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Deutscher "Atlas der Angst"
"In den Alltag schiebt sich der Ausnahmezustand"

Terror, sozialer Abstieg, Flüchtlinge – wovor haben die Deutschen Angst? Reporter Dirk Gieselmann und Fotograf Armin Smailovic sind durch das Land gereist auf den Spuren der "German Angst". In einem literarischen Bildband dokumentieren sie ihre Begegnungen im Kleinen. Das Fazit der Rundreise: "Der Lack unserer Zivilisation ist dünn", sagte Gieselmann im DLF.

Dirk Gieselmann im Corsogespräch mit Sigrid Fischer |
    Auf der Spur der "German Angst": Reporter Dirk Gieselmann (r.) und Fotograf Armin Smailovic
    Auf der Spur der "German Angst": Reporter Dirk Gieselmann (r.) und Fotograf Armin Smailovic (Deutschlandradio / Armin Smailovic)
    Sigrid Fischer: Sankt Petersburg, Stockholm, Dortmund. Das sind nur die jüngsten Anschläge, vermutlich verübt mit dem Ziel, ganze Gesellschaften zu verunsichern. Die Deutschen haben aber nicht nur Angst vor Terror. Das konnten Dirk Gieselmann und Armin Smailovic bei ihrer Reise durch das Land letztes Jahr feststellen. Der Autor und der Fotograf haben in drei Monaten 100 Orte besucht und dort Überlebende von Attentaten, Flüchtlinge und auch die sogenannten besorgten Bürger getroffen. Dirk Gieselmann, guten Tag nach Berlin.
    Dirk Gieselmann: Guten Tag.
    Fischer: Sie waren ja losgefahren mit der Frage Ihres Sohnes. Also ja, das Land habe sich verändert, haben Sie gesagt und der Sohn fragt: Ist es denn jetzt schöner oder nicht mehr so schön? Und, haben Sie die Antwort mitgebracht für ihn?
    Gieselmann: Ja, es ist noch schön. Aber die Schönheit hat Brüche bekommen. Wie soll ich sagen, es ist so eine Art Doppelbelichtung, die wir beobachtet haben. In die schöne Normalität, in den banalen Alltag schiebt sich immer wieder der Ausnahmezustand. Vielleicht kann ich das am Besten an einem Beispiel deutlich machen, das wir in Dresden erlebt haben. Dort sind wir auf die Familie des Imams der türkischen Gemeinde getroffen, genauer gesagt auf seinen Sohn. Der hatte seinen Turnbeutel vergessen. Der sollte eigentlich in einem Interview übersetzen. Wir haben das Interview dann verschoben, haben uns erstmal um den Turnbeutel gekümmert mit dem Jungen, sind mit ihm ins Fundamt der Stadt Dresden gefahren. Und da hat er dann nach seinem Turnbeutel gefragt. Hat das ganz präzise beschrieben: "Letzten Dienstag um 13:21 Uhr in der Linie 19 habe ich meinen Turnbeutel vergessen, der ist schwarz mit einem Astronauten drauf. Können sie mal gucken?"
    Aggression im Alltag
    Und der Beamte hat ihn auch gefunden und hat dann ermahnend seinen Zeigefinger gehoben und hat gesagt: "aber nächstes mal schön darauf aufpassen!" Und da machte der Junge sich gerade. Er war irgendwie gekränkt, ein bisschen beleidigt und hat gesagt: "Nun passen Sie mal auf, ich bin der Sohn des Imams in der türkischen Gemeinde. Wie Sie in der Zeitung gelesen haben, ist auf unser Wohnhaus Ende September ein Bombenattentat verübt worden. Deswegen bin ich sehr durcheinander. Deswegen habe ich meinen Turnbeutel vergessen. Ich vergesse sonst nie etwas." Das war deutsche Banalität, Fundamt, Turnbeutel vergessen wie hunderte Jungs wahrscheinlich an diesem Tag. Nur wer begründet das damit, dass bei ihm zuhause eine Bombe hochgegangen ist. Das war dann nur dieser Junge. Da schoben sich zwei Realitäten ineinander.
    Fischer: Ja. Und Leute, die - potentiell - vielleicht solch eine Bombe schmeißen würden, haben Sie auch getroffen. Also diese, naja, schon Leute, bei denen die Verunsicherung in Aggression umkippt, sagen wir es mal so.
    Gieselmann: Ja. Ob wir jetzt dem Einzelnen unterstellen wollen, dass er eine Bombe schmeißt, das lass ich mal dahingestellt. Aber sicherlich, ja, es gibt eine gedankliche, auch eine verbale Enthemmung bei den Leuten. Das war festzustellen. Eine Bereitschaft, seine Ablehnung, seinen Hass, seine Verachtung zu artikulieren - die haben wir erlebt, ja, in wiederrum alltäglichen Situationen.
    "Wir haben die Lauscher aufgesperrt"
    Fischer: Sie nennen noch ein Beispiel: Ein Finanzbeamter hat ein Flüchtlingsheim angezündet, weil er Angst um das Schöne hatte und dass die Idylle beeinträchtigt wird, wenn zum Beispiel die Mülltonnen nicht rausgestellt werden. Also das ist ja eine Form von: Angst, Verunsicherung schlägt in absolute Aggression um.
    Gieselmann: Ja. Was uns wiederrum zu der Frage bringt: Wie dünn war der Lack unserer Zivilisation? Haben wir den zivilisatorischen Stand unserer Gesellschaft vorher vielleicht überschätzt?
    Fischer: Haben Sie Menschen, haben Sie die so en passant in das Gespräch verwickelt oder regelrecht interviewt für ein Projekt? Oder haben Sie sich mehr unterhalten so unterhalten als Privatmann?
    Gieselmann: Sowohl als auch. Also wir hatten feste Gesprächstermine. Ungefähr 50 Prozent der im Buch enthaltenen Gespräche sind so zustande gekommen. Andere wiederrum haben wir, ja, wie soll man sagen, abgelauscht in Gasthöfen, beim Mittagstisch, auf einer Fähre, auf einer Urlaubsinsel. Einfach die Lauscher aufgesperrt und gehört, was Gesprächsthema ist zwischen den Leuten. Das waren so Versatzstücke, nicht unbedingt aggressiv, eher fatalistisch, aber es kam raus.
    "Die AfD bietet ein sehr einfaches Weltbild an"
    Fischer: Ja und diese Trotzhaltung natürlich bei vielen: pah, dann wählen wir eben AfD. Also die zieht sich auch so durch das Buch. Immer wieder Begegnungen mit AfD, anstatt vielleicht zu adressieren, die Politik, und zu sagen: Hey, sorgt doch mal dafür, dass das Geld besser verteilt wird oder so.
    Gieselmann: Genau. Ich vermute, dass das zurückgeht auf ein Gefühl des Chaos, das die Menschen umgibt. Beziehungsweise neues Bewusstsein, ein Erwachen dafür, wie groß die Welt ist und wie klein man doch selbst. Und die AfD bietet sozusagen als Pseudoheilmittel dafür ein sehr einfaches Weltbild, ein sehr einfaches Gesellschaftsbild an, auf das man sich gerne zurückzieht, das auch eine gewisse tröstliche Kraft hat.
    Fischer: Jetzt könnte man ja, oder man weiß es auch als Mensch oder das unter Menschen Angst, Verunsicherung auch so zu Zusammenhalt führen kann. Also die Stockholmer haben auch gerade demonstriert: funktioniert nicht, dass ihr uns Angst macht, wir stehen zusammen. Haben Sie sowas denn nicht erlebt, dass so ein Zusammenrücken auch passiert und wir stützen uns gegenseitig in dieser Verunsicherung?
    Gieselmann: Durchaus. Wir haben ein Gespräch geführt mit einem jungen Ehepaar, das die Terrorattacken von Paris am 13. November 2015 mit knapper Not, wie man sagen muss, überlebt hat. Die beiden saßen in einem der Restaurants an der Kreuzung, die attackiert worden sind. Denen sind die Kugeln um die Ohren geflogen, die sind mit dem Taxi in letzter Sekunde dann nach Hause gefahren in eine Wohnung einer Freundin. Und die haben sich dann im Badezimmer, in diesem Badezimmer haben die beiden sich die Ehe versprochen. Haben dann kurz danach geheiratet und - wie man in dem Gespräch leibhaftig feststellen konnte - die haben daraus eine Haltung der Lebensbejahung entwickelt. Wir leben jetzt unser Leben, jeden kostbaren Moment so gut es geht und wir halten zusammen.
    "Wir wollten uns sprachlich abheben"
    Fischer: Sie wählen ja für Ihr Projekt also eine dokumentarisch-literarische Textform, dazu Fotos, die nahezu alle doppelt belichtet sind. Sie haben eben schon die Doppelbelichtung erwähnt, also Motive überlagern sich collagenartig. Hat sich dieses Konzept erst unterwegs ergeben oder wussten Sie von vornherein, dass es so aussehen muss hinterher?
    Gieselmann: Von vornherein würde ich nicht sagen. Aber es hat sich relativ bald eine textliche Sprache und auch eine Bildsprache entwickelt. Wir wollten uns abheben von einer Sprache des Tagesjournalismus, von einer Sprache der Talkshows. Und wir schreiben es so auf, ohne uns anzumaßen, zu wissen, wohin das führt.
    Fischer: "Ein letztes Maß an Unsicherheit wird bleiben. Damit müssen wir zu leben lernen", das sagte gestern unser Bundesinnenminister. "Der Atlas der Angst" von Dirk Gieselmann Armin Smailovic, der ist im Eichborn Verlag erschienen und am 22. April feiert dieses Buch als ein Stück Premiere im Thaila Theater. Vielen Dank, Dirk Gieselmann.
    Gieselmann: Danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.