Sie bilden nur Leistungen ab, die die Hürde geschafft haben, überhaupt gespielt zu werden. Dabei erzählt die Theatergeschichte immer wieder, wie lange Stückeschreiber, die ihrer Zeit weit voraus waren, vom Theater links liegen gelassen wurden - ich sage nur: Georg Büchner! Die Liste des Versagens kann nach Belieben erweitert werden ...
Die Theaterkritiker sollten ab und zu mal einen Blick auf deutsche Dramaturgien werfen, dort wird ausgiebig geschlafen oder gähnend zum Nachspielen empfohlen, was die anderen vorgespielt haben.
Das wurde jetzt wieder deutlich, als Jussenhoven & Fischer, einer der renommierten Bühnenverlage, in ihrer "Theaterreihe" Tom Stoppards "Die Küste Utopias" auf Deutsch veröffentlichten. Stoppard, von Königin Elisabeth zum Ritter geschlagen, ist ein konservativer Dramatiker von europäischem Rang. Er ist außerordentlich witzig und scharfsinnig, ein Konservativer der ungewöhnlichen Art. "Die Küste Utopias" ist sein opus magnum, eine Trilogie.
Als sie 2002 am Royal National Theatre in London uraufgeführt wurde, dem Flaggschiff britischer Bühnen, rannten Theaterfreunde dem Haus die Bude ein, die Kasse klingelte - und es gab einen ganzen Tag lang Theater der anspruchsvollsten Art. Stoppard geht in die Geschichte und sucht Gründe für das Scheitern der sozialistischen Revolution(en) in Europa. Damit erregte er natürlich Widerspruch bei Linken - und die konservativen Gesinnungsgenossen erhoben ebenfalls Einspruch, weil der Dramatiker analysierte, dass die bedeutenden Revolutionäre Konservative im Geist seien: Sie strebten eine harmonische Gesellschaft an, den Ausgleich aller Konflikte - wie die Konservativen auch. Doch das ist nicht möglich, es wird immer Interessengegensätze geben, meint Sir Tom, deshalb seien echte Umwälzungen zum Scheitern verurteilt. Einen brillanten Konservativen, der seinen Marx so gut gelesen und verstanden hat, sucht man bei uns auf dem Kontinent vergebens.
Die Trilogie wurde in Frankreich gespielt und in Japan, sogar beim notorischen Feind allen anspruchsvollen Theaters, in New York - aber nicht in Deutschland!
Wenn man sich anschaut, was angesehene, leistungsfähige Bühnen derzeit so aufführen, fällt man vom Glauben ab. Das Thalia in Hamburg bietet mit "Front" eine Collage des leitenden Regisseurs, absolut unterm Strich. Kein Wunder, Luk Perceval ist kein Dramatiker, kein Künstler erster, sondern Regisseur, ein Künstler zweiter Ordnung. Aber wie kann er sich so verkennen, seinen Murks selbst zu inszenieren statt das Werk eines anerkannten Dramatikers. Das ist schon eine Selbstverkennung, eine Eitelkeit, ja Verblendung vom Ausmaß eines Bischofs von Limburg.
Sir Tom hatte sich an sein großes Werk gewagt, weil sein Rivale, der ihm stets voraus war, einen Welterfolg mit (s)einer Trilogie hatte, David Hare. Sir David sah früh, welche verheerenden Auswirkungen der Neoliberalismus hatte, er war ein Kritiker von Lady Thatcher, und klagte eine Gesellschaft an, die Gleichheit gar nicht mehr anstrebte, in der die Unterschiede und mit ihnen das Unrecht immer größer wurden. Die Uraufführung am 2. Oktober 1993 - "Racing Demon", "Murmuring Judges" und "The Absence of War" - markierte einen Meilenstein britischer Dramatik. Sogar die Themse applaudierte. Bei uns spielt man Simon Stephens.
Die Hare-Trilogie ist als Ganze noch nie auf Deutsch gespielt worden. Es wäre eine Herausforderung - und bei den Bilanzen soll doch erwähnt werden, dass die Auswahl der Stücke, gerade in der Zeit der Regietyrannen, zu wünschen übrig lässt.
"Die Kategorien", wusste schon König Peter vom Reiche Popo, "sind in der schändlichsten Verwirrung."
Tom Stoppard: Die Küste Utopias. Eine Trilogie. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Hg.: Helmar Harald Fischer. Köln 2013, 325 S. 16,90 €