In den seligen Zeiten vor PISA beschränkten sich Bildungsdebatten im Wesentlichen darauf, ob man nun Anhänger von Gesamtschulen war oder nicht; wovon sich dann Weiteres ableiten ließ: Wie links oder konservativ jemand tickte. Dann änderten sich die Parameter.
Kindergärten, aber vor allem Schulen und Hochschulen sind einer permanenten Reform ausgesetzt, und jede einzelne Strukturreform ruft eine Fülle von tatsächlichen und selbst ernannten Bildungsexperten auf den Plan. Sie argumentieren nur noch verbrämt ideologisch, was zählt, sind Bildungsstudien. Eine aus seiner Sicht nur oberflächliche Empirie, die Jürgen Kaube aufs Korn nimmt.
"Was ist aus den Bildungsambitionen der Arbeiterschaft geworden? (...) Einer Antwort auf solche Fragen kommt man nicht durch Statistiken näher. Die Bildungsforschung aber ist in Deutschland eine Art Filiale des Statistischen Bundesamtes und des PISA-Konsortiums geworden. (...) Und was als "empirische Bildungsforschung" immer mehr Lehrstühle an sich zieht, ist tatsächlich eine Disziplin, deren Empirie selbst erzeugte Zahlenkolonnen sind."
Kaube leuchtet Absurditäten der Bildungspolitik aus
Zahlenkolonnen, die sich für Schul- und Hochschuldebatten aller Art instrumentalisieren lassen. Und die kann heute jeder jederzeit vom Zaun brechen. Das hat erst vor wenigen Wochen die 18-jährige Kölner Schülerin Naina gezeigt: Als sie twitterte, sie habe nun zwar bald Abi und könne eine Gedichtanalyse schreiben, habe aber immer noch keine Ahnung von Steuern, Miete und Versicherungen, da führte das zu einer öffentlichen Grundsatzdiskussion über Bildungsziele, in der selbst die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sich zu einer (– allerdings nichtssagenden -) Reaktion genötigt sah.
So viel Erregung über eine angenommene oder tatsächliche "Bildungskrise" – sollte man da wirklich noch ein weiteres echauffiert geschriebenes Buch lesen? Ja, man sollte. Denn Jürgen Kaube ist ein äußerst wacher, scharfer und sprachlich gewandter Beobachter der Bildungsszene. Zwar legt er keine stringente Monografie vor; doch seine Sammlung überarbeiteter Essays aus den Jahren 2006 bis 2014 leuchtet einige Absurditäten gegenwärtiger Bildungspolitik gewinnbringend aus – und zudem einige fatale Weichenstellungen insbesondere in den Geisteswissenschaften, die noch aus der Bildungsexpansion der 70er Jahren rühren.
Um es gleich vorwegzunehmen: Kaube ist Reformskeptiker und Anhänger des klassischen Bildungsbegriffs. Damit ist er auch kein Freund eines Gymnasiums, das sich so weit öffnet, dass es inzwischen die neue "Hauptschule" ist.
"Leistungsindifferent offene Bildungssysteme stehen also in der Gefahr, ausgerechnet die Informationen zu entwerten, die sie produzieren. Je mehr Leute beispielsweise Abitur machen oder studieren, weil es politisch erwünscht ist und als wertvoller Lebensentwurf dargestellt wird, desto stärker sehen sich nachfolgende Instanzen dazu gedrängt, andere Informationen heranzuziehen, um Personalentscheidungen zu fällen."
Schulen und Hochschulen, so Kaubes Credo, sind keine Korrekturanstalten, die gerade biegen können, was im Elternhaus schiefgelaufen ist. Bildung sollte Schülern helfen, zu entfalten, was in ihnen steckt – und nicht auf Verwertbarkeit getrimmt werden. Der FAZ-Feuilleton-Chef kämpft vehement und offenbar vergeblich gegen einen Zeitgeist an,
"...der sich Bildung nur als eine Durchgangsstation zu etwas Besserem vorstellen kann: zu Wohlstand, Aufstiegsmobilität, Wettbewerbsfähigkeit. (...) Ganz im Gegenteil liegen die Bildungschancen der Schule in ihrer Fähigkeit, als Sonderwelt zu irritieren. (...) Das meint nicht Erziehung zur Weltflucht oder zum Landleben, aber eine, die der Chance inne ist, die in der Arbeit an Themen und dem Ausprobieren von Verhaltensweisen liegt, zu denen der durchschnittliche Alltag und die Massenmedien kaum den Weg bahnen."
Beispiele aus dem Bereich der Geisteswissenschaften
Nicht nur der Schrei nach Verwertbarkeit setzt der Bildung zu, sondern auch die Reformitis. Kaube schlägt sich auf die Seite derer, die den Schulen und Hochschulen endlich Ruhe gönnen wollen. Kaube argumentiert dabei filigraner und scharfsinniger als die meisten Besitzstandswahrer und macht dabei manchen Punkt, der in der Öffentlichkeit gar nicht mehr richtig diskutiert wird.
Die Beispiele wählt er dabei häufig aus dem Bereich der Geisteswissenschaften, in denen er sich besonders gut auskennt. Intellektuelle Lernfortschritte würden kaum überprüft, es existierten auch keine Anreize für Qualität und Auslese. Die Berufungspraxis und die Exzellenzinitiative zementieren die strukturelle Vernachlässigung der Lehre an den Hochschulen:
"Das Schlüsselwort lautet (...) "Drittmittel". Also wird die Energie in das Entwerfen von Projekten, die Abstimmung mit anderen Forschern und das inner- wie außeruniversitäre "Networking" gesteckt. (...) Von alldem hat die Lehre – nichts."
Viele kleine, feine Verrisse der Wissenschaftspolitik also liefert uns Kaube da – aber auch die Wissenschaftler selbst bekommen ihr Fett weg. Kaube beklagt, quer durch alle Fachrichtungen stimmten sie einen "diskursiven Klingelton" an.
"Es ist derselbe sprachliche Chic, den auch die Management-Buzzwords konsumieren: Die Überhöhung trivialer Tätigkeiten und leicht darstellbarer Befunde durch stark aromatisierte Vokabulare."
Kaubes essayistische Apercus ermahnen die Wissenschaftler, das Erkenntnisinteresse wieder wichtiger zu nehmen als das Spiel der Selbstinszenierung. Und Wissenschaftspolitiker, Strukturreformen jetzt mal sein zu lassen und sich wieder den Bildungsinhalten zuzuwenden. Inhaltlich kann man darüber streiten – aber genau dazu ist Jürgen Kaubes Buche ein geistreiche, genüsslich zu lesende Einladung.
Jürgen Kaube: Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems.
Klampen Verlag, 174 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-866-74407-3
Klampen Verlag, 174 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-866-74407-3