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Deutschlands älteste Buchhändlerin
Verfechterin der Buch-Tradition

Buchhändler wirken manchmal wie ein Fossil aus vergangenen Zeiten. Das gilt auch für Helga Weyhe, mit 95 die älteste Buchhändlerin Deutschlands. Heute wird sie mit dem Deutschen Buchhandlungspreis geehrt, mit dem Sonderpreis für ihr Lebenswerk. Wer ihren Laden betritt, begibt sich ein Stück weit auf Zeitreise.

Von Christoph Richter |
    Die Buchhändlerin Helga Weyhe steht in ihrer Buchhandlung in der Hansestadt Salzwedel (Sachsen-Anhalt).
    Helga Weyhe führt die traditionsreiche altmärkische Buchhandlung in dritter Familiengeneration. (dpa / Jens Wolf)
    Wer in Salzwedel im Nordwesten Sachsen-Anhalts die Buchhandlung Weyhe betritt, begibt sich auf eine Zeitreise. Denn die Innenausstattung - die kakao-farbenen vertäfelten Regale stammen aus dem Jahr 1880. Den Buchladen selbst gibt es seit 1840. "Ja. Durchgehend."
    1871 - zu Zeiten Bismarcks, kurz nach dem deutsch-französischen Krieg kauft Helga Weyhes Großvater die Buchhandlung. "Ja, hier hat schon mein Großvater gewirkt, der ist 1846 geboren."
    Der Laden ist ein Buch-Kontor. Keine dieser seelenlosen vollklimatisierten und trittschall-gedämpften Buchhandlungen, mit den immer selben Büchern, wo sich nur die Bestseller stapeln. Hier kann man tief eintauchen, sich verlieren. Beraten wird man dabei von Helga Weyhe. Jahrgang 1922. Friedrich Ebert ist zu der Zeit Reichspräsident, Stalin wird gerade Generalsekretär der KPdSU. Seit 1945 steht Weyhe hinter dem Buch-Tresen. Von Bestsellern hält sie nicht viel. "Wird so viel Quatsch gedruckt", sagt sie.
    "Ich habe vielleicht auch ein anderes Sortiment als andere. Wenn Sie mal hier durchgucken, da sehen Sie keine Stapelware. Man muss sich schon ein bisschen absetzen." Krimis mag sie gar nicht, findet man daher auch kaum im Laden. "Es wird mit Krimis alles so vollgedröhnt. Deshalb denke ich, da kann man schon mal eine Agatha Christie nehmen. Auch bei Hoffmann & Campe gibt es schon mal gute Krimis. Aber diesen Durchschnitt, den habe ich nicht."
    Lesen weitet die Seele
    Jedes Buch, das im Laden steht, kennt sie. Sie werden von Deutschland ältester Buchhändlerin Helga Weyhe alle gelesen. Wenn sie es nicht schafft die Bücher durchzulesen, dann werden sie zumindest quer gelesen. "Ich muss mal reingucken, da kann ich am Besten verkaufen."
    Während sie erzählt, streicht Helga Weyhe mit ihren zarten Händen fast liebevoll über die Bücher. Die sie wie kleine Juwelen behutsam in den Fingern hält. Helga Weyhe ist eine elegante, aber auch resolute Buchhändlerin mit wachem Blick, weltoffenem Geist und klarem Kompass. Ihr Credo: Lesen weitet die Seele. Den Gehstock nimmt sie nur selten in die Hand. Und: Die 95 Jahre sieht man der etwa 1,60 Meter kleinen Frau mit den schlohweißen Haaren nicht an. Nur ein Tribut zollt sie dem Alter: Mittags braucht sie zwei Stunden Pause und schließt den Laden. Der residiert in einem alten Salzwedeler Fachwerkhaus, ein Stockwerk drüber wurde Helga Weyhe geboren.
    Lieblingsbuch: "Stoffel fliegt übers Meer"
    Sechs Tage ist die Buchhandlung Weyhe geöffnet. Ihren letzten Mitarbeiter hat sie vor Jahren schon in Rente geschickt. "Meine Kundschaft ist von Boston bis Bombay."
    Im Büro von Deutschlands ältester Buchhändlerin sieht man lediglich einen alten, äußerlich schon vergilbten Computer, ein Faxgerät, ansonsten nur Bücher. Einen Internet-Auftritt gibt es nicht. Wer etwas bestellt, der bekommt es auch. Ihr Lieblingsbuch: "Stoffel fliegt übers Meer" von Erika Mann. Es ist die Kinder-Geschichte eines blinden Passagiers. 1932, als Helga Weyhe zehn Jahre wird, schenkt ihr Vater ihr eine der Erstausgaben. "Kennt kein Mensch. Nicht mal Buchhändler kennen dieses Buch." Bei Helga Weyhe liegt es am Tresen, direkt neben der Kasse.
    Die Ururgroßmutter von Helga Weyhe ist die Patentante von Jenny von Westphalen, der späteren Frau von Karl Marx. Ihr Onkel: Erhard Weyhe. 1914 ist er nach New York ausgewandert. Macht einen Kunstbuchladen auf, wird berühmt, organisiert die erste Ausstellung von Matisse in New York. Als junges Mädchen träumt Helga Weyhe von der großen weiten Welt, will bei ihrem Onkel im Laden in Manhattan stehen und Bücher verkaufen.
    "Also das hätte ich schon gerne gemacht. Aber erstens waren die Braunen da, dann kam der Krieg, dann kamen die Roten. Und da war auch nichts."
    Erst 1985 - als Helga Weyhe schon Rentnerin war - wurde der Traum wahr. Und sie flog über Prag mit einer klapprigen Iljuschin-Maschine nach New York, um endlich den Buchladen ihres da bereits verstorbenen Onkels zu sehen. Helga Weyhe hängt den alten Geschichten nicht nach, sagt sie. Lediglich ein Straßenschild mit der Aufschrift "794, Lexington Ave", das an einem ihrer Regale hängt, zeugt von der alten Sehnsucht nach der großen weiten Welt.
    Mauerbau trennt Buchhandlung von vielen Kunden
    "Guten Tag." Die Kunden in Salzwedel, wie Edeltraut Oswalt, sind begeistert. "Das ist ja gerade das Schöne und das Besondere daran, dass der Laden wie aus der Zeit gefallen ist. Die meisten Kunden freuen sich über die alten Dielen, manche sagen, das riecht hier auch ganz anders."
    Eigentlich wollte Deutschlands älteste Buchhändlerin Helga Weyhe nie in Salzwedel bleiben. Die Kleinstadt-Enge habe sie immer bedrückt, erzählt sie. Anfang der 1940er-Jahre beginnt sie in Breslau, Königsberg und Wien Deutsch und Geschichte zu studieren, durch die Kriegswirren kann sie das Studium nicht beenden. 1945 kehrt sie nach Salzwedel zurück, wird Buchhändlerin im Laden ihres Vaters. Der ein großes Gespür gehabt habe, wo man auch in Zeiten des Mangels Bücher herbekam.
    Ende der 50er-Jahre konnte er auch die staatliche Enteignung der privaten Buchhandlung durch das SED-Regime verhindern, erzählt Helga Weyhe. Während sie warm lächelnd, fast keck durch die schmale Lesebrille schaut. "Da muss jemand gewesen sein, der gesagt hat: Da lassen wir die Finger davon. Also haben wir es überstanden."
    Der Mauerbau war für die Salzwedeler Buchhandlung Weyhe ein schwerer Schlag, auch weil man von einem Moment auf den anderen - von einem Großteil der Kunden in Niedersachsen abgeschnitten war. Später mit Beginn des kleinen Grenzverkehrs über die innerdeutsche Grenze hinweg war der Buchladen Weyhe im ostdeutschen Salzwedel - also mitten im Kalten Krieg - sowas wie ein Treffpunkt zwischen Ost und West.
    "Das ist auch ein sehr persönlicher Laden"
    2017: Die Zukunft der Buchhandlung Weyhe steht in den Sternen, eine ganze Tradition vor dem Aus. Denn weil Helga Weyhe ihr Leben lang alleine blieb, gibt es auch keine Nachfahren. Firmennachfolger sind ebenfalls nicht in Sicht. "Leider nicht. Das ist auch ein sehr persönlicher Laden."
    Die Seele, die DNA des 146 Jahre alten Buchladens sollte doch erhalten bleiben, sagt sie noch. Dabei schaut sie fast ein bisschen melancholisch, als wisse sie, dass die Tage der romantischen Buchhandlung Weyhe - der Traum eines jeden Buchliebhabers - in Salzwedel gezählt sind.
    Für die Kunden, aber auch die Stadt Salzwedel ein Trauerspiel. Denn wenn die Buchhandlung Weyhe schließen sollte, geht in der Altmark auch ein Stück Leben verloren. Denn ein Buchladen ist nie nur ein profanes Geschäft, sondern: "Eine Buchhandlung muss immer auch ein Stück Kultur sein."
    Weshalb Helga Weyhe bis heute auch Lesungen organisiert. Einen Traum hätte sie noch, erzählt sie: Eine Lesung mit dem amerikanischen Autor Paul Auster in ihrer kleinen Buchhandlung in Salzwedel. Das wär doch was, sagt die 95-jährige Helga Weyhe fast etwas wehmütig: Deutschlands älteste Buchhändlerin. "Schön, dass Sie hier waren. Tschüss!"