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Deutschland und Ungarn
"Es ist mehr, was uns verbindet als uns trennt"

Deutschland wisse, welchen Beitrag Ungarn zur deutschen Einheit und zur friedlichen Überwindung des Kalten Krieges geleistet habe, sagt der Politologe Zoltán Kiszelly im Dlf. Die Probleme der heutigen Zeit trennten beide Länder zwar in einigen Punkten, aber es gebe immer noch vieles, was sie verbinde.

Zoltán Kiszelly im Gespräch mit Silvia Engels  |
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Victor Orban, Ministerpräsident von Ungarn, schauen sich im Bundeskanzleramt nach einer Pressekonferenz in die Augen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán: Besonders in der Migrationsfrage nicht immer einer Meinung (dpa / Kay Nietfeld)
Silvia Engels: Am 19 August 1989, heute vor genau 30 Jahren organisierten ungarische Oppositionelle im westungarischen Sopron das sogenannte Paneuropäische Frühstück. Unter anderem kamen auch hunderte DDR-Bürger, um zu diskutieren, und sie nutzten die Nähe zur ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht in den Westen. Ungarische Grenzbeamte hielten sie damals nicht auf. Diese allererste Fluchtwelle gilt als Initialzündung für die spätere große Fluchtbewegung und schließlich die Maueröffnung in Berlin. Heute erinnern Bundeskanzlerin Merkel und der ungarische Ministerpräsident Orbán in Sopron an die Grenzöffnung.
Das Paneuropäische Picknick 1989, ein Symbol des durchlässiger werdenden Eisernen Vorhangs. – Kurze Zeit später bekannte sich damals die reformorientierte kommunistische ungarische Führung dazu, DDR-Bürger gar nicht mehr zu stoppen, wenn sie in den Westen wollten. Ungarn öffnete als erster den Zaun, ein wichtiger Schritt, der dann weiterging in Richtung Mauerfall.
Am Telefon ist nun Professor Zoltán Kiszelly, ungarischer Politikwissenschaftler, tätig für die Universität Budapest, und Berater der Regierung Orbán. Guten Morgen, Herr Kiszelly!
Zoltán Kiszelly: Ja, guten Morgen!
Engels: Wird dieses Jubiläum Paneuropäisches Picknick auch in der ungarischen Öffentlichkeit wahrgenommen und gewürdigt?
Kiszelly: Ja, jedes Jahr finden Gedenkfeiern statt. Dieses ganze Wochenende fanden Konferenzen und Gedenkfeiern in Sopron vor Ort statt, mit deutschen und ungarischen Gästen.
"Beitrag zur friedlichen Überwindung des Kalten Krieges geleistet"
Engels: Auch die Regierung Orbán würdigt das ja, obwohl es ja letztendlich ungarische Kommunisten waren, die die Grenzen öffneten, also eine Linie, von der sich Orbán ja immer deutlich absetzt.
Kiszelly: Damals gab es zwei Schirmherren, Otto von Habsburg, damals noch europäischer Abgeordneter, und der reformkommunistische Staatsminister Imre Pozsgay. Aber das Picknick wurde in der Tat organisiert von damaligen Oppositionellen aus Debrecen, aus Ostungarn, die daran erinnern wollten, dass während zwischen Österreich und Ungarn sich dieser Eiserne Vorhang verabschiedete, dass der abgebaut wird, damals zwischen Ungarn und Rumänien ein neuer Eiserner Vorhang entstand. Der damalige Diktator Ceausescu wollte seine Leute durch einen Eisernen Vorhang einsperren und daran wollten die Organisatoren damals auch erinnern.
Engels: Viktor Orbán hat in den vergangenen Jahren öfter mal in Frage gestellt, ob Deutschland eigentlich die ungarische Leistung der Grenzöffnung 1989 noch genügend anerkenne. Nehmen Sie das auch so wahr, dass das in Deutschland nicht recht gewürdigt wird?
Kiszelly: Nein! Ich denke, wie wir das jetzt auch in der Videobotschaft der Kanzlerin gehört haben. Die deutschen Politiker und, ich denke, auch die deutsche Öffentlichkeit ist sich dessen bewusst, welchen Beitrag Ungarn zur deutschen Einheit und zur friedlichen Überwindung des Kalten Krieges geleistet hat. Es sind sicher die Probleme der heutigen Zeit, die uns trennen, aber ich sage immer, es ist mehr, was Deutsche und Ungarn verbindet als uns trennt.
"Nicht als gleichwertiger Partner beigetreten"
Engels: Dann zeichnen wir die weitere Entwicklung der deutsch-ungarischen Beziehungen nach 1989 mal ein wenig nach. Dem Wegfall des Ost-West-Konflikts folgten ja erst mal Jahre des engen deutsch-ungarischen Verhältnisses. Berlin war großer Unterstützer des NATO-Beitritts und der EU-Osterweiterung, eben auch Ungarns. Heute liegen die Interessen dagegen weiter auseinander. Was führte denn Ihrer Einschätzung nach zu dieser Entfremdung? War das die Flüchtlingskrise 2015, oder begann diese verschiedene Interessenlage früher?
Kiszelly: In der Tat: Ungarn wie auch die anderen Wendestaaten oder Reformstaaten wollten sich eher erst der EU anschließen, der europäischen wirtschaftlichen Integration, und zweitens der NATO. Damals hat man empfunden, dass wegen der Sowjetunion oder Russland ein NATO-Beitritt schwieriger wäre als der Beitritt zu einer Wirtschaftsgemeinschaft, der EG oder der EU. Das ist genau umgekehrt gekommen. Erst ist man der NATO beigetreten und dann erst der EU. Das war vielleicht eine andere Entwicklung als erwartet.
Natürlich fühlen sich viele auch in der ehemaligen DDR, aber auch bis nach Rumänien war dieser Beitritt von vielen Menschen in Mittelosteuropa vielleicht auch empfunden worden, dass man nur die Märkte übernommen hat und dass man nicht als gleichwertiger Partner dann beigetreten ist. Mehrheitsentscheidungen oder Bestimmungen des Lissaboner Vertrages, zum Beispiel die verpflichtende Einführung des Euro, wenn man soweit ist, werden in Mittelosteuropa diskutiert und vielleicht nicht als Teil einer gleichwertigen Beziehung empfunden.
"Man wollte uns praktisch nicht gewähren lassen"
Engels: Wenn ich Sie da richtig verstehe, das war auch schon vor 2015, bevor dann die Flüchtlingskrise als verschärfendes Element in die Beziehungen trat?
Kiszelly: Ja, es gab schon wirklich Probleme. Aber wie gesagt: Es ist mehr, was uns verbindet als uns trennt. Aber natürlich: Es waren die Wirtschaftsentwicklungen. Deutschland, England und Frankreich sind große, wirtschaftlich starke Staaten und die Investitionen, die hier getätigt wurden, werden vielmals so empfunden, dass man praktisch nur Märkte gekauft hat und hier wenig investiert, beziehungsweise es fand eine große Abwanderung statt, nicht nur aus Ungarn. Aus Polen, aus Rumänien, aus Litauen kamen viele gebildete Menschen, Ärzte, Facharbeiter, und zogen nach Westen, wo sie natürlich mehr verdienten, und das hat natürlich auch dazu geführt, dass es hier Engpässe zum Beispiel in bestimmten Mangelberufen gibt.
Aber mehrheitlich hat die Integration, haben die deutsch-ungarischen Beziehungen auch für Ungarn sehr vieles gebracht. Da kann man natürlich auch die EU-Fördergelder erwähnen, die aber mehrheitlich wieder nach Deutschland abfließen, weil es meistens deutsche Unternehmen sind, die hier Straßen bauen, oder es sind meistens deutsche Krankenweise, deutsche Stadtbusse, die gekauft werden. Das ist eine Win-Win-Situation. Die deutschen Steuerzahler geben uns Geld und dafür bekommen wir gute Straßen, gute Maschinen, gute Busse, gute Krankenwagen. Dieses Geld fließt aber meistens nach Deutschland wieder zurück.
Viktor Orbán, die Regierung hat diese Prozesse durchbrochen. Sie haben versucht, daran etwas zu ändern, und das hat zu Konflikten geführt, weil das, was Ungarn im Kleinen als Laboratorium vorgemacht hat, das wollten jetzt größere Staaten wie Frankreich, Italien, insbesondere jetzt Italien nachmachen. Man wollte uns praktisch nicht gewähren lassen, weil wenn das mit Ungarn durchgeht, dann ziehen andere Staaten nach. Zum Beispiel, dass die Medien mehrheitlich in ungarischer Hand sind, das versucht man jetzt auch in Polen nachzumachen oder in Tschechien und in Bulgarien wurde das schon gemacht. Zum Beispiel deutsche Medieninvestoren haben praktisch verkauft und Einheimische haben übernommen. Dieser Prozess setzt sich in ganz Mittelosteuropa fort.
"Wir haben 150 Jahre Besatzungszeit erlebt"
Engels: Darauf kommen wir gleich noch zu sprechen, auf dieses Verständnis und auch das Rechtsstaatsverfahren, was ja derzeit gegen Ungarn verfolgt wird von Seiten der EU. Aber bleiben wir erst noch etwas vorher: die Flüchtlingszuwanderung 2015. Das markierte den tiefen Riss gerade im Verhältnis auch zwischen Angela Merkel und Viktor Orbán. Ist der überhaupt noch zu heilen, oder setzen Sie darauf, dass künftige Regierungen sich da wieder annähern?
Kiszelly: Nein, ich denke nicht. Ich sehe, diese Migrationsfrage ist eine Frage, die in Berlin und Brüssel zu entscheiden ist. Ich sehe, dass Frau Merkel sich entschlossen hat. Wir sehen, dass Deutschland die Europäische Union zusammenhalten möchte. Die Briten sind die ersten, die abgesprungen sind. Frankreich und Italien wollen aus dem Euro austreten. Salvini hat verschiedene Projekte dazu. Das heißt, Berlin und Brüssel möchten die EU zusammenhalten und verhindern, dass Staaten austreten.
Ungarn will nicht austreten, aber auf jeden Fall sucht Frau Merkel ein Mittel, um die Staaten zusammenzuhalten, auch die Staaten, die nicht in der Eurozone sind. Da ist wieder die Migrationsfrage. Sie haben jetzt über die Schiffe gesprochen, über die Schiffe, die Leute über das Mittelmeer bringen. Das heißt, Ungarn schlägt vor, Staaten, die Migranten aufnehmen wollen, können das machen in Form einer verstärkten Zusammenarbeit. Das heißt, Staaten können vorangehen als eine Gruppe der Bereitwilligen. Aber es soll nicht zu Mehrheitsentscheidungen kommen und unser Problem ist, dass Berlin und Brüssel immer versuchen, diese Frage auf europäischer Ebene zu halten, obwohl außer Deutschland und einigen Staaten, die so tun, als ob sie Migranten aufnehmen wollen, Niederlande, Rumänien, außer diesen Staaten wollen keine anderen Staaten Migranten aufnehmen.
In Mittelosteuropa haben wir Erfahrungen mit den Türken, mit den Osmanen. Wir haben 150 Jahre Besatzungszeit von Polen bis Bulgarien und das war keine gute Erinnerung. Diese historischen Erfahrungen, die wir haben, sagen uns, dass wir nicht die Leute zu uns holen wollen, sondern die Hilfe vor Ort bringen nach Jordanien, in den Libanon, in die Türkei, dort wo Menschen in sicheren Flüchtlingslagern leben. Ungarn leistet mit Polen eine große Hilfe beim Wiederaufbau im Nordirak.
"Zwei-Drittel-Mehrheit kann grundlegende Gesetze ändern"
Engels: Aber jetzt mal der Blick nach vorne, weil die Position kennen wir ja. Ist das auch ein Leitbild für ein grundsätzliches Missverständnis? Versteht möglicherweise Ungarn die EU eher als Gemeinschaft, die locker sich auf Themen einigen soll, wo man sich nun mal einig ist, und die deutsche Seite einheitliche Regeln möchte?
Kiszelly: Ja, das ist der Unterschied, und das hat zum Brexit geführt. Wenn Sie sich vor Augen führen, was die Briten und die Niederländer 2012 bis 2014 sich für Gedanken gemacht haben – David Cameron und die niederländische Regierung haben Papiere vorgelegt, wo sie gesagt haben, die bisherige Integration in der Wirtschaft reicht völlig aus, und andere Themen, wo man zu mehr Integration übergehen möchte, sollen in Form einer verstärkten Zusammenarbeit geführt werden.
Engels: Einen Punkt muss ich noch ansprechen, weil das ist ja dann das Thema Rechtsstaatsverfahren, denn da sieht man sich von ungarischer Seite nicht nur Deutschland gegenüber, sondern EU-weit wird da ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn angestrebt, eben wegen Schwächung der Bereiche Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, Medien. Das können Sie doch nicht einfach als nur verschiedene Meinungsverschiedenheiten sehen?
Kiszelly: Nein! Aber die ungarische Verfassung schreibt vor, dass eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament grundlegende Gesetze wie das Mediengesetz oder sogar die Verfassung ändern kann. Die Fidesz-Regierung hat jetzt dreimal in Folge eine Zwei-Drittel-Mehrheit seit 2010 und deswegen kann sie juristisch die Gesetze ändern, auch diese umstrittenen Gesetze. Die ungarischen Menschen haben 2014 und letztens 2018 diese Politik mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für die Regierung, was durch das Wahlgesetz entsteht, gutgeheißen. Die Opposition, die all das bestritten hat, die hat weniger als ein Viertel der Parlamentsmandate bekommen. Das heißt, diese Politik wird von der überwiegenden Mehrheit der Ungarn gutgeheißen. In Polen - das gleiche. Die Regierungspartei in Polen führt meilenweit vor der Opposition. Wir sehen in diesem Verfahren ein Mittel, um unsere Stimme zu blockieren, damit wir kein Veto einlegen können und müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.