Während es Deutschland um die faire Verteilung der aufgenommenen Flüchtlinge gehe, stehe für die Visegrad-Staaten eine gemeinsame Grenzsicherheitspolitik im Vordergrund. Trotz dieser Differenzen seien die osteuropäischen Staaten wichtige Partner bei der anstehenden Reform der EU.
Das Interview in voller Länge:
Sarah Zerback: Rund um die Türkei überschlagen sich im Moment die Schreckensmeldungen. Während das türkische Militär in Syrien mittlerweile mit Panzern gegen die Terrormiliz IS, aber auch gegen Kurden vorgeht, da erschüttert ein weiterer Anschlag den Südosten der Türkei, nur wenige Tage nach dem Anschlag auf eine Hochzeitsfeier in Gaziantep.
Welche Strategie die Türkei aktuell in Syrien verfolgt, das fragt sich die Welt spätestens seit der Wiederannäherung zu Russland, und aktuell, seitdem die Türkei im syrischen Bürgerkrieg nicht nur aus der Luft angreift, sondern auch Panzer schickt. Wir haben es gerade gehört. Während rund um das Gebiet am Euphrat weiter gerungen wird, kommt jetzt Bewegung in einen belagerten Vorort von Damaskus. In Daraja bereiten sich Rebellen und Zivilisten darauf vor, die zerstörte Stadt verlassen zu dürfen.
Nachdem sie sich gestern in Prag bereits einen Korb eingefangen hat, was verbindliche Verteilungsquoten für Flüchtlinge betrifft, dürfte Kanzlerin Merkel bereits darauf eingestellt sein, dass auch das Treffen in Warschau kein Zuckerschlecken wird. Dort kommt sie zur Stunde mit ihren Kollegen aus den vier Staaten der sogenannten Visegrad-Gruppe zusammen: mit Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Und die gehören bekanntlich zu den schärfsten Kritikern des deutschen "Wir schaffen das!". Die Flüchtlingspolitik ist ganz oben auf der Liste.
Zugehört hat Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag, Herr Lang!
Kai-Olaf Lang: Guten Tag.
Zerback: Ganz oben auf der Agenda der Kanzlerin steht heute eine gemeinsame Flüchtlingspolitik der EU. Reines Wunschdenken?
Lang: Nun, es treffen natürlich da in Warschau zwei ganz unterschiedliche Ansätze aufeinander: Einer, wie er von Deutschland verfolgt wird, der im Kern eine humanitär inspirierte Hilfspolitik praktiziert, die ein Aufnahmegebot von Schutzsuchenden einschließt. Und auf der anderen Seite haben wir die Devise "Security first". Wenn es um Flüchtlingspolitik geht, dann schauen die Visegrad-Länder vor allem durch das Prisma von Schutz und Sicherheit auf die Problematik. Man sieht vor allem Risiken und Bedrohungen und deswegen sagt man, wir brauchen eine effektive Abwehrpolitik, wir brauchen mehr Kontrollen, wir brauchen eine bessere Grenzsicherung. Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, hat jetzt erst wieder gesagt, durch die ungarische Grenze wird nicht einmal ein Vogel unkontrolliert kommen.
Das sind ganz unterschiedliche Sichten. Beide Seiten wollen eigentlich eine europäische Lösung. Nur in Deutschland sagt man, wir brauchen eine faire Lastenteilung. Die umschließt auch eine gemeinsame Verteilung. Und in Mitteleuropa sagt man, na ja, wir brauchen vor allem eine gemeinsame Grenzsicherungspolitik, um die Grenzen besser abriegeln zu können.
Zerback: Und über diese Grenzzäune, die da jetzt sogar noch verstärkt werden sollen - Sie zitierten da Ungarns Ministerpräsident Orbán -, da gibt es ja doch ein deutliches Kopfschütteln hier bei uns in Westeuropa, in vielen Ländern, egal auf welcher Seite man da jetzt steht. Versteht man denn dieses Kopfschütteln in Ungarn, in Tschechien, in Polen, dass da eine ganz andere Mentalität dahinter steckt?
Lang: Nein, man schüttelt selbst den Kopf. Man sagt, es gäbe einen Nexus zwischen einer großzügigen Aufnahmepolitik und zwischen dem Import von großen muslimischen Communitys einerseits und Terrorgefahr. Der tschechische Ministerpräsident Sobotka hat ja erst vor einigen Tagen wieder gesagt, man wolle keine größere muslimische Gemeinschaft im eigenen Land haben. Man sieht sich durch Anschläge, durch Probleme bei Integration, die es in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Belgien gibt, eigentlich bestätigt in dieser harten Haltung und ist nicht bereit, davon abzurücken. Die Frage obligatorischer Verteilschlüssel wird ein Punkt sein, bei dem man auch aus innenpolitischen und weltanschaulichen Gründen nicht von seiner Haltung abrücken wird.
"Man möchte die Kontrolle wahren."
Zerback: Und da ist man sich einig, die Forderung der EU und auch der deutschen Kanzlerin abzulehnen?
Lang: Man möchte die Kontrolle wahren. Es gab immer wieder Stimmen auch aus diesen Ländern, die sagen, na ja, freiwillig sind wir ja dazu bereit, zumindest in einem geringen Maß oder symbolisch dazu beizutragen. Wir wollen nur nicht dazu gezwungen werden, weil dann könnte ein Slippery-Slope-Effekt eintreten. Dann kann es irgendwie sein, dass aus diesen kleinen Kontingenten, und bislang wären sie ja nur tatsächlich sehr marginal, größere werden und wir nicht mehr wissen, was das gesellschaftspolitisch bedeutet. Insofern: Harte Haltung.
Zerback: Ist das denn der kleinste gemeinsame Nenner der Visegrad-Staaten, oder wovon werden die zusammengehalten? Welche Rolle spielt da vielleicht auch der Blick nach Russland, der sorgenvolle?
Lang: Tatsächlich hat die Migrationspolitik als Katalysator funktioniert und als Kitt, der diese doch sehr unterschiedlichen Länder mit ganz spezifischen Interessen jetzt in den letzten ein, zwei Jahren näher aneinander bringen ließ. Es gibt auch Themen, die sehr differenziert sind, und Russland und die Ostpolitik sind eines. Wir haben Ungarn von Viktor Orbán, der eine sehr pragmatische, kooperationsorientierte Politik gegenüber Russland verfolgt, etwa im Bereich der Energie. Russland soll ein Atomkraftwerk in Ungarn ausbauen und erneuern. Er und auch sein slowakischer Amtskollege Fico haben immer wieder gesagt, na ja, eigentlich sollten wir die harte Sanktionspolitik gegenüber Russland aufgeben. Und auf der anderen Seite haben wir ein Land wie Polen, das die geopolitischen Entwicklungen im postsowjetischen Raum, die Ukraine-Krise mit großer Sorge verfolgt und beim kürzlich abgehaltenen NATO-Gipfel auch darauf gedrängt hat, dass die Allianz Truppenkontingente auf eigenem Territorium stationiert. Da gibt es doch beachtliche Schattierungen.
"Man hat Angst, dass es neue Trennlinien geben könnte."
Zerback: Jetzt ist es ja so: Nach dem Brexit-Referendum der Briten, da verschieben sich in der EU ja die Machtverhältnisse. Ein wichtiger Bündnispartner ist weggefallen, deshalb müssen sich auch die restlichen verbleibenden 27 Staaten dort neu sortieren. Das führt ja auch dazu, dass Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei näher zusammenrücken. Stärkt sie das denn, oder treibt sie das auch vielleicht in die Isolation?
Lang: Es gibt natürlich eine Befürchtung, dass eine der Reaktionen auf die Brexit-Krise ein Vertiefungsimpuls sein könnte, und es gab ja erste Vorschläge, die sagten, wir müssen jetzt Kerneuropa bilden um die Eurozone herum, und bis auf die Slowakei sind diese Länder nicht drin. Man hat deswegen Angst, dass es neue Trennlinien geben könnte und man sozusagen in die Marginalisierung gerät. Deswegen sagt man muss man darauf achten, dass nicht neue Brüche in der EU entstehen. Der polnische Europaminister sprach jetzt von einer neuen Einheit der EU, die man nach dem Brexit herbeiführen müsse. Das ist ein klares Signal.
Deswegen sucht man auch trotz aller Magenschmerzen, die man hat, den Kontakt mit Deutschland. Und ich glaube, das ist auch ein sehr wohl verstandenes Signal, ein sehr sinnvolles Signal, dass die deutsche Bundeskanzlerin nach Warschau fährt, nach Prag fährt und sagt, obwohl wir Differenzen haben, brauchen wir den Kontakt und die Kooperation. Denn wir sollten eines nicht vergessen: Diese Länder werden gerade aus deutscher Sicht auch wichtige Partner sein, wenn es darum geht, die EU in nächster Zeit zu reformieren, auch wichtige Gegengewichte zu Tendenzen, die wir beispielsweise im europäischen Süden haben.
"Viktor Orbán und Jaroslaw Kaczynski sind nicht antieuropäisch."
Zerback: Gleichzeitig liebäugelt ja zum Beispiel Ungarn, aber auch Tschechien selbst mit einem Exit-Referendum. Wie groß sehen Sie denn da das Risiko, dass die EU das nicht aushalten wird?
Lang: Nein, ich glaube, das sind randständige Tendenzen. Länder wie Ungarn oder auch Polen, Viktor Orbán und Jaroslaw Kaczynski sind nicht antieuropäisch. Sie wollen nicht aus der EU aussteigen; sie wollen ganz im Gegenteil die EU reformieren. Man hat ja auch was von der Mitgliedschaft. Man hat finanzielle Unterstützung, hat Solidarität in der Ostpolitik, man möchte eine gemeinsame Energiepolitik. Man möchte die EU umbauen, indem man Zuständigkeiten zurückholt, dezentralisiert, mehr Einstimmigkeit möchte. Man möchte sozusagen, dass das Kontrollpaket in den Hauptstädten liegt. Insofern sind, glaube ich, die Befürchtungen, dass diese Länder rausgehen, gering. Die Frage ist eher, ob sie eine konstruktive oder destruktive Rolle in den anstehenden Reformdebatten spielen werden.
Zerback: Also frei nach Angela Merkel: Nicht mehr, sondern ein besseres Europa. - Kai-Olaf Lang war das von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Lang, vielen Dank für das Gespräch.
Lang: Gerne!
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