogen. Das Fachgebiet liegt jetzt bei der SPD, in den Händen des Senators Andreas Geisel. Noch bis zum Herbst vergangenen Jahres stand das Bau- und Wohnungsressort unter der Kontrolle der Linken. Im Umfeld der früheren linken Bausenatorin Katrin Lompscher wirkte Andrej Holm. In den Jahren 2016 und 2017 war er sogar sechs Wochen lang Staatssekretär in diesem Ressort, musste dann aber wegen falscher Angaben zu seiner Stasi-Vergangenheit zurücktreten.

Sozialwissenschaftler Holm: Ziel sind mehr leistbare Wohnungen

Heute ist Andrej Holm wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität. Holm vertritt die wohnungspolitischen Ideen der Linken, eines Koalitionspartners der SPD-Bürgermeisterin Giffey. Er argumentiert aber, als befinde er sich in der Opposition. „Da werden ja viele Weichen, die es unter Rot-Rot-Grün in den letzten Jahren gab, jetzt noch mal neu gestellt. Also es gibt eine dominante Orientierung an Neubauvorhaben als die einzige zentrale Lösungsmöglichkeit für die Wohnungsfragen.“
Im Blick auf die Selbstverpflichtungen der Immobilienbranche in Giffeys wohnungspolitischem Bündnis sagt Holm: „Von daher wäre es eigentlich sinnvoller zu sagen: Ich überlege mir Instrumente, wie ich diesem Ziel näher komme, dass es mehr leistbare Wohnungen gibt, das heißt also tatsächlich Mietabsenkungen durchzusetzen, einen Mietsteigerungsstopp durchzusetzen, viele günstige Wohnungen zu bauen, die von öffentlichen und nicht profitorientierten Wohnbauträgern vermietet werden. Also das wären alles Instrumente. Und auch die Sozialisierung großer Wohnungskonzerne ist sicher ein wichtiges Instrument, was dem Ziel, leistbare Wohnversorgung sicherzustellen, näherkommt als der Vorschlag, der jetzt da ist.“
Andrej Holm steht auf einer Terrasse in Kreuzberg mit dem Wohnkomplex Zentrum Kreuzberg in seinem Rücken.
Andrej Holm, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaft der Humboldt-Uni. 2016/17 war er sechs Wochen lang Bau-Staatssekretär in der rot-roten Berliner Regierungskoalition (imago-images / Christian Ditsch)
Von all diesen Instrumenten hat sich der Berliner Senat unter SPD-Führung erkennbar verabschiedet, zum Verdruss des Koalitionspartners Die Linke. Die Regierende Bürgermeisterin machte die Wohnungspolitik zur sogenannten „Chefinnensache“ und kanalisierte die Entscheidungsprozesse neben dem Wohnungsbau-Bündnis in zwei weitere wohnungspolitische Kommissionen: Die Senatskommission Wohnungsbau soll einzelne große Bauvorhaben beschleunigen. Ihr gehören neben Giffey fünf Senatorinnen und Senatoren an.

Blicke richten sich auf Expertenkommission zum Volksentscheid

Besonders gespannt blickt die Berliner Öffentlichkeit aber auf die „Expertenkommission zum Volksentscheid ‚Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen‘“. Sie soll prüfen, ob und wie der Enteignungsbeschluss der Berliner in die Tat umgesetzt werden kann. Der ehemalige Staatssekretär, Andrej Holm, sieht die Vielzahl an Kommissionen kritisch. „Ganz offensichtlich ist die Koalition nicht in der Lage gewesen, eine politische Entscheidung im Koalitionsvertrag zu treffen, wie damit umgegangen werden soll und erkauft sich jetzt mit dem Installieren einer Expertinnenkommission ein Jahr Zeit, um letztlich, vermute ich, völlig unabhängig vom Ergebnis der Expertinnenkommission dann die politischen Debatten im Senat wieder neu aufzugreifen. Und insofern kann man das durchaus als ein Verzögerungsinstrument ansehen.“
Dem Gremium, kurz „Enteignungskommission“ genannt, sollen 13 Wissenschaftler angehören, die meisten von ihnen sind Juristen. Entsandt wurden sie von den drei Koalitionsparteien, also von SPD, Grünen und Linken, sowie von der Enteignungs-Initiative. Den Vorsitz übernahm die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, SPD. „Ich habe die Aufgabe deshalb übernommen, weil ich in der Tat der Auffassung bin, dass die Vergesellschaftungsfrage durchaus diskutiert gehört. Die Frage des Mietens und des Bauens und des bezahlbaren Wohnens ist ja nicht nur eine Sorge hier in Berlin, sondern genauso in München, in Stuttgart und in anderen Bereichen. Wie weit jetzt die eine Form oder die andere Form trägt, das ist genau das Thema der Diskussion in dieser Kommission, und das werden wir sehen.“

Wer gewinnt Zerreißprobe um die Berliner Wohnungspolitik?

Das Ergebnis der Kommission könnte am Ende darüber entscheiden, wer sich in der Zerreißprobe um die Wohnungspolitik in Berlin durchsetzt: das Wahlvolk und mit ihr die Linke in der Berliner Koalition, die die Enteignung wollen – oder SPD-Bürgermeisterin Giffey, die sich dagegen sperrt. Die Enteignungs-Initiative wird nicht müde, auf der Straße Stimmung zu machen. „Was sich nicht rentiert, wird nicht instandgehalten. Hier vergammeln hunderte von Häusern in Berlin schon seit Jahren, während Deutsche Wohnen und Co fette Dividenden ausschütten. Für lebenswerte Häuser und Wohnungen braucht es eine andere, gemeinwohlorientierte solidarische Verwaltung für unsere Wohnungen. Das würden wir durch Vergesellschaftung erreichen.“
Zunächst aber sind die Juristinnen und Juristen der Enteignungskommission am Zug. Sie müssen klären, ob Artikel 15 des Grundgesetzes es erlaubt, in Berlin Unternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen zu enteignen. Der Passus sieht vor, dass Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmitttel „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ in Gemeineigentum überführt werden können.

Soll ein Prinzip sozialistischen Wirtschaftens Realität werden?

Christian Waldhoff, Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität in Berlin, wurde von der SPD für die Kommission nominiert. „Die Schwierigkeit des Artikels ist, dass er noch nie angewendet wurde. Wir haben also null Rechtsprechung dazu, weil es diesen Fall noch nicht gab. Und die zweite Schwierigkeit, auf den Berliner Fall übertragen, ist, dass wir auch das Landesverfassungsrecht noch einbeziehen müssen. Und ich gehöre zu denen – ob das eine Minderheit ist oder nicht, wird sich herausstellen – die festgestellt haben, dass es in der Berliner Landesverfassung keinen Sozialisierungsartikel gibt. Von 16 Landesverfassungen gibt es in 14 die Parallelnorm zu Artikel 15 Grundgesetz, und in Thüringen und Berlin gibt es das nicht – was keine Panne ist, was kein Zufall ist, sondern eine bewusste Entscheidung war.“
"DW enteignen" steht an einer Kanaleinfassung in Berlin-Kreuzberg. l
„Der Zweck der Vergesellschaftung bei Artikel 15 ist die Vergesellschaftung selbst. Das ist das Interessante", sagt Enteignungsaktivist Kalle Kunkel (picture alliance / Winfried Rothermel )
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik stellt sich die grundsätzliche Frage: Soll ein Prinzip sozialistischen Wirtschaftens, die Vergesellschaftung von Eigentum, Wirklichkeit werden? Aus der Sicht des Enteignungsaktivisten Kalle Kunkel stellt sich die Frage so: „Der Zweck der Vergesellschaftung bei Artikel 15 ist die Vergesellschaftung selbst. Das ist das Interessante. Es geht tatsächlich um eine politische Grundentscheidung. Wollen wir bestimmte Bereiche des Lebens, in diesem Fall die Wohnungen, wollen wir die dem Markt ausliefern oder wollen wir die unter eine öffentliche Kontrolle bringen?“

Jurist: "Verhältnismäßigkeitsprüfung angesagt"

Anders sieht es der Jura-Professor Christian Waldhoff. Für ihn geht es hier nicht nur um eine politische Grundsatzentscheidung. „Da werden wir aber wahrscheinlich sehr schnell zu der Frage kommen, ob eine solche Sozialisierung verhältnismäßig ist. Und die Juristen prüfen die Verhältnismäßigkeit immer so, ob es ein milderes, aber gleich geeignetes Mittel gibt. Und das ist sozusagen die Brücke in die politisch-ökonomisch-tatsächliche Bewertung. Und wenn es Mittel gäbe – da müsste man erst einmal feststellen – was meines Erachtens auch nicht klar ist – was war eigentlich das Ziel des Volksentscheides?“
Waldhoff ist überzeugt, dass sich hinter der Vergesellschaftungsidee der Enteignungsinitiative nicht das Ziel verbirgt, eine sozialistische Wirtschaftsform einzuführen. „Das war aber kein Selbstzweck, sondern da stand natürlich eine politische Agenda dahinter. Wenn es nur um die Sozialisierung gegangen wäre, dann wäre das mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung wahrscheinlich schwierig. Aber es werden ja Eigentumspositionen entzogen. Und da ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auf alle Fälle angesagt.“
Waldhoffs Argumente werden in der Kommission auf den Widerspruch von Anna Katharina Mangold stoßen. Sie ist Professorin für Europarecht an der Universität Flensburg und wurde von der Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen in das Gremium geschickt. Mangold sieht den Staat vor einer wirtschaftspolitischen Grundsatzentscheidung. „Es geht jetzt darum, einen Tropfen sozialen Öls in die kapitalistische Marktwirtschaft hineinzubringen und dort, wo das kapitalistische Wirtschaften mit der Gewinnabschöpfung und der Gewinnmaximierung nicht funktioniert, dort Elemente demokratisierten Wirtschaftens einzuführen, nämlich bei Wohnungen.“

"Auf die höchste Höhe und Spitze getriebenes Finanzprodukt"

Mangold beruft sich dabei nicht nur auf den Enteignungs-Artikel 15, sondern auch auf Artikel 14 des Grundgesetzes. „Artikel 14 sagt ja auch, dass Eigentum verpflichte – verpflichte auf das Gemeinwohl. Man soll Eigentum so nutzen, dass es nicht dem Gemeinwohl schadet. Und die hoch finanzialisierten großen Wohnungsunternehmen schöpfen Gewinne ab bis zu 50 Prozent dessen, was sie aus den Mieten nehmen, teilweise sogar mehr, um dadurch Auskehrungen an die Aktionäre, an die Anteilseigner des Unternehmens, der Wohngesellschaften zu machen.“
„Da geht es nicht mehr darum, einen angemessenen Ausgleich zwischen Interessen von Vermietenden und Mietenden zu finden, sondern da geht es eben wirklich um ein kapitalistisch auf die höchste Höhe und Spitze getriebenes Finanzprodukt.“

Am Ende landet die Sache voraussichtlich in Karlsruhe

Die Enteignungsbefürworter sind zuversichtlich, dass sie im verfassungsrechtlichen Streit um die Enteignung der großen Immobilienkonzerne in Berlin die besseren Karten haben – anders als beim Mietendeckel. Der wurde im April 2021 vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Die Sprecherin des Wohnungskonzerns Vonovia, Nina Henckel, will sich auf die verfassungsrechtliche Diskussion gar nicht erst einlassen. „Wichtig ist aus unserer Sicht, dass wir das Ziel der Enteignungsinitiative nicht aus den Augen verlieren. Und das Ziel ist, die Mieten in Berlin bezahlbar zu halten.“
Wie auch immer die Enteignungskommission, der Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin entscheiden – am Ende wird auch diese Entscheidung aller Voraussicht nach vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe landen. Die Enteignungsaktivisten haben sich auf einen langen Weg zu ihrem Ziel eingestellt.