Christine Heuer: 14:46 Uhr ist es in Japan am 11. März 2011, als die Katastrophe über Fukushima hereinbricht: Eine gewaltige Tsunami-Welle mit der Geschwindigkeit eines Flugzeug-Jets erfasst die japanische Küste im Norden des Landes. Ganze Ortschaften werden binnen Minuten weggespült, Zehntausende Menschen ertrinken und in Fukushima kommt es in einem Atomkraftwerk zu Kernschmelzen. Heute ist das genau vier Jahre her.
Pünktlich zum Jahrestag war die deutsche Kanzlerin dieser Tage zu Besuch in Japan. Auch dort hat sie nachdrücklich für einen Atomausstieg geworben. In Deutschland legen derweil die großen Energiekonzerne arg schlechte Jahresbilanzen vor und machen als einen wichtigen Grund für ihr Elend die deutsche Energiewende aus. Und die Politik streitet wie eh und je darüber, ob der Ausstieg nun richtig oder falsch war und wie teuer er ist. Am Telefon ist der Christdemokrat Herbert Reul, Abgeordneter im Europäischen Parlament und dort Mitglied im Ausschuss für Industrieforschung und Energie. Guten Tag, Herr Reul.
Herbert Reul: Guten Tag, Frau Heuer.
Heuer: Sie waren gegen den Atomausstieg in Deutschland. Finden Sie ihn nach wie vor falsch?
Reul: Das sind gar nicht leicht zu beantwortende Fragen, weil wenn etwas entschieden ist, ist es entschieden. Es hat ja keinen Sinn, dann Sachen wieder zurückzudrehen. Aber ich glaube, der Ausstieg und auch das, was damit zusammenhing, war mindestens überhastet. Ich fand es auch und finde es falsch, dass es so gemacht worden ist, aber es hat uns durch auch die Schnelligkeit, dieses überhastete Handeln in Riesenprobleme gebracht. Das ist ja in Deutschland jeden Tag zu besichtigen.
"Kernenergie gehört zum Mix dazu"
Heuer: Sie finden eigentlich, es ging nur zu schnell?
Reul: Ich hätte es auch in der Sache anders gemacht. Ich gehöre zu denen, die glauben, dass wir die Zukunftsversorgung in Europa ohne Kernenergie gar nicht hinkriegen werden. Wir können ja nicht gleichzeitig, wollen Unabhängigkeit von russischem Gas, saubere Energie und günstige Preise, und dann gleichzeitig sagen, Kernenergie machen wir nicht, aus der Kohle wollen wir jetzt auch noch aussteigen in Deutschland. Das führt ja ins Land Absurdistan, das geht ja nicht. Insofern war ich immer bei denen und bin ich auch, die sagen, Kernenergie gehört zum Mix dazu. In Deutschland ist es jetzt halt entschieden und Nachklappern macht dann keinen Sinn.
Heuer: Aber nun hat Ihre Parteivorsitzende, die deutsche Bundeskanzlerin nach Fukushima ja tatsächlich eine Wende vollzogen. Sie hat immer gesagt, deutsche Atomkraftwerke sind sicher genug. Auch als Bundesumweltministerin hat sie das gesagt. Aber Angela Merkel war erschreckt nach Fukushima, weil die Katastrophe in einem hoch industrialisierten Land geschehen ist. Herr Reul, ist das Risiko nicht wirklich zu groß?
Reul: Nach meiner Auffassung ist es beherrschbar und mit mehr Abstand zu Fukushima haben wir ja auch alle gelernt, was im Detail da falsch war und woran es gelegen ist und ob es wirklich technische Details waren, oder ob es nicht Schlamperei war oder Korruption oder unsachgemäßes Handeln.
"Ein bestimmtes Maß an Risiken wird man haben müssen"
Heuer: Und das schließen Sie in Deutschland alles aus für den Fall, dass mal zum Beispiel ein Flugzeug vom Himmel fällt?
Reul: Passen Sie mal auf: Man kann überhaupt nichts in dieser Welt ausschließen. Das sind ja Fragen, die sind Totschlagargumente. Da kann man ja nie drauf antworten. Aber dann dürfte man eigentlich auch morgens nicht aus dem Haus gehen, sondern im Bett liegen bleiben. Dann ist es ganz sicher. Da kann auch noch was passieren. Es könnte auch noch das berühmte Flugzeug von Ihnen auf mein Haus fallen. Ich will das jetzt nicht leichtfertig abtun, weil das Risiko bei einer Atomenergie natürlich eine ganz andere Risikofrage ist, als wenn ich vom Auto überfahren bin. Aber dann bin ich auch tot. Mich stört diese Verabsolutierung und deswegen fand ich es falsch zu sagen, passt mal auf, das ist das Teufelswerk. Und es ist ja auch mehr als nur das. Die Debatte geht ja jetzt munter weiter in Deutschland. Nachdem wir jetzt die Kernenergie abgeschaltet haben, ist jetzt die Abteilung „Grün und Sozialdemokratisch" unterwegs, auch noch die Kohlekraft in die Ecke von Teufelszeug zu stecken. Man kann nicht alles haben wollen. Man kann nicht haben wollen günstige Energie, saubere Bedingungen, Unabhängigkeit, günstige Preise und das alles im Schlaraffenland. Das geht nicht. Ein bestimmtes Maß an Risiken wird man haben müssen. Die Frage ist, kann man sie beherrschen, kann man sie verantworten. Da habe ich eine andere Antwort als andere, das stimmt.
"Nicht durchdachte Einzelmaßnahmen"
Heuer: Die großen Energieversorger Eon und RWE legen ganz aktuell im Moment Jahresbilanzen vor, die ziemlich schlecht aussehen. Zerstört der Atomausstieg, die Energiewende in Deutschland diese Konzerne, macht es sie wirtschaftlich kaputt?
Reul: Das ist zumindest kein Förderbeitrag gewesen. Nun kann man sagen, Politik ist nicht dafür da, große Energiekonzerne zu fördern. Aber wenn wir im Deutschland am Ende dieses Prozesses diese großen internationalen Player, die wir mal machen wollten und aufbauen wollten, nicht mehr haben, während andere in Europa diese internationalen großen Energieplayer haben, finde ich das nicht besonders intelligent. Ich finde es schade, dass wir mit dieser Hektik und dieser Schnelligkeit, diesen zum Teil auch, sage ich mal, nicht durchdachten Einzelmaßnahmen Energie verteuert haben, uns in Riesenprobleme gebracht haben. Sie haben ja auch in Ihrem Beitrag eben genannt: Es nützt doch nichts, auf Erneuerbare zu setzen, und dann kriegt man die Strommasten nicht gebaut. Also wir haben mehr offene Fragen und Probleme, als wir gelöst haben, und das Ganze hätte man mit ein bisschen mehr Rationalität und Ruhe, auch von mir aus mit einem Ausstieg aus der Atomenergie hinkriegen können.
Heuer: Sind die großen Energieversorger, nicht selbst daran schuld, dass es ihnen inzwischen so schlecht geht? Auch das war ja im Beitrag zu hören und ist Teil der politischen Debatte in Deutschland. Viele sagen ja, spätestens ab 1998, als Rot-Grün die Macht bekam im Bund, war klar, dass der Atomausstieg über kurz oder lang kommen würde. Haben die Konzerne nicht einfach die Wende verschlafen, die absehbar war? Ist das schlechtes Management?
Reul: Es gibt selten Probleme, die entstehen, wo nur einer allein verantwortlich für ist. Natürlich sind auch die Konzerne mitverantwortlich, weil sie sich die Flexibilität nicht verschafft haben. Aber Konzerne oder Unternehmen müssen sich auch auf politische Entscheidungen verlassen können, und die politischen Entscheidungen waren in Deutschland eben so, dass sie davon ausgehen konnten, dass da noch über bestimmte Zeit eine Perspektive auch in der Kernenergie besteht.
"Bürger bezahlen Atomausstieg im Moment"
Heuer: Seit '98 stimmt das nicht mehr, bis auf den kurzen Schwenk von Schwarz-Gelb am Anfang der Regierungszeit von Schwarz-Gelb.
Reul: Ja, den meinte ich.
Heuer: Aber das war ja nur eine kurze Zeit und dann kam ziemlich rasch Fukushima und dann war man wieder beim Ausstieg.
Reul: Kann man ja nicht wissen! Das kann aber doch ein Unternehmer, muss man jetzt mal fair sein, nicht wissen. Wenn eine Regierung eine andere Entscheidung trifft, die das vorher auch immer gesagt hat, dann verlässt man sich auf diese Entscheidung. Das kann ich nachvollziehen. Ich will die jetzt nicht aus der Verantwortung nehmen, natürlich haben die auch einen Teil der Verantwortung, aber die Politik hat auch einen. Da muss man, glaube ich, nüchtern sein.
Heuer: Wer muss den Ausstieg bezahlen?
Reul: Die Bürger bezahlen den im Moment und sie bezahlen ihn mit höheren Preisen. Sie bezahlen ihn mit großer Unsicherheit bei der Frage, ob unsere Industrie in Deutschland auf Dauer bleiben kann, die Industrie, die viel Energie braucht, oder ob die in Zukunft dahin abwandert, wo es günstigere Energiepreise gibt, und damit sind Jobs in Gefahr. Das Problem muss man schon relativ nüchtern sich anschauen. Das ist ja auch ein Grund, warum die Große Koalition, ich finde ein bisschen halbherzig, aber immerhin, bei der Frage von erneuerbaren Energien-Förderung ein klein wenig korrigiert hat. Das war ja kein Zufall, sondern die Not war ja mit Händen zu greifen. Wir geben ja riesige Milliarden-Beträge jedes Jahr aus, verbrennen die, ohne dass wir Effekte erzielen.
Erneuerbare-Energien-Förderung in Deutschland "eine Verschwendung von Mitteln der Bürger"
Heuer: Aber wir haben auch riesige Summen ausgegeben für die Atomenergie, als die in den Kinderschuhen steckte.
Reul: Das ist immer so, wenn man was Neues macht. Da bin ich auch dafür. Aber immer nur dann, wenn es was Neues gibt, während die Erneuerbaren-Energien-Förderung in Deutschland nun offensichtlich, finde ich relativ einfach, eine Verschwendung von Mitteln der Bürger ist. Denn man könnte die erneuerbaren Energien in Europa an anderen Stellen viel günstiger fördern. Jeder weiß, dass in Deutschland nicht das Sonnenland ist. Jeder weiß, dass das nicht das Windland ist. Es wäre doch viel intelligenter, die woanders zu fördern und über Netze dahin zu transportieren. Wenn man das macht - da bin ich ja dafür, auch Erneuerbare auszubauen -, dann muss man es wenigstens so machen, dass man die Kosten möglichst in Grenzen hält oder möglichst hohe Ausbeute an Energie hat. Das findet ja nicht statt, sondern das ist alles hektisch, Hauptsache bauen. Jeder baut da bei sich zuhause wie wild irgendwo Windkraftwerke hin und wundert sich dann, dass es Riesenproteste gibt. Es ist überstürzt, weil aus der Panik dieser Stimmung Fukushima man eben nicht rational gehandelt hat. Das, glaube ich nach wie vor, war ein Riesenfehler. Aber gut, man kann ja nicht das Rad zurückdrehen. Man muss jetzt auch schauen, wie man das klug löst.
Heuer: Sie sagen, die Bürger bezahlen die Energiewende. Das stimmt zum Teil über die Strompreise. Aber man hat den Eindruck, wenn das so weitergeht mit den Energiekonzernen, dann werden die Bürger auch noch mal herangezogen für den Rückbau und die Abwicklung der Anlagen. Wäre das noch fair? Müssen da die Konzerne nicht selber in die Tasche greifen?
Reul: Das, finde ich, ist eben schon ein paar Mal richtig auch angedeutet worden. Den Teil, der da heißt, Verantwortlichkeit der Energieunternehmen, den haben die zu lösen. Dafür gab es Gesetze. Und den Rest, den sie nicht zu verantworten haben, dafür ist dann der Steuerzahler dran.
Heuer: Aber die Schadenersatzforderung der Konzerne finden Sie nicht richtig, Herr Reul?
Reul: Ich bin kein Jurist. Ich weiß nicht, wie das ausgeht. Aber ich habe Verständnis dafür, dass sie die Frage gerichtlich klären lassen. Müssen die übrigens! Die können doch nicht einfach sagen, wir sind zwar der Auffassung, dass hier leichtfertig entschieden wurde und wir wurden nicht beteiligt, und wir unternehmen nichts. Da muss man jetzt abwarten, wie die Gerichte entscheiden. Das kann ja keiner von uns voraussagen.
"Eine Vielfalt von unterschiedlichen Energiearten"
Heuer: Herr Reul, Sie sind Europapolitiker. In Europa gibt es, was Atomenergie angeht, ein sehr gemischtes Bild. Frankreich bleibt beim Atomstrom, Großbritannien will ein neues AKW bauen, das wird gerade von der EU-Kommission subventioniert. Worauf setzt Europa in 20 Jahren, auf Erneuerbare oder doch immer noch auf Atomkraft?
Reul: Kleine Korrektur: Europa finanziert und subventioniert nicht die Atomkraftwerke in Großbritannien.
Heuer: Aber die Entwicklung.
Reul: Nein! Der Kernenergie-Bau in Großbritannien wird über ein Finanzierungssystem unterstützt in Großbritannien. Europa hat es nur akzeptiert, genauso wie es akzeptiert, dass wir in Deutschland erneuerbare Energien subventionieren. Aber zur Frage zurück, das ist ja richtig: Ich glaube, es wird uns über eine lange Zeit noch eine Vielfalt von unterschiedlichen Energiearten erhalten bleiben, weil man nicht auf eines allein setzen kann. Was in 100 Jahren ist weiß ich nicht. Ich bin nämlich von Beruf Politiker und nicht Sterndeuter oder so. Und ich glaube, dass wir noch relativ lange Zeit einen Energiemix haben werden. Das wird sehr verschieden sein. Es gibt Mitgliedsstaaten, die haben relativ gute Bedingungen für Erneuerbare, die werden das intensiver nutzen, gucken Sie sich mal den Norden an mit Wasserkraft, Skandinavien zum Beispiel. Es gibt andere, die haben traditionell Kohle, weil sie Kohle da haben. Die werden die weiter nutzen, siehe Polen. Und es wird andere geben, die Kernenergie längere Zeit machen, und die werden die auch noch längere Zeit behalten. Insofern wird das ein Mix sein.
Heuer: Herbert Reul, CDU-Politiker, Mitglied im Europaparlament und ein Gegner des Atomausstiegs, auch wenn er ihn jetzt akzeptieren muss. Herr Reul, vielen Dank fürs Gespräch.
Reul: Ich bedanke mich! Alles Gute!
Reul: Ihnen auch.
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