Wenn Jugendliche vom Krieg hören, dann erzählen vielleicht die Großeltern von damals. Oder es wird in den aktuellen Nachrichten vom Krieg berichtet, weit entfernt von Deutschland. Das Schicksal der Menschen ist so weit weg, dass es fast wie eine Fiktion erscheint.
"Krieg. Stell dir vor, er wäre hier" lautet der Titel der dänischen Autorin Janne Teller. Mit "hier" ist das eigene Land gemeint, im Falle der Autorin ist das Dänemark. Die Flüchtlingsdebatte in Dänemark im Jahre 2001, in der unter anderem die Abschaffung des Asylrechts eingefordert wurde, hat die Autorin veranlasst, die Rollen umgetauscht zu denken. Sie zitierte die Wirklichkeit ins Land und schrieb ein Buch über einen fiktiven Krieg in Dänemark.
"Als ich das Buch schrieb, da war die Diskussion über die Flüchtlinge in Dänemark sehr hasserfüllt. Ja, und ich habe wirklich gefühlt, das war, weil, viele von den Dänen nicht verstehen, dass die Flüchtlinge nicht wünschen, Flüchtlinge zu sein. Es ist nicht nur, ah, jetzt muss ich nach Dänemark und ich will alles da haben, was man da kriegen kann. Es ist wirklich eine Katastrophe für die Leute."
Nachdem das Buch in Dänemark erschienen war, schrieb Janne Teller eine deutsche Fassung der Geschichte, eine Adaption gemäß den politischen Verhältnissen in Deutschland.
"Man muss sich vorstellen, dass es ein Krieg im eigenen Land ist. Und dafür habe ich immer gewusst, in Dänemark muss es ein Krieg in Dänemark sein. Dann konnte ein Däne sich vorstellen, wie es wäre in Ägypten ein Flüchtling zu sein. Aber hier muss es natürlich ein Krieg in Deutschland sein. Wenn der Text einmal in Frankreich erscheint, dann will ich einen Krieg in Frankreich machen."
Janne Tellers Kriegsfiktion erscheint bedrückend real. Deutschland im Krieg, das bedeutet wirklich Krieg. Die Demokratie ist zusammengebrochen, die Wirtschaft liegt brach, die Städte sind zerstört. Der 14-jährige Protagonist erfährt, was es heißt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, er erlebt Kälte, Hunger und Angst. Die Deutschen fliehen nach Ägypten, denn dort herrscht Frieden. In einem ägyptischen Flüchtlingslager versucht die Familie, ein neues Leben zu beginnen. Doch mangels Aufenthaltsgenehmigung kann der Junge nicht zur Schule gehen. Er fühlt sich ausgegrenzt - als Mensch dritter Klasse.
Das Cover des Buchs imitiert das wichtigste Dokument eines Flüchtlings. Es hat das Format und die Optik eines Reispasses. Die Dänin Helle Vibeke Jensen hat die Geschichte mit vielen Details wunderbar illustriert. Wie ein Warnsignal leuchtet eine rote Zielscheibe durch alle Collagen hindurch, wird Zentrum einer Fragestellung: Werde ich selbst einmal Zielscheibe sein?
Mit der Fiktion eines Krieges in Deutschland verweist Janne Teller unnachgiebig in die Wirklichkeit. Der mit "was wäre wenn" beginnende Text, überführt unmittelbar ins Hier und Jetzt.
"Wenn bei uns Krieg wäre. Das ist dieses 'wenn', das macht es ja fiktiv. Man muss sich von hier alles vorstellen. Das ist nicht wahr. Das ist nicht Wirklichkeit. Ich habe es überlegt, alles und auch die Namen von den Ländern fiktiv zu machen. Aber dann ist es sehr schwer, glaube ich für einen Deutschen, sich alles vorzustellen."
Alles ist umgedreht: Es herrscht Krieg in Deutschland und Frieden im Nahen Osten. Die Flüchtlinge sind die Deutschen. Was dies bedeutet und wie mühsam die Versuche der Integration sind, wenn man die Sprache des neuen Landes nicht spricht, erfährt der 14-jährige Junge am eigenen Leib. Seine kleine Schwester integriert sich schneller, sie lernt Arabisch und darf in die Schule gehen. Niemand weiß, wie lange der Krieg geht. Die Eltern hoffen, dass sie bald wieder zurückkehren und dass dann alles wieder gut wird. Als sich die kleine Schwester schließlich in einen Ägypter verliebt und ein Kopftuch trägt, sind die Eltern entsetzt:
"Das ist immer das Problem für die Emigranten, wann nimmt man die neue Kultur an und wie viel. Und für dieses Mädchen ist es gar nicht möglich, dass sie westliche Freiheit haben kann. Und sie können nicht akzeptieren, dass das Mädchen ein Leben im neuen Land haben möchte."
Janne Teller weckt unsere Wahrnehmung. Sie appelliert an das Mitgefühl mit den Flüchtlingen im eigenen Land. Die gebürtige Dänin kennt das Gefühl der Fremde, denn mit den deutschen Großeltern und ihrer Mutter aus Österreich hat sie das sich fremd Fühlen im eigenen Land erlebt. Und sie weiß: Verstehen erfordert nicht nur Zuhören, wer verstehen will, muss sich hineinversetzen können in das, wovon er gerade hört. Janne Teller lädt den Leser ein und spricht ihn direkt an mit einem "du".
"Ich glaube, das macht diese Einladung sehr stark. Wenn er nur 'ich' sagte, das wäre seine Geschichte oder wenn er nur 'er' sagte, das wäre auch seine Geschichte. Aber hier: Wir sind eingeladen."
Mit diesem ästhetischen Verfahren wird der Leser sofort hineingezogen in das Geschehen. Unmittelbar fordert die Autorin auf, sich das kaum Vorstellbare vorzustellen: Krieg, Angst und das bodenlose Nichts eines Heimatlosen. Die Frage nach der flüchtigen Identität wird zur Sinnfrage im eigenen Leben. Janne Teller hat in ihrem 2010 erschienenen Roman "Nichts" die Frage nach dem Sinn des Lebens schon einmal gestellt und mit ihrem Roman für viel Wirbel gesorgt. Sie trumpft in diesem Buch nicht mit Antworten, sondern lockt mit offenen Fragen. Es gab für die Autorin in Teilen des Landes Publikationsverbot.
"Ich habe das Buch nie wie eine Provokation geschrieben und für mich sind all die Fragen da drin ganz natürlich."
Janne Teller provoziert mit ihren Fragen. Diese gehen an die Substanz, der Boden unter den Füßen wird wackelig, wenn die Sinnfrage offenbleibt oder die Vorstellung vom Krieg im eigenen Land unsere materielle Existenz vernichten könnte und nichts mehr ist, was einmal war. Fiktiv ist das Szenario, die Realität wäre grauenvoll. Etwas plakativ stellt sie den dekadenten Menschen aus dem Norden der klassischen Kulturgesellschaft aus dem Nahen Osten gegenüber. Dass reiche Länder die Kultur gepachtet und arme Länder die Gewalt innehaben, kann nur als Verwarnung für die wohlhabenden Länder verstanden werden. Denn diese beanspruchen viel für sich und geben ungern ab. Dies zu hinterfragen und die anderen zu sehen ist die Aufforderung von Janne Teller.
Was bleibt, wenn nichts mehr von dem da ist, was wir lieb gewonnen haben? Was macht uns aus? ist sowohl Frage als auch Suche nach Identität. Die Antwort ist keine ausschließlich politische, sondern eine menschlich existenzielle.
"Es ist auch wichtig, ein 'nach Hause' zu definieren, das nicht geografisch ist. Wir müssen ein nach Hause in uns suchen."
Im Nachwort des Essays äußert Janne Teller die Bitte, dass der Text nicht politisch, sondern als Einladung an die Vorstellungskraft vom Leben der anderen gelesen werden soll.
"Ich wollte etwas schreiben, das überhaupt nicht politisch war. Man möchte natürlich immer sehen, wie viel Leute kann ein Land nehmen. Es hat mich sehr gestört, wenn ich sah, dass viele Leute glaubten, dass nur dieses Verständnis für andere Leute auch politisch ist. Das ist wirklich ein Problem, glaube ich. Wenn man ein Mitgefühl für andere hat, dass das dann politisch ist. Das ist ein Problem."
Der Appell ist unmissverständlich: Verstehen erfordert Mitgefühl. Das Buch "Krieg" ist für Jugendliche geschrieben, funktioniert aber, wie auch schon das vorherige Buch "Nichts" als Cross-over, also nicht nur für Jugendliche auch für Erwachsene. Die Aufforderung zum vorsichtigen Umgang mit dem Fremden in Zeiten der Migrationsdebatte ist aktuell wie nie. Empathie mit dem Fremden und dem sich fremd Fühlenden in unserem Land beginnt bei uns selbst. Sich vorzustellen, wie es dem anderen geht, könnte ein guter Anfang sein.
Janne Teller: "Krieg. Stell dir vor, er wäre hier". Übersetzt aus dem dänischen von Sigrid Engeler. Illustriert von Helle Vibeke Jensen. Fester Einband. 24 Seiten. Empfohlen ab 12 Jahren. Durchgehend farbig illustriert. Preis: 6,90 Euro. ISBN 978-3-446-23689-9. Hanser Verlag.
"Krieg. Stell dir vor, er wäre hier" lautet der Titel der dänischen Autorin Janne Teller. Mit "hier" ist das eigene Land gemeint, im Falle der Autorin ist das Dänemark. Die Flüchtlingsdebatte in Dänemark im Jahre 2001, in der unter anderem die Abschaffung des Asylrechts eingefordert wurde, hat die Autorin veranlasst, die Rollen umgetauscht zu denken. Sie zitierte die Wirklichkeit ins Land und schrieb ein Buch über einen fiktiven Krieg in Dänemark.
"Als ich das Buch schrieb, da war die Diskussion über die Flüchtlinge in Dänemark sehr hasserfüllt. Ja, und ich habe wirklich gefühlt, das war, weil, viele von den Dänen nicht verstehen, dass die Flüchtlinge nicht wünschen, Flüchtlinge zu sein. Es ist nicht nur, ah, jetzt muss ich nach Dänemark und ich will alles da haben, was man da kriegen kann. Es ist wirklich eine Katastrophe für die Leute."
Nachdem das Buch in Dänemark erschienen war, schrieb Janne Teller eine deutsche Fassung der Geschichte, eine Adaption gemäß den politischen Verhältnissen in Deutschland.
"Man muss sich vorstellen, dass es ein Krieg im eigenen Land ist. Und dafür habe ich immer gewusst, in Dänemark muss es ein Krieg in Dänemark sein. Dann konnte ein Däne sich vorstellen, wie es wäre in Ägypten ein Flüchtling zu sein. Aber hier muss es natürlich ein Krieg in Deutschland sein. Wenn der Text einmal in Frankreich erscheint, dann will ich einen Krieg in Frankreich machen."
Janne Tellers Kriegsfiktion erscheint bedrückend real. Deutschland im Krieg, das bedeutet wirklich Krieg. Die Demokratie ist zusammengebrochen, die Wirtschaft liegt brach, die Städte sind zerstört. Der 14-jährige Protagonist erfährt, was es heißt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, er erlebt Kälte, Hunger und Angst. Die Deutschen fliehen nach Ägypten, denn dort herrscht Frieden. In einem ägyptischen Flüchtlingslager versucht die Familie, ein neues Leben zu beginnen. Doch mangels Aufenthaltsgenehmigung kann der Junge nicht zur Schule gehen. Er fühlt sich ausgegrenzt - als Mensch dritter Klasse.
Das Cover des Buchs imitiert das wichtigste Dokument eines Flüchtlings. Es hat das Format und die Optik eines Reispasses. Die Dänin Helle Vibeke Jensen hat die Geschichte mit vielen Details wunderbar illustriert. Wie ein Warnsignal leuchtet eine rote Zielscheibe durch alle Collagen hindurch, wird Zentrum einer Fragestellung: Werde ich selbst einmal Zielscheibe sein?
Mit der Fiktion eines Krieges in Deutschland verweist Janne Teller unnachgiebig in die Wirklichkeit. Der mit "was wäre wenn" beginnende Text, überführt unmittelbar ins Hier und Jetzt.
"Wenn bei uns Krieg wäre. Das ist dieses 'wenn', das macht es ja fiktiv. Man muss sich von hier alles vorstellen. Das ist nicht wahr. Das ist nicht Wirklichkeit. Ich habe es überlegt, alles und auch die Namen von den Ländern fiktiv zu machen. Aber dann ist es sehr schwer, glaube ich für einen Deutschen, sich alles vorzustellen."
Alles ist umgedreht: Es herrscht Krieg in Deutschland und Frieden im Nahen Osten. Die Flüchtlinge sind die Deutschen. Was dies bedeutet und wie mühsam die Versuche der Integration sind, wenn man die Sprache des neuen Landes nicht spricht, erfährt der 14-jährige Junge am eigenen Leib. Seine kleine Schwester integriert sich schneller, sie lernt Arabisch und darf in die Schule gehen. Niemand weiß, wie lange der Krieg geht. Die Eltern hoffen, dass sie bald wieder zurückkehren und dass dann alles wieder gut wird. Als sich die kleine Schwester schließlich in einen Ägypter verliebt und ein Kopftuch trägt, sind die Eltern entsetzt:
"Das ist immer das Problem für die Emigranten, wann nimmt man die neue Kultur an und wie viel. Und für dieses Mädchen ist es gar nicht möglich, dass sie westliche Freiheit haben kann. Und sie können nicht akzeptieren, dass das Mädchen ein Leben im neuen Land haben möchte."
Janne Teller weckt unsere Wahrnehmung. Sie appelliert an das Mitgefühl mit den Flüchtlingen im eigenen Land. Die gebürtige Dänin kennt das Gefühl der Fremde, denn mit den deutschen Großeltern und ihrer Mutter aus Österreich hat sie das sich fremd Fühlen im eigenen Land erlebt. Und sie weiß: Verstehen erfordert nicht nur Zuhören, wer verstehen will, muss sich hineinversetzen können in das, wovon er gerade hört. Janne Teller lädt den Leser ein und spricht ihn direkt an mit einem "du".
"Ich glaube, das macht diese Einladung sehr stark. Wenn er nur 'ich' sagte, das wäre seine Geschichte oder wenn er nur 'er' sagte, das wäre auch seine Geschichte. Aber hier: Wir sind eingeladen."
Mit diesem ästhetischen Verfahren wird der Leser sofort hineingezogen in das Geschehen. Unmittelbar fordert die Autorin auf, sich das kaum Vorstellbare vorzustellen: Krieg, Angst und das bodenlose Nichts eines Heimatlosen. Die Frage nach der flüchtigen Identität wird zur Sinnfrage im eigenen Leben. Janne Teller hat in ihrem 2010 erschienenen Roman "Nichts" die Frage nach dem Sinn des Lebens schon einmal gestellt und mit ihrem Roman für viel Wirbel gesorgt. Sie trumpft in diesem Buch nicht mit Antworten, sondern lockt mit offenen Fragen. Es gab für die Autorin in Teilen des Landes Publikationsverbot.
"Ich habe das Buch nie wie eine Provokation geschrieben und für mich sind all die Fragen da drin ganz natürlich."
Janne Teller provoziert mit ihren Fragen. Diese gehen an die Substanz, der Boden unter den Füßen wird wackelig, wenn die Sinnfrage offenbleibt oder die Vorstellung vom Krieg im eigenen Land unsere materielle Existenz vernichten könnte und nichts mehr ist, was einmal war. Fiktiv ist das Szenario, die Realität wäre grauenvoll. Etwas plakativ stellt sie den dekadenten Menschen aus dem Norden der klassischen Kulturgesellschaft aus dem Nahen Osten gegenüber. Dass reiche Länder die Kultur gepachtet und arme Länder die Gewalt innehaben, kann nur als Verwarnung für die wohlhabenden Länder verstanden werden. Denn diese beanspruchen viel für sich und geben ungern ab. Dies zu hinterfragen und die anderen zu sehen ist die Aufforderung von Janne Teller.
Was bleibt, wenn nichts mehr von dem da ist, was wir lieb gewonnen haben? Was macht uns aus? ist sowohl Frage als auch Suche nach Identität. Die Antwort ist keine ausschließlich politische, sondern eine menschlich existenzielle.
"Es ist auch wichtig, ein 'nach Hause' zu definieren, das nicht geografisch ist. Wir müssen ein nach Hause in uns suchen."
Im Nachwort des Essays äußert Janne Teller die Bitte, dass der Text nicht politisch, sondern als Einladung an die Vorstellungskraft vom Leben der anderen gelesen werden soll.
"Ich wollte etwas schreiben, das überhaupt nicht politisch war. Man möchte natürlich immer sehen, wie viel Leute kann ein Land nehmen. Es hat mich sehr gestört, wenn ich sah, dass viele Leute glaubten, dass nur dieses Verständnis für andere Leute auch politisch ist. Das ist wirklich ein Problem, glaube ich. Wenn man ein Mitgefühl für andere hat, dass das dann politisch ist. Das ist ein Problem."
Der Appell ist unmissverständlich: Verstehen erfordert Mitgefühl. Das Buch "Krieg" ist für Jugendliche geschrieben, funktioniert aber, wie auch schon das vorherige Buch "Nichts" als Cross-over, also nicht nur für Jugendliche auch für Erwachsene. Die Aufforderung zum vorsichtigen Umgang mit dem Fremden in Zeiten der Migrationsdebatte ist aktuell wie nie. Empathie mit dem Fremden und dem sich fremd Fühlenden in unserem Land beginnt bei uns selbst. Sich vorzustellen, wie es dem anderen geht, könnte ein guter Anfang sein.
Janne Teller: "Krieg. Stell dir vor, er wäre hier". Übersetzt aus dem dänischen von Sigrid Engeler. Illustriert von Helle Vibeke Jensen. Fester Einband. 24 Seiten. Empfohlen ab 12 Jahren. Durchgehend farbig illustriert. Preis: 6,90 Euro. ISBN 978-3-446-23689-9. Hanser Verlag.