"Die meisten muslimischen Jugendlichen in Deutschland, sie leben schon in der zweiten oder dritten Generation hier in Deutschland. Das heißt, Deutschland ist für sie in ihrer Selbstwahrnehmung ihre Heimat."
Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für islamische Theologie in Münster, weiß nur zu gut, was sich hinter den Begriffen "Migrationshintergrund" und "Einwanderungsgeschichte" verbirgt. Die palästinensischen Großeltern des Theologen, Soziologen und Islamwissenschaftlers zogen in den Libanon, Khorchides Eltern nach Saudi-Arabien, er selbst ging mit 18 nach Österreich, da er in Saudi-Arabien als Ausländer nicht studieren durfte.
Doch ihre eigene Einwanderungsgeschichte liegt für die meisten muslimischen Jugendlichen in Deutschland heute lange zurück.
"Hier geboren, hier aufgewachsen, womöglich schon ihre Eltern hier aufgewachsen. Das bedeutet, sie erwarten viel von hier. Sie erwarten von Deutschland, eine Heimat geboten zu bekommen."
Das Problem beginne, wenn den Jugendlichen vermittelt werde: Ihr gehört nicht dazu. Dadurch werde die Identität der Jugendlichen in Frage gestellt.
Identitätsprobleme vieler muslimischer Jugendlicher
"Erinnern Sie sich an die Diskussion um die Frage, gehört der Islam zu Deutschland oder nicht. Das kommt bei den Jugendlichen so an: Die diskutieren monatelang, ob ich dazu gehöre oder nicht, aber ich kenne keine andere Heimat. In der Türkei werde ich dort sogar belächelt, mit dem Begriff Deutschländer, ihr seid Verdeutschte, ihr sprecht das Türkische mit einem Akzent, oder in Tunesien, Ägypten, das Arabische nur mit einem Akzent, ihr zieht euch anders an, eure Mentalität, die Musik, die ihr hört."
Dieses Dilemma muslimischer Jugendlicher in Deutschland und Europa beschreibt Khorchide in seinem Beitrag zum kürzlich erschienenen Band "Integration versus Salafismus". Das Buch stellt neue soziologische Erkenntnisse zur Identität von muslimischen Jugendlichen in Deutschland vor. Es beschreibt Projekte und konkrete Schritte von zivilgesellschaftlicher und staatlicher Seite und versucht, die Anziehungskraft von salafistischen Angeboten zu analysieren.
Diese übten besonders auf Jugendliche eine große Attraktion aus, die ihre Identität im Fremdsein gefunden hätten, erklärt Mouhanad Khorchide:
"Warum – nicht weil es um Theologie geht, nicht weil es um Inhalte geht oder um Gott, sondern es geht lediglich darum, dass dieser Salafismus auch polarisiert und sagt: Wir, die wahren Muslime, die Gott liebt, die die Glückseligkeit haben werden und diese für die Ewigkeit verdammte Mehrheitsgesellschaft, Ungläubige, Deutsche und Muslime, die mit diesen Deutschen kooperieren."
Religion werde für die Jugendlichen nicht da interessant, wo sie Gemeinsamkeiten betone, sondern Unterschiede. Dafür eigne sich der Salafismus besonders gut. Auch Dirk Sauerborn kommt mit radikalen Erscheinungsformen des Islam in Berührung. Er ist Kontaktbeamter für muslimische Institutionen im Polizeipräsidium Düsseldorf.
"Meine Arbeit bei der Polizei ist entstanden schon 2001, kurz nach den Anschlägen auf die Twin-Towers in New York, als der damalige Polizeipräsident Michael Dybowsky gesagt hat, wir müssen auf die Muslime zugehen, ihnen widerspiegeln, dass sie jetzt nicht unter einem Generalverdacht stehen."
Regelmäßig trifft Sauerborn mit den Vorsitzenden von Moschee-Vereinen zusammen. Er ist für die Weiterbildung in der eigenen Behörde zuständig sowie für die Vernetzung mit anderen Institutionen und Organisationen. Und er ist auch Ansprechpartner für Lehrer und Schulverbände, die beispielsweise auffällige Veränderungen an Schülern beobachten.
Muslime gegen salafistische Propaganda
"Er ist plötzlich gut geworden in der Schule, was ja eigentlich schön wäre, aber er lässt von seinen alten Hobbys ab, spielt kein Fußball mehr, und, was besonders negativ aufgestoßen ist, ist dass der andere Muslime, die sich eher westlich orientiert kleiden, auf dem Schulhof sehr aggressiv anspricht und sagt, sie seien keine richtigen Muslime, sie sollten in die Moschee kommen und umkehren und das teilweise nicht nur mit Worten sondern auch mit Gewalt."
Mit betroffenen Jugendlichen und deren Eltern sucht Sauerborn das Gespräch und vermittelt gegebenenfalls Kontakte auch zu einem Imam. 40 Imame wurden in Nordrhein-Westfalen in einem gemeinsamen Projekt der nordrhein-westfälischen Polizei und der Landeszentrale für politische Bildung für solche Gespräche ausgebildet. Die Initiative dazu sei von den Imamen selbst ausgegangen, betont Sauerborn.
"Ein Beispiel, das fand ich sehr bemerkenswert. Ein Imam ein Sheikh, also jemand mit einem sehr hohen Stellenwert, hat gesagt: Ich geh mit den Jugendlichen aus meiner Gemeinde in die Disko, weil ich wissen muss, wo sind sie, was machen sie dort, wie verbringen sie ihre Freizeit. Ich setz mich mit ihnen an den Computer und surfe mit ihnen, damit ich weiß, auf welchen Seiten sie landen. Denn erst dann kann ich mit ihnen darüber reden."
Nur Muslime könnten der salafistischen Propaganda wirksam etwas entgegensetzen, zeigen sich auch Politologen, Islamwissenschaftler, Soziologen und Sozialarbeiter überzeugt. Die Bekämpfung von Extremisten sei jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, betont der Theologe Mouhanad Khorchide und setzt auf Integration.
"Vor allem ist es Aufgabe der Gesellschaft den Muslimen zu vermitteln: Wir haben ein großes Wir, 'wir Deutsche' und damit meinen wir auch 'wir Muslime'. Muslime gehören auch dazu, 'wir Europäer' und 'wir Deutsche und Muslime' gehören selbstverständlich auch dazu."