Kommentar zu Nahost
Deutschland muss seine Israel-Politik korrigieren

Nicht nur wegen der humanitären Lage im Gazastreifen müsse die Bundesregierung ihren Israel-Kurs ändern, meint Stephan Detjen. Auch perspektivisch sei dies nötig. Berlin müsse anerkennen, dass die Regierung-Netanjahu die Sicherheit Israels gefährde.

Ein Kommentar von Stephan Detjen | 09.03.2024
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (in der Mitte von hinten) sitzt zwischen ihren Beratern an einem Tisch gegenüber Israels Premierminnister Benjamin Netanjahu, neben den ebenfalls andere Männer sitzen. Im Hintergrundn sind die Fahnen (von links nach rechts) von Deutschland, der EU und Israels drapiert.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei einem Treffen mit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu: Die Bundesregierung müsse ihren Kurs ändern, meint Detjen. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
Deutschland muss seine Nahostpolitik korrigieren. Die Bundesregierung muss sich dafür rhetorische und politische Spielräume verschaffen, auf Distanz zur Regierung Netanjahus gehen und wirksame Konsequenzen daraus ziehen. Erste Schritte in diese Richtung sind erkennbar, weitere werden folgen müssen.
Das ist nicht nur mit Blick auf das gegenwärtige, humanitäre Drama im Gazastreifen notwendig. Auch perspektivisch wird sich die Bundesregierung weiter von einem verengten Verständnis deutscher Staatsräson lösen müssen, wenn sie sowohl der historisch begründeten Verantwortung Deutschlands gerecht werden als auch das Versprechen einer wertegeleiteten Außenpolitik einlösen will.

Falsche Weichenstellung nach Hamas-Terror

Beides ist möglich. Aber es erfordert eine Korrektur des Kurses, den die Bundesregierung nach dem mörderischen Überfall der Hamas im vergangenen Oktober eingeschlagen hat. Statt einen gemeinsamen Raum für Entsetzen, Trauer sowie Empathie mit Jüdinnen und Juden in Israel und Deutschland zu schaffen, hat sie damals versucht, Politik und Gesellschaft auf eine Solidarität mit einer von radikalen und rassischen Kräften geprägten Regierung in Jerusalem zu verpflichten.
Während US-Präsident Biden seine Partner in Israel bereits in ungewöhnlicher Deutlichkeit ermahnt hatte, die Fehler der USA nach den Anschlägen des 11. September 2001 nicht zu wiederholen, erklärte Olaf Scholz Ende Oktober letzten Jahres: Er habe keine Zweifel, dass sich die israelische Regierung bei ihrem Feldzug in Gaza an die Regeln des Völkerrechts halten werden.
Benjamin Netanjahu hatte da gerade die vollständige Abschottung des Gaza Streifens angeordnet. Sein Verteidigungsminister Gantz hatte offen erklärt, was das auch für die Zivilbevölkerung bedeuten sollte: kein Strom, kein Wasser. Der Armeesprecher, der dutzende deutsche Politiker und Journalisten durch die Trümmer der gebrandschatzten Kibuzzim in Norden Israels führte, setze ganz Gaza pauschal mit der Hamas gleich, deren vollständige Vernichtung zum Ziel des Krieges erklärt worden war.

Überdehnter Antisemitismusbegriff wird instrumentalisiert

Dennoch prägte das angebliche Vertrauen des Kanzlers in die Völkerrechtstreue der israelischen Regierung über Monate auch das Diskursklima in Deutschland. Proteste gegen die Kampagne Israels in Gaza wurden anfangs rigide verboten.
Ein politisch überdehnter Antisemitismusbegriff wird auch von Regierungsvertretern instrumentalisiert, um zugespitzte aber sachlich begründbare Kritik an israelischer Politik zu kriminalisieren. Selbst Forderungen nach einem Waffenstillstand wurde in einem Atemzug mit Antisemitismusvorwürfen delegitimiert oder abgelehnt, weil sie angeblich das Selbstverteidigungsrecht Israels verleugnen.

UNWRA-Finanzierung ist nächster Prüfstein für Berlins Außenpolitik

Seit Ende dieser Woche aber fordert selbst die Bundesaußenministerin einen, so wörtlich, „sofortigen humanitären Waffenstillstand“. Immer offener weist Annalena Baerbock Israel auch die Verantwortung dafür zu, dass Hilfsgüter nicht in ausreichendem Maß in den Gazastreifen gelangen.
Die Bilder von Paketen, die aus amerikanischen Flugzeugen über dem von Israel besetzten Gebiet abgeworfen wurden, werden in die Ikonographie dieses Krieges eingehen. Jetzt wird sogar über einen Einsatz der Bundeswehr beim Bau einer Seebrücke am Strand von Gaza gesprochen, damit überlebenswichtige Güter mit Schiffen in den von Israel blockierten Landstreifen gebracht werden können.
Der nächste Prüfstein für die deutsche Nahostpolitik wird die Entscheidung über die weitere Finanzierung des UN-Hilfswerks für die Palästinenser UNWRA sein, dessen Zerschlagung die israelische Regierung fordert. Beugt sich die Bundesregierung dem Druck, nimmt sie eine Ausweitung der humanitären Katastrophe in Kauf.

Staatsräson bedeutet nicht Treue zur Netanjahu-Regierung

Dass deutsche Staatsräson und Verantwortung für die Sicherheit Israels keineswegs eine unbedingte Treue zur Netanjahu-Regierung bedeutet, hat die Bundesregierung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen bereits bewiesen, als sie sich unter zornigem Protest israelischer Regierungsvertreter bei Abstimmungen über den Krieg in Gaza der Stimme enthielt.
Zugleich aber trieben Netanjahu und seine radikalen Koalitionspartner auch den gewaltsamen Vormarsch fanatischer Siedler im Westjordanland weiter voran. Selbst amerikanische UN-Diplomaten tun sich inzwischen schwer damit, sich mit ihren Veto-Stimmen im Sicherheitsrat immer wieder an die Seite Israels zu stellen.

Israels aktuelle Regierung gefährdet Sicherheit des Landes

Verliert Israel auch seine letzten Unterstützer bei den Vereinten Nationen, wird das die geopolitischen Kräfteverhältnisse im Nahen Osten insgesamt tiefgreifend verändern. Die Bundesregierung muss vor diesem Hintergrund anerkennen, dass die Sicherheit Israels nicht nur durch die Hamas, den Iran und seine Stellvertreter, sondern auch die von extremistischen Kräften getriebene Regierung des Landes selbst gefährdet wird.