Eine Gesellschaft brauche Träumer und Visionäre, sagte Wecker. Die Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen zeige, dass "Empathie in Deutschland nicht ganz abgeschafft" sei.
Nur Verstand und Mitgefühl zusammen ergäben Vernunft, betonte Wecker. Auf der Flucht seien Menschen, die in ihren Heimatländern unsäglich gelitten hätten. Niemand von ihnen glaube, dass man "ihnen hier Honig in den Mund träufelt". Um das Problem gesellschaftlich zu lösen, sei es wichtig, dass sich Politiker und Mahner zusammen täten. Aufgabe der Realpolitik sei es, legale Fluchtmöglichkeiten zu schaffen und keine Waffen in Krisenregionen zu liefern.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Und wir wechseln die Perspektive auf das Thema Flüchtlinge: weg von der Politik hin zur Kunst. Es gibt einige Künstler, die sich gesellschaftskritisch mit dem Thema Migration auseinandersetzen, seit Jahren auch der Sänger und Liedermacher Konstantin Wecker, auch in der aktuellen Diskussion. Ich habe ihn vor der Sendung gefragt, ob er sich vom Gesellschaftskritiker zum Traumtänzer entwickelt hat.
Konstantin Wecker: Ich war immer schon ein Traumtänzer und ich glaube, es braucht auch die Traumtänzer in unserer Gesellschaft. Es braucht die Träumer, es braucht die Utopisten, es braucht die mit den Visionen. Immer wieder gern zitiere ich den Satz von Helmut Schmidt vor langer Zeit, der sagte, wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Ich bin der Meinung, es ist umgekehrt: Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, und dann könnten ganz schön viele Politiker derzeit zum Arzt gehen. Ich finde es sehr wichtig, Visionen zu haben, und das ist das Schöne an einer demokratischen Gesellschaft, dass hier ein Platz sein muss. Es muss eben auch für die Träumer und für die Poeten ein Platz sein.
Kaess: Es ist also Poesie, es ist viel Symbolik in Ihren Texten. Was bewirkt das?
Wecker: Es bewirkt, glaube ich, Emotionen und es kann etwas bewirken, nicht nur meine Lieder, um Gottes Willen, sondern die von vielen, vielen, vielen anderen Menschen, die künstlerischen Beiträge, dass etwas passiert ist, was wir vor ein paar Wochen jetzt gesehen haben, wo niemand damit gerechnet hat. Wir hatten noch die brennenden Asylantenheime und die Dumpfbacken mit ihren Sprüchen in der Presse und plötzlich haben sich ganz viele Menschen aufgemacht, um zu helfen und nicht zuerst ideologische Diskussionen zu führen, ob man von links oder rechts oder wie auch immer hilft, sondern einfach helfen.
Kaess: Warum glauben Sie ist das so?
Wecker: Ich glaube, dass man das eigentlich in einer Gesellschaft, die die Empathie mehr oder weniger abgeschafft hat, die ausschließlich auf Konkurrenz- und Leistungsdruck basiert, dass man das nicht erwartet hat. Es gibt aber eben, wie wir sehen, sehr viel mehr Menschen, und was mich besonders freut, es gibt sehr viele junge Menschen, die sich wieder beteiligen, denen man ja in der letzten Zeit immer gesagt hat, sie seien politisch völlig desinteressiert.
Kaess: Haben Sie auch gesagt.
Wecker: Ich habe das auch gesagt, obwohl ich einen sehr politisch interessierten Sohn habe.
"Wir müssen den Verstand wieder anbinden an unser Mitgefühl"
Kaess: Also ist die Empathie doch nicht abgeschafft?
Wecker: Sie ist nicht ganz abgeschafft, aber wir müssen aufpassen. Ich meine, ich wehre mich sehr gegen den Satz, den ich auch immer wieder in Mails lesen musste, dass wer zu viel Empathie hat keinen Verstand hätte, und da möchte ich gerne einen Satz von meinem Freund Arno Grün, dem großen Psychologen zitieren. "Wir glauben, unser Denken sei realistisch, wenn es von Mitgefühl befreit ist, von der Fähigkeit, Schmerz zu teilen. Denken wir aber ohne Mitgefühl, dann leben wir in einer Scheinwelt aus Attraktionen, die Kampf und Konkurrenz zu den Triebkräften unserer Existenz machen." Das ist ganz wichtig, denn das, was wir als Verstand bezeichnen und wo wir immer der Meinung sind, das hat uns so weit geführt, hat uns ja eigentlich in eine Katastrophe hineingeführt. Also müssen wir den Verstand wieder anbinden an unser Mitgefühl.
Kaess: Welche Katastrophe meinen Sie, Herr Wecker?
Wecker: Die Katastrophe, die wir sehen: Diese unglaubliche soziale Ungerechtigkeit, das was wir der Erde antun. Wir vernichten die Erde in einem Ausmaß, das weiß jeder. Ich meine, es wird nicht mehr viel darüber geschrieben, aber jeder weiß, dass wir aus reiner Gier, aus Geldgier alles vernichten. Wir vernichten Lebewesen, wir vernichten Arten, wir lassen zu, dass Massentiertransporte passieren. Das sind so unsägliche Dinge, wo man sich sagt, das kann doch nicht Verstand sein. - Ich plädiere für die Vernunft übrigens. Verstand und Mitgefühl zusammen, das ergibt meines Erachtens Vernunft.
"Man kann Mut machen mit der Kunst und mit der Poesie "
Kaess: Herr Wecker, Sie haben gerade über die Mails gesprochen, die Sie bekommen. Was für Feedback bekommen Sie denn generell und wen erreichen Sie?
Wecker: Es wird einem ja so gerne vorgeworfen, dass man sowieso mit seinen Liedern immer nur die erreicht, die ähnlich denken. Das ist auch richtig. Denn ich glaube, es hätte wenig Sinn, wenn ich jetzt meine Lied "Sage Nein!" beim NPD-Parteitag singen würde. Da würde ich niemanden überzeugen. Es ist aber auch wichtig, diejenigen zu motivieren, die ähnlich denken. Wir sind nicht alle einer Meinung, mein Publikum und ich, aber wir haben eine gleiche Sehnsucht und da gibt es viele Leute und das kriege ich auch mit. Ich kriege sehr viel positives Feedback natürlich. Viele schreiben, sie sind jetzt bestärkt, ihren Weg weiterzugehen, ihren eigenen Weg weiterzugehen, nicht meinen, sondern ihren. Also man kann Mut machen mit der Kunst und mit der Poesie. Natürlich bei diesem Thema, das das Land ja auch leider sehr spaltet, bei diesem Thema kriege ich natürlich unglaublich hasserfüllte Mails, nicht jetzt von meinem Publikum, sondern von allen Seiten. Die bekomme ich sowohl in mein Büro geschickt bis hin zu Morddrohungen. Die lese ich. Die habe ich auf Facebook natürlich. Aber ich will die andere Seite immer wieder betonen. Ich kriege auch ganz viele Zuschriften von Leuten, die mir Mut machen.
Kaess: Herr Wecker, was geht Ihnen bei den Bildern durch den Kopf, die uns im Moment vom Balkan erreichen, wo die Menschen hin- und hergeschoben werden, die Flüchtlinge, weil keiner sie haben will? Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder sehen, dass Ungarn sich abschottet, dass Ungarn einen Grenzzaun hochgezogen hat und teilweise dort die Flüchtlinge zurückdrängt?
Wecker: Da gehen mir zwei Sachen durch den Kopf. Das Erste, was mir durchs Herz geht, ist, dass ich, wie, glaube ich, jeder Mensch, der noch ein bisschen Gefühl hat, dass man den Tränen nah ist. Und das Zweite ist dann schon eine Wut. Eine Wut, dass ich mir sage, diese EU hat es geschafft, Griechenland, nur weil es eine linke Regierung hatte, in den wirtschaftlichen Ruin zu treiben. Da waren sie sich alle einig. Und wenn es um den Herrn Orbán geht, der einfach definitiv mit Faschisten zusammenarbeitet, dann drückt man mehrere Augen zu. Man könnte doch dem Herrn Orbán ganz deutlich einmal Bescheid geben. Ansonsten sagt man nichts. Warum? Weil ich glaube, er macht so eine Drecksarbeit, die die anderen ganz gern auf den Herrn Orbán abschieben.
"Was natürlich jetzt im Moment geplant ist, dieser Gesetzesentwurf, das ist eine Katastrophe"
Kaess: In Deutschland sieht es ja im Moment anders aus. Sie haben sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema Ausländerfeindlichkeit, Rassismus oder Asyldebatte beschäftigt und besonders stark in den 90er-Jahren, als es die ausländerfeindlichen Übergriffe gab, als die am massivsten waren. Was ist denn heute anders als damals?
Wecker: Ich glaube schon noch, dass die Szene im Moment ziemlich motiviert ist.
Kaess: Welche Szene?
Wecker: Die Nazi-Szene, dass die natürlich ganz schön motiviert sind von dem Thema. Die sind ja auch gut vernetzt. Das merkt man auch natürlich an den Shitstorms, mit welcher Regelmäßigkeit, die kommen. Aber ich glaube, wir haben jetzt eine Chance. Wir können mit unserer Empathie, mit unserem Mitgefühl und mit dem Herzen, mit dieser Herzlichkeit - das sind so wunderschöne Bilder, wenn die Flüchtlinge empfangen werden in den verschiedenen Bahnhöfen und Städten -, da können wir wirklich was entgegensetzen und so entgegensetzen, dass die Politiker das sich anschauen müssen. Was natürlich jetzt im Moment geplant ist, dieser Gesetzesentwurf, das ist eine Katastrophe. Da schreibt der von mir sehr geschätzte Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung", der schrieb in einem Kommentar, dieser Entwurf hungert die sogenannten Dublin-Flüchtlinge aus. Er verspottet die Menschen, die den Flüchtlingen jüngst auf den Bahnhöfen Hilfe geleistet haben. Er verhöhnt Artikel eins des Grundgesetzes, der die Unantastbarkeit der Menschenwürde garantiert. Das ist etwas, da müssen wir uns wehren dagegen. 2012 hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil entschieden - und das ist ein sehr schöner Satz -, dass die Menschenwürde nicht migrationspolitisch zu relativieren ist. Das heißt, die Menschenwürde gilt nicht nur für Deutsche, sondern sie gilt für alle Menschen.
"Das sind Menschen, die wirklich unsäglich leiden"
Kaess: Es ist ja erst mal ein Gesetzesentwurf. Wir werden sehen, was davon letztendlich dann übrig bleibt. - Sie haben jetzt von dieser Willkommenskultur gesprochen. Auf der anderen Seite: Es gibt ja auch trotzdem die Überforderung gerade der Bundesländer und der Kommunen. Es gibt aber auch den Vorwurf von den anderen Ländern, die sagen, Deutschland zieht jetzt noch mehr Flüchtlinge an in der EU, und Angela Merkel ist ja stark kritisiert worden für ihren Beschluss, Tausende ins Land zu lassen. Der britische Politologe Anthony Glees, der hat bei uns im Deutschlandfunk gesagt, Deutschland ist wie ein Hippie-Staat von Gefühlen geleitet. Ist Deutschland zum Hippie-Land geworden?
Wecker: Nein, das ist es nicht, weil das sind ja zum Großteil alles nur Lippenbekenntnisse. Das ist es auf keinen Fall. Und das mit den Flüchtlinge anziehen, da habe ich, ehrlich gesagt, eine etwas andere Meinung. Glauben Sie denn wirklich, dass jemand gerne, nur weil er keinen Fernseher hat und weil er nicht so viel Geld verdient, obwohl es ihm eigentlich ganz gut geht, aus seinem Land auswandern möchte, dass er aus seiner Heimat gehen möchte? Ich habe mit zwei Flüchtlingen näher zu tun gehabt, die bei mir auch zuhause waren. Die waren drei Monate auf der Flucht und haben ihre ganze Familie verloren. Glauben Sie, das nimmt jemand auf sich, nur weil er ein bisschen besseren Lebensstandard haben will? Das sind Menschen, die wirklich unsäglich leiden. Man zieht nicht einfach jemand an mit dem Gefühl, ach Gott, schauen wir mal rüber nach Deutschland, da geht es uns vielleicht besser. Und man darf diese Leute auch nicht für so dumm halten. Die glauben doch auch nicht, dass sie hier herkommen und plötzlich ihnen der Honig in den Mund geträufelt wird. Die wissen, was sie auf sich nehmen. Sie nehmen es auf sich, weil sie leiden, und dieses Leid haben wir mit unserer Politik und mit unserem Wohlstand, wir alle haben das mit verursacht.
"Die Realpolitiker sollten legale Fluchtmöglichkeiten schaffen"
Kaess: Herr Wecker, jetzt ist es natürlich leicht zu kritisieren, und ich sage mal, es ist für Sie auch als Künstler leichter als für den Realpolitiker. Zum Schluss noch die Frage ganz konkret: Was sollten die Realpolitiker jetzt tun, damit die Stimmung im Land nicht kippt?
Wecker: Die Realpolitiker sollten legale Fluchtmöglichkeiten schaffen, also die Grenzen nicht schließen, sondern aufmachen, damit es möglich ist, die Leute, die zu uns kommen, nicht zu kriminalisieren. Sie sollten - und jetzt spreche ich natürlich als Utopist, aber das ist meine Forderung an die realen Politiker -, sie sollen die exorbitanten Gewinne der Waffenindustrie und der Waffenschmieden verwenden für diese Flüchtlinge und sie sollen keine Waffen mehr liefern. Das ist meine Forderung. Ich möchte Ihnen noch was sagen. Mein Beruf ist ein anderer als der des Realpolitikers. Ich hätte das auch werden können. Ich gehöre zu denen, die mahnen, die aufmerksam machen, die Sensibilitäten erwecken. Ich gehöre nicht zu denen, die realpolitisch etwas umsetzen. Wir müssen uns zusammentun, das ist wichtig, aber zuerst mal braucht es auch diejenigen, die immer wieder bereit sind, auf Missstände aufmerksam zu machen.
Kaess: ... sagt der Sänger und Liedermacher Konstantin Wecker. Danke für das Gespräch, Herr Wecker.
Wecker: Danke schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.