"Wir stehen hier vor der Kirche in Carlsdorf bei Hofgeismar. Carlsdorf ist die älteste Hugenottenkolonie in Hessen, 1686 gegründet. Und es ging dann relativ schnell mit dem Kirchenbau: 1702 steht auf der französischen Portalinschrift."
Björn Slenczka ist hier der Gemeindepfarrer. Nach der brutalen Verfolgung der Protestanten im katholischen Frankreich flohen 1685 rund 50.000 Hugenotten nach Deutschland. Der Großteil siedelte sich in Preußen an, ein Teil blieb in Hessen-Kassel - vor allem in der Region um Hofgeismar. Die alte Hugenottenkirche von Carlsdorf, ein Fachwerkbau, ist von außen kaum als Gotteshaus zu erkennen.
"Das ist ein ungewöhnlicher Eindruck, wenn man hier reinkommt, weil die Kirche quergerichtet ist. Sie ist breiter als tief. Und der Altar, beziehungsweise Altar sagt man in den Hugenottenkirchen gar nicht, der Abendmahlstisch und die Kanzel stehen auch nicht im Osten, sondern im Süden. Die Querrichtung verdankt sich dem Versuch, alles um den Abendmahlstisch und die Kanzel zu konzentrieren, mit dem Wort Gottes als Mitte."
Die durch Calvin geprägten Hugenotten lehnten das Kultische radikal ab. Die nüchterne Gestaltung des Gotteshauses sollte die Gemeinde allein auf das Wort Gottes fokussieren. Dass die Hugenotten in Nordhessen aufgenommen wurden, entsprach aber nicht primär einem toleranten Humanismus oder einem Akt der christlichen Nächstenliebe, sondern eher einem wirtschaftlichen Kalkül des Landgrafen Carl von Hessen-Kassel:
"Der Landgraf war daran interessiert, sein zum Teil bevölkerungsschwaches Gebiet zu pöblieren, wie man das damals nannte. Es gab hier einige Siedlungen, die durch den 30-jährigen Krieg wüst gefallen waren. Seine Hoffnung war, dass er viele französische Handwerker und Manufakturisten bekäme. Das hat sich nicht erfüllt. Denn ein Großteil der Flüchtlinge stammte aus armen Bergdörfern aus dem französisch-italienischen Grenzgebiet in den Alpen."
Per Dekret wurde in den Hugenottendörfern das Französische verboten
Die Glaubensflüchtlinge sind von ihren Glaubensgeschwistern nicht nur mit offenen Armen empfangen worden:
"Die Neusiedler wurden auch mit einigen wirtschaftlichen Privilegien, was Steuer betrifft, ausgestattet, und das hat auch bei den Eingesessenen für Neid und Vorbehalte gesorgt."
Erleichtert wurde die Aufnahme allerdings dadurch, dass die Nordhessen - wie die Hugenotten - fast alle Reformierte und nicht Lutheraner oder gar Katholiken waren. So waren die konfessionellen Unterschiede nicht sehr ausgeprägt. Das erleichterte offenbar auch die Heirat zwischen Hugenotten und Einheimischen – ein entscheidender Faktor für eine gelungene Integration. Die französische Sprache verschwand immer mehr aus den Gottesdiensten, berichtet Helmut Grandjot.
"Es wurde bis etwa 1820 in der Kirche Französisch gepredigt und in der Schule auch Französisch unterrichtet. Aber dann nach Ende der napoleonischen Kriege war Frankreich und alles, was damit zusammenhing, insbesondere die Sprache, etwas verpönt in Deutschland."
Per Dekret wurde dann in den sogenannten Hugenottendörfern das Französische verboten. Gehalten haben sich aber die Namen wie zum Beispiel Grandjot, der in Nordhessen heutzutage allerdings meist als Grannjott ausgesprochen wird. Der 58-jährige Helmut Grandjot ist Vorsitzender des Heimatvereins von Schöneberg, heute ein Stadtteil von Hofgeismar.
"Schöneberg ist eine Hugenottengründung von 1699, seit über 300 Jahren sind meine Vorfahren in dem Dörfchen ansässig und betreiben dort Landwirtschaft - inzwischen in 10. Generation. Wir haben unseren Stammbaum, der sich bis nach Frankreich zurückverfolgen lässt, der sich bis 1570 rekonstruieren lässt."
Noch heute gibt es in Schöneberg viele französische Namen, aber die Nachkommen der Hugenotten sehen es mit der Tradition nicht so verbissen, meint Helmut Grandjot:
"Von den Wurzeln her bin ich Hugenotte, aber ich könnte genauso gut ein Norddeutscher sein, ich habe noch drei Prozent Franzosenblut in mir. Meine Mutter stammt aus Hamburg. Wir sind alle irgendwie Multikulti."
Aber mit hugenottischen Wurzeln - wie übrigens auch Innenminister Thomas de Maizière und Hessen Ministerpräsident Volker Bouffier.
Traditionen werden im Museum erhalten
Damit die Tradition nicht ganz verloren geht, gibt es seit 35 Jahren in Bad Karlshafen ein Hugenottenmuseum. Hier kann man deren alte Psalmgesänge hören, und auch die Handwerksinnovationen bewundern, die die Glaubensflüchtlinge aus Frankreich mitbrachten:
"Hier haben wir zum Beispiel die Seidenherstellung aus den Früchten des Maulbeerbaums. Leider ist es wegen des deutschen Klimas nur an wenigen Stellen gelungen, den Maulbeerbaum anzupflanzen."
Jochen Desel ist Museumsleiter in Bad Karlshafen. Nach seiner Pensionierung als evangelischer Dekan widmet er sich ganz dieser Aufgabe:
"Vor allem hat man versucht, das Leder zu verarbeiten. Handschuhmacher sind die gewesen, und haben für die damalige Mode wichtig, die Glacéhandschuhe hergestellt, weiß mit langen Stulpen."
"Die Hugenotten haben aber auch den Tabak mit nach Deutschland gebracht. Noch heute wird der Tabak in der Uckermark anbaut, in Vierraden. Diese Tradition geht zurück auf die eingewanderten Hugenotten."
Außerhalb des Museums ist auf den ersten Blick nicht viel geblieben von der Tradition der französischen Glaubensflüchtlinge. Da müsse man schon genauer hinschauen, sagt Helmut Grandjot.