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Die Geschichte des Roten Kreuzes ist eine Erfolgsgeschichte, die heutigen PR-Experten als Schulbeispiel für das Etablieren einer Marke dienen könnte. Nach seiner Einführung am 28. Oktober 1863 wusste bald jeder, was das rote Kreuz auf weißem Grund bedeutete, mehr noch, das Symbol wurde vom Erkennungszeichen zum Namensgeber der Organisation. In Stefan Schomanns Buch über „Geschichte und Gegenwart des Deutschen Roten Kreuzes“ erfährt man, wie das bekannte Schutzzeichen entstanden ist:
"Die Initiatoren waren alles Schweizer Bürger. Und man hat einfach die Schweizer Fahne dann umgekehrt. Das war für alle erstmal eine akzeptable Lösung. Bis sich das Rote Kreuz über Europa hinaus verbreitet hat und in der arabischen Welt dieses Kreuz doch stark auch als ein christliches Symbol gesehen und eher abgelehnt wurde. Seither gibt es den roten Halbmond in islamischen Ländern."
Am Anfang der Rotkreuz-Bewegung stand der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant, der 1859 nach der Schlacht in Solferino im nahe gelegenen Castiglione residierte und mit Tausenden von schwerverletzten und sterbenden Soldaten konfrontiert wurde. Die Hilfsaktion der Frauen des Ortes, der sich Dunant spontan anschloss, offenbarte den eklatanten Mangel an medizinischen Versorgungsmöglichkeiten.
Das Leid der Verwundeten und die Ohnmacht der hilfsbereiten Zivilbevölkerung wurden für Dunant zur existentiellen Erfahrung. Zurück in Genf schrieb er das Buch „Erinnerungen an Solferino“, das den Weg auf den Nachttisch des preußischen Königs fand. So wie dieser waren viele Zeitgenossen nicht nur von den eindringlichen Schilderungen des Elends der Opfer berührt, sondern auch von Dunants Idee überzeugt, die Versorgung der Kriegsverwundeten künftig besser zu organisieren. Stefan Schomann:
"Die Grundidee war sehr spezifisch und resultiert unmittelbar aus seiner direkten Erfahrung in Solferino. Die militärischen Sanitätseinheiten sind zahlenmäßig zwangsläufig überfordert, wenn es zu einer großen militärischen Auseinandersetzung kommt. Die brauchen zivile Unterstützung, da muss irgendwie auch außerhalb des Militärs ein Apparat vorhanden sein, der so flexibel ist, dass er in solchen Situationen dann helfen kann. Eine der ersten Definitionen des Roten Kreuzes war: Eine Gesellschaft zur Linderung des Loses im Felde verwundeter Militärpersonen."
In seinem Buch beschreibt der Journalist Stefan Schomann, wie rasch die Idee Dunants vor 150 Jahren Realität wurde und um sich griff. Nach der Gründungskonferenz des Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, des späteren Roten Kreuzes, gründeten sich zunächst in Europa, später überall in der Welt nationale Gesellschaften. Die Einführung der Wehrpflicht und die Entwicklung von immer effizienteren Waffensystemen schärfte das Bewusstsein für die Situation der Soldaten.
Die Bereitschaft zur Hilfe war groß. Schließlich konnte es auch den eigenen Sohn oder Bruder treffen. Doch von Anfang an gab es auch kritische Stimmen, die dem Roten Kreuz vorwarfen, den Krieg menschlicher zu machen, ohne ihn jedoch zu hinterfragen. Das sei der Unterschied zwischen Humanismus und Pazifismus, erklärt Stefan Schomann:
##"Als Dunant 1901 den Friedensnobelpreis bekam, war das durchaus nicht unumstritten. Bertha von Suttner zum Beispiel hat gesagt: Friedensnobelpreis – das ist ein Friedensprojekt. Und das Rote Kreuz ist kein Friedensprojekt. Die erleichtern den Krieg, machen den Krieg führbarer. Der Krieg selbst wird nicht infrage gestellt, wird nicht problematisiert.
Demgegenüber haben die Rotkreuz-Unterstützer von Anfang an argumentiert: Es ist unrealistisch, es ist weltfremd, zu glauben, es gäbe eine Welt ohne Kriege. Es wird sie immer geben. Wir können nur die Symptome etwas lindern. Das ist für alle Beteiligten nützlich."##
Nach der Entstehungsgeschichte der Rotkreuz-Bewegung, die Stefan Schomann mit viel Sinn für Zeitkolorit und exemplarische Details erzählt, widmet er sich dem Deutschen Roten Kreuz, das in Friedenszeiten bald auch wohltätige und soziale Aufgaben übernahm. Viele Rotkreuz-Mitarbeiter, vorwiegend Frauen, leisteten nach dem Ersten Weltkrieg Entwicklungshilfe im eigenen Land. In der Weimarer Republik trugen sie dazu bei, die zarte Blüte eines Sozialstaates zu befördern, dem die Nationalsozialisten nach ihrem Machtantritt ein jähes Ende bereiteten.
In dem längsten und finstersten Kapitel seines Buches zeigt Stefan Schomann, wie das Deutsche Rote Kreuz nach 1933 „gleichgeschaltet“, „umgepolt“ und auf unfassbare Weise für die Zwecke der Machthaber missbraucht wurde. So empfahl der geschäftsführende Präsident, SS-Reichsarzt Ernst Robert Grawitz, seinem Vorgesetzten Heinrich Himmler den Einsatz von Giftgas in den Konzentrationslagern. Auf fahrbaren Gaskammern prangte zur Tarnung das Emblem des Roten Kreuzes. Stefan Schomann:
"Das war tatsächlich so. Also einige der Protagonisten der schwersten und folgenreichsten Kriegsverbrechen der Nazis hatten Führungspositionen im Roten Kreuz. Zum Teil wurde das Rote Kreuz auch als so eine Art Alibiorganisation benutzt. Damit waren diese Leute eigentlich unbelangbar, sie waren ja die Guten, sie tun ja etwas für eine hehre Idee. Und im Hintergrund haben die Ärzte, die Mediziner, eine ganz problematische Berufsgruppe, wirklich unsagbare Verbrechen begangen. Dieses fatale Erbe wurde im Roten Kreuz dann nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich verdrängt. Es gab nie eine Entnazifizierung von innen."
Stefan Schomann hat zum 150. Gründungsjubiläum des Deutschen Roten Kreuzes keine Festschrift verfasst. Seine Geschichte der Organisation endet in einer Gegenwart, in der die Bundeswehr Rote Kreuze überstreichen lässt, weil das Symbol bei Kriegseinsätzen zur Zielscheibe von Terrorangriffen geworden ist. Heute stünden vor allem zivile Aufgaben im Vordergrund, schreibt Schomann, Hilfseinsätze bei Naturkatastrophen, soziales Engagement, stationäre Krankenpflege und Rettungsdienste.
Er verweist auf große Verdienste der Rotkreuz-Bewegung, den Einsatzwillen der vielen ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter sowie auf schützenswerte Errungenschaften wie die Genfer Konventionen, ohne die Ambivalenzen und dunklen Flecken in der Historie zu verschweigen. In seinem Buch sucht er die Geschichten hinter der Geschichte. Er hat Zeitzeugen befragt, zitiert aus Tagebüchern, begibt sich als Reporter an Schauplätze des Geschehens. So gelingt ihm das reich illustrierte Porträt einer Organisation, der er „eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Anpassung und Selbstregulierung“ bescheinigt.
Stefan Schomann: Im Zeichen der Menschlichkeit. Geschichte und Gegenwart des Deutschen Roten Kreuzes Deutsche Verlags-Anstalt, 384 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04609-3