Der Autor Thomas Hettche, der 2002 für seinen Roman "Woraus wir gemacht sind" im texanischen Marfa fotografierend recherchierte, beschreibt jenen Glücksmoment des zunächst planlosen Schweifens als "jenen suchenden Zustand, in dem alles bedeutungsvoll ist, aber noch nichts eine Bedeutung hat, jenen offenen Horizont, den erst die Sprache wieder schließen wird". Die meisten Schriftsteller beherrschen das Handwerk der Fotografie erstaunlich gut, und die Marbacher Ausstellung ist auch ein Blick zurück auf die Geschichte des Mediums und fotografischer Erzählweisen. Sie beginnt 1891 mit Harry Graf Kesslers Weltreise nach Amerika, Japan, Indien und Ägypten und endet mit Judith Schalanski, die 2008 in Venedig ein Hochwasser erlebt, und Matthias Politycki, der 2011 auf dem Sinai wandert.
Das heißt: die Marbacher haben nicht nur die eigenen Bestände durchforstet, sondern auch Schriftsteller der Gegenwart gebeten, ein paar Fotos beizusteuern. Die dunklen Wände entlang zieht sich eine Zeitleiste mit neu abgezogenen historischen Bildern, in der Mitte der Räume verdichtet sich der Blick auf bestimmte Themen, dargeboten in runden, inselartigen Vitrinen, die zu schweben scheinen. Da sind dann die Originalfotos, die die Kuratorin Heike Gfrereis mit einem gewissen Aufwand herausgesucht hat.
"Also wir mussten sehr viele Fotos durchschauen, insgesamt um die zwanzigtausend, und nach einmal Durchschauen gibts solche, die hat man noch im Kopf, und um die herum haben sich dann Themen gebildet."
Die ersten Kameras erzeugten kreisrunde Bilder
Harry Graf Kesslers zum Teil noch kreisrunde Bilder zeigen sehr oft Exotica und die erstmals gesehene Landschaft, seltene Bäume, Hingerichtete, Elefanten, Fakire und Schlangenbeschwörer, den Fuji Yama und die Sphinx von Gizeh. Hier muss die Welt noch fotografisch erobert und in einem großen Album abgelegt werden. Nicht alle Fotos werden auch literarisch relevant, manche allerdings spiegeln den Zeitgeist – Hermann Hesse war 1911 in Indien, später wird daraus "Siddharta". Schriftsteller fotografieren natürlich in Griechenland und Italien, aber auch in der Wüste von Deutsch-Südwestafrika. Sie entdecken Amerika, das heißt vor allem: New York, dokumentieren, wie Armin T. Wegner, die Massaker an den Armeniern 1916 in Ostanatolien oder ziehen begeistert in den Ersten Weltkrieg. Befremdlich bleibt nach all den Jahren noch immer, dass ein Aufklärer wie Armin T. Wegner neben dem ganz anders motivierten Ernst Jünger steht.
"Das war für uns das Interessante, dass man im Krieg zunächst nicht anders fotografiert als wenn man in den Urlaub fährt. Bei Ausbruch des Kriegs sind auch viele überrascht worden im Urlaub, vor allem an den europäischen Strandbädern, und diese Fotografie hat zunächst noch keine neue Technik, um den Krieg aufzunehmen. Sondern man fotografiert sich beim Baden, im Unterstand, man fotografiert den Schlamm, auch die Zerstörungen, aber mit den Mitteln, wie man auch eine Strandlandschaft fotografiert."
Das ändert sich bald: Theodor Plivier fotografiert Kriegsschiffe, und Franz von Unruh gelingt ein grandios-pathetisches Bild eines deutschen Fliegers über den Pyramiden, der Himmel im Gegenlicht. 1936 fotografiert Leutnant Jünger in Brasilien Schlangen und Palmen, während die Exilanten Siegfried Kracauer in Paris und Hilde Domin in Rom auf leere Straßen schauen. Schiffsreisen, Bahnhöfe, Ankünfte, Abschiede. Nach dem Zweiten Weltkrieg betrachten diese Exilanten sehnsuchtsvoll und befremdet ihr altes Europa, während bald eine junge, poppige Generation das Szepter ergreift, oft in Farbe: Carl Weissner ist in New York, Jörg Fauser zeigt Highways und Reklameschilder in Kalifornien. Peter Handke, dessen beschreibende Prosa ja oft wirkt wie eine sprachgewordene Fotografie, zeigt sich selbst auf Polaroids bei der "Langsamen Heimkehr" in Alaska, und bei W.G. Sebald wird das Foto dann zum integralen Bestandteil seiner Bücher. Dass Rainald Goetz ein manischer Fotograf ist, für den der Fotoapparat ein unverzichtbares Stimulans und Produktionsmittel ist, kann man bei den wenigen von ihm gezeigten Fotos nur ahnen. Man geht, wie fast immer in Marbach, reich beschenkt und angeregt nach Hause. Nur die Überfülle der Fotografien hinterlässt eine gewisses Chaos im Kopf. Aber der Katalog schafft dann wieder Ordnung.