Raoul Mörchen: Es geht so gut wie nichts mehr derzeit in der Kultur. Die leichten Lockerungen vor ein paar Wochen waren in fast allen Städten und Kreisen bald schon Makulatur. Die neuen Richtlinien der Bundesregierung verbieten seit letzter Woche nun jegliche Publikumsveranstaltungen. Dort zumindest, wo die Inzidenz über 100 liegt, und das tut sie nahezu überall. In dieser Situation überrascht der Deutsche Musikrat mit einem neuen Stufenplan zur Wiedereröffnung des Musiklebens. Christian Höppner ist Generalsekretär des Musikrates. Herr Höppner, kann es sein, dass Ihr Stufenplan entweder viel zu spät oder viel zu früh kommt?
Christian Höppner: Nein, er kommt genau richtig, denn wir sind im Moment in der Situation des Lockdowns. Da gibt es auch kein Vertun. Aber wir brauchen jetzt das, was alle Kulturschaffenden dringend vermissen, nämlich die Perspektive. Wie kann es denn weitergehen? Nicht nur die Kulturschaffenden und die Profiszene vermissen sie, sondern natürlich auch die vielen Menschen in der Amateurmusik, in den Musikschulen. Alle warten auf eine Perspektive. Wir wissen einfach sehr viel mehr, was gehen kann und was nicht. Es ist jetzt über ein Jahr vergangen. Wir haben ganz viele neue Erkenntnisse, und da fordern wir als Deutscher Musikrat, dass wir jetzt darüber reden müssen, um schrittweise, aber auch verlässlich zu öffnen.
Mörchen: Bund und Länder hatten vor einigen Wochen bereits selbst stufenweise Lockerungsszenarien vorgezeichnet. Von Musikern und Musikerinnen war da nicht die Rede.
Höppner: Genau das ist einer der Kritikpunkte. Wir fordern die Gleichbehandlung, wie zum Beispiel auch mit dem Sport. Wir fordern auch die Gleichbehandlung im Hinblick auf das pädagogische Personal mit den allgemeinbildenden Schulen, was die Impfpriorisierung zum Beispiel anbetrifft. Denn die musikalische Bildung und auch das Musizieren, sei es nun im Musikverein oder sei es in der Musikschule oder auch in der allgemeinbildenden Schule, gehört ja essenziell zu unserem Dasein dazu. Diese Ungleichbehandlung ist einfach inakzeptabel.
"Es geht darum, dass Menschen überhaupt wieder zusammenkommen"
Mörchen: Worauf beruht ihr Stufenplan? Auf eigenen Forschungen und Erkenntnissen?
Höppner: Ja, wir haben nicht nur alles zusammengetragen, was es bisher schon gab, sondern haben auch im Gespräch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern noch Verbindung herstellen können. Wir haben mit vier Risikostufen einen Stufenplan gemacht für mögliche Öffnungsszenarien. Vor allen Dingen müssen wir stärker unterscheiden zwischen innen und außen. Das passiert ja nicht. Jetzt wird alles wieder gleichgesetzt. Draußen zu musizieren, und das rückt ja nun immer näher, ist viel unbedenklicher als drinnen. Viele Mythen, die sich zum Beispiel auch durch die Stigmatisierung des Singens darum ranken oder auch um Blasinstrumente, die stimmen so einfach nicht mehr. Man kann auch draußen mit relativ einfachen Mitteln gut wieder mit mehreren Menschen zusammenkommen und singen. Da gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die wir herangezogen haben, die wir auch in Verbindungen zueinander gestellt haben, sodass diese Zusammenstellung jetzt eine sehr gute Handreichung ist - vor allem Musizierenden, sei es in der Profiszene, wie aber auch im Amateurmusikbereich - sich mit dieser Perspektive auf eine stufenweise Öffnung vorzubereiten.
Mörchen: Bei dieser stufenweisen Öffnung, nur um das mal noch klarzumachen, geht es nicht um Publikum.
Höppner: Nein, es geht jetzt vor allen Dingen erst einmal darum, dass Menschen überhaupt wieder zusammenkommen können. Sei es im Einzelunterricht, sei es, dass auch wieder Ensembles in kleiner Besetzung und womöglich draußen proben können. Also da, bitteschön, gibt es überhaupt kein Vertun, dass was wir an Erkenntnissen haben, das wollen wir nicht aufweichen. Dass eine Abstandsregelung und Corona-Bedingungen notwendig sind, bleibt gewahrt auch in dieser Untersuchung. Aber es ist eben mehr möglich, als alleine zuhause am Instrument zu sitzen und seinen Lehrer bloß noch über den Bildschirm erleben zu können.
Einige kommen nicht wieder
Mörchen: Ich habe natürlich ein bisschen geblättert in Ihrer Untersuchung beziehungsweise in dem, was Sie vorschlagen. Das ist sehr ausführlich, das klingt sehr vorsichtig und das klingt auch sehr besorgt und verantwortungsvoll. Auf der anderen Seite klingt es auch ein bisschen so, dass man vielleicht denkt: für dienstagsabends eineinhalb Stunden mit meinen Chorbrüdern und -schwestern ein paar Lieder zu singen, dafür ist mir das eigentlich zu kompliziert.
Höppner: Ja, sagen wir mal, dieser Anstrengung müssen wir uns leider schon alle unterziehen. Aber es ist nicht so kompliziert, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Das ist jetzt einfach natürlich auch der Situation insgesamt und den unterschiedlichen Situationen je nach Corona-Belastung vor Ort geschuldet. Aber der einzelne Leser kann sehr schnell rausfinden, was für ihn vor Ort richtig ist. Es gibt ja auch Dinge, die gelten für alle. Wir dürfen nicht vergessen: Wenn wir jetzt nicht die Perspektive der zeitnahen, schrittweisen Wiedereröffnung geben, dann wird uns auf Jahre hinaus das, was wir an kultureller Vielfalt haben, in unserem Land zusammenbrechen. Denn wir haben auch jetzt schon die Rückmeldung, dass gerade Menschen mit höherem Corona-Risiko, meistens im älteren Bereich in dem Vereinsleben - was ja das lebendige Leben auch stark prägt bei uns in Deutschland im Musikbereich: Die kommen nicht wieder! Die werden aus Angst, sie könnten sich vielleicht dann doch anstecken, wegbleiben.
Wir haben im Bereich der Berufsausbildung an den Musikhochschulen dramatische Verwerfungen, wenn ein Dirigierstudent oder ein Chorleiter nicht mit Menschen zusammenarbeiten kann. Dann wird der seinen Beruf wechseln. Wir haben teilweise Studierende, die ihre Zugangsprüfung bestanden haben an den Musikhochschulen und diese Plätze nicht antreten, weil sie keine Perspektive sehen. Dieses Signal der schrittweisen Öffnung und der Hoffnung, die man damit verbinden kann, das ist im Moment das Wichtigste. Darum sind wir genau goldrichtig mit unserer Veröffentlichung dieser Studie, weil wir einfach sagen wollen: Es gibt Licht am Ende des Tunnels. Wir brauchen aber die Politik auch wirklich als aktiven Unterstützer dieser schrittweisen Öffnung.
Vereine sagen bereits: Wir lösen uns auf.
Mörchen: Sind diese einzelnen Vorschläge, die sie unterbreiten, auch tatsächlich für kleinere Vereine praktikabel? Man kann sich ja vorstellen, dass an Musikschulen oder gar Musikhochschulen oder später vielleicht auch im Konzertbereich Hygienemaßnahmen in einem großen Umfang getroffen werden können, die einem kleinen Gesangsverein oder einer kleinen Blechbläsertruppe auf dem Land eigentlich überhaupt nicht möglich sind. Da ist wahrscheinlich nicht viel mehr drin, als einfach mal das Fenster aufzumachen.
Höppner: Ganz genau. Deshalb brauchen wir auch für die Vereine - übrigens auch für die Musikhochschulen - aber ich rede jetzt mal von den Vereinen: Wir brauchen für die Vereine auch Strukturhilfen. Wir haben ja mit "Neustart Kultur" ein umfängliches Programm der Kulturstaatsministerin, was zwar finanziell nicht reicht, was auch bei der ersten Milliarde überbucht wurde. Und die Maßnahmen werden ja herübergezogen werden können auch aufs nächste Jahr - auch eine Forderung des Deutschen Musikrates. Aber was fehlt, sind tatsächlich Infrastrukturhilfen. Das Vereinsleben lebt davon. Ich kenne schon einige Fälle, wo Vereine sagen, wir können das Risiko nicht weiter tragen, wir lösen uns auf. Das ist natürlich für die Vielfalt in unserem Land katastrophal, wenn sich dieses ehrenamtliche Engagement nicht wenigstens auch in der Struktur tragen lässt. Und zum zweiten brauchen wir natürlich – das haben wir auch gefordert, übrigens auch für die Musikhochschulen - wir brauchen da eine andere finanzielle Unterstützung in der technischen Ausstattung. Gerade Lüftungsanlagen sind ja doch oft ein teurer Umbau, wenn sie sachgerecht erfolgen. Das reicht eben nicht, es geht auch manchmal baulich gar nicht, dass man nur über Querlüftung das erreicht. Also, da brauchen wir noch ein stärkeres Engagement des Bundes.
Mörchen: Die Politik streitet und diskutiert zurzeit sehr viel über mögliche Lockerungen der Auflagen für Geimpfte oder bereits Erkrankte. Beziehen Sie da eine eindeutige Position?
Höppner: Absolut. Ich finde, wer geimpft ist, sollte sein Grundrecht, sich wieder freier bewegen zu können, auf jeden Fall wieder zurückerhalten. Es betrifft ja auch unsere Ensembles. Wenn wir eine Band haben oder ein Orchester, die durchgeimpft sind, wo wirklich diese Gefahr der Ansteckung nicht mehr gegeben ist oder zumindest deutlich reduziert, dann sollten die auch die Möglichkeit haben, wieder arbeiten zu können.