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Deutschtürken
"Wir haben eine Form des Denunziantentums"

Nach den jüngsten Anschlägen in Istanbul erhöht Präsident Erdogan den Druck auf die Kurden. Der Konflikt sei auch in Deutschland zu spüren, sagte der SPD-Politiker Serdar Yüksel im DLF. Es gebe rund 6.000 Spitzel und Agenten der Türkei, die die Szene in Deutschland beobachteten. Diese Art der Verunsicherung und des gegenseitigen Verrates kenne man bisher nur aus der Türkei.

Serdar Yüksel im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Erdogan schwenken am 31.07.2016 in Köln (Nordrhein-Westfalen) türkische Fahnen. Mehrere Tausend Deutschtürken sind zu einer Pro-Erdogan-Demonstration in Köln zusammengekommen
    "Es gibt eine Hotline in Ankara, die man anrufen kann, um Türken, die hier in Deutschland leben, zu denunzieren", sagt Serdar Yüksel. (Oliver Berg, dpa / picture alliance)
    Jürgen Zurheide: Über die Lage der Kurden insgesamt wollen wir mit Serdar Yüksel reden, der Landtagsabgeordnete aus dem nordrhein-westfälischen Parlament, der jetzt am Telefon ist. Guten Morgen, Herr Yüksel!
    Serdar Yüksel: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Yüksel, wir haben gerade gehört, dass Erdogan auf allen Ebenen scharf gegen Kurden vorgeht im eigenen Gebiet, aber auch in den anderen kurdischen Gebieten. Was beobachten Sie? Sie haben intensive Kontakte in diese Regionen. Wie ist im Moment die Lage dort?
    Yüksel: Ja, die Lage ist wirklich fatal und wird dort von Tag zu Tag auch immer fataler und immer schwieriger, um wirklich dort Politik als freigewählte Abgeordnete oder Bürgermeister zu machen. Es sind ungefähr knapp 6.000 Funktionäre der HDP festgenommen. Wir haben gerade von 12 Abgeordneten der HDP gehört. Es sind freigewählte Bürgermeister von 35 Großstädten im Osten der Türkei festgenommen worden, und auch Parteifunktionäre, die dort in der Kommunalpolitik aktiv sind, sind inhaftiert, und die Zahl derer, die weiterhin unter den Repressionen von Erdogan leiden, wird von Tag zu Tag immer größer.
    "Es ist schon ein erklärter Krieg, wenn man die Medien in der Türkei verfolgt"
    Zurheide: Was heißt das für die Stimmung in der Bevölkerung? Am Ende ist es eine Form von Krieg oder ein unerklärter oder zum Teil sogar ein erklärter Krieg? Wie kann man das bezeichnen?
    Yüksel: Es ist schon ein erklärter Krieg, wenn man die Medien in der Türkei verfolgt, die deutlich gleichgeschaltet sind. Also man kann sich das nicht vorstellen. Ich schaue natürlich selbst auch türkische Nachrichten, und wenn Sie die türkischen Nachrichtenkanäle einschalten, dann haben Sie überall, wenn Erdogan oder Binali Yildirim, der Ministerpräsident, spricht, dann wird sofort jegliches Programm unterbrochen und live zu der Veranstaltung geschaltet, wo entweder der Präsident oder der Ministerpräsident reden, und Sie bekommen eine gleichgeschaltete Medienwelt präsentiert, die es vorher in der Türkei nicht gegeben hat. Das ist wirklich sehr, sehr erschreckend, und das ist schon so, dass Rache angekündigt worden ist. Also nicht nur seit dem Anschlag von Besiktas in Istanbul auf Polizisten nach dem Fußballspiel durch die Takbul, schon viel länger, und der ganze Prozess läuft inzwischen seit ungefähr zwei Jahren, wo der Friedensprozess mit den Kurden durch Erdogan selbst einseitig aufgekündigt worden ist und ein offener Krieg im Osten der Türkei, aber auch im Westen der Türkei tobt.
    Zurheide: Und wir hören ja jetzt auch, gestern hat es in Hamburg zum Beispiel die Festnahme eines Menschen gegeben, der offensichtlich für den türkischen Geheimdienst in kurdischen Kreisen Informationen gesammelt hat. Das heißt, diese Auseinandersetzung wird auch auf deutschem Boden getragen, oder? Was beobachten Sie da?
    Yüksel: Ja, bei knapp drei Millionen Türkeistämmigen ist es natürlich nicht verwunderlich, wenn solche Auseinandersetzungen, die in der Türkei geführt werden, sich dann auch hier in Deutschland – leider, muss man wirklich sagen – dann auch verorten. Wir haben rund 6.000 Spitzel und Agenten der Türkei, die hier in Deutschland auch aktiv sind, die die Szene hier auch beobachten. Wir haben eine Form des Denunziantentums, den man sich nicht vorstellen kann. Es gibt eine Hotline in Ankara, die man anrufen kann, um Türken, die hier in Deutschland leben, auch zu denunzieren, ihnen zu sagen, das ist ein PKK-Mann oder das ist ein Fethu-Mann, also Fethullah Gülen, das ist jemand, der gegen Erdogan ist, und sie können sich sicher sein, dass gegen sie ermittelt wird. Also es ist eine Art des gegenseitigen Verrates und einer gegenseitigen Verunsicherung, die in der Türkei den Alltag prägt, die für uns, die demokratisch verfasst in Deutschland leben, undenkbar wäre.
    "Die DITIB ist der verlängerte Arm von Erdogan"
    Zurheide: Und welche Rolle spielt DITIB dabei? Immerhin gibt es ja zumindest erste Hinweise, man schaut dahin, DITIB als Religionsbehörde läuft auch am kurzen Band von Erdogan?
    Yüksel: Ja, es hat mehrere tausend Suspendierungen auch in der DITIB in der Türkei gegeben, also nicht nur Abgeordnete, Bürgermeister, Wissenschaftler, Polizisten festgenommen und eingesperrt worden, sondern auch einige tausend DITIB-Angehörige sind festgenommen und suspendiert worden von ihren Positionen her, und so haben wir im Moment eine DITIB, die absolut gleichgeschaltet ist und die sehr, sehr einseitig die türkische Politik vertreten. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, wenn man feststellt, dass die DITIB der verlängerte Arm von Erdogan aus der Türkei in Ankara ist.
    Zurheide: Was heißt das für das Verhältnis der deutschen Behörden zu DITIB aus Ihrer Sicht? Was müsste man tun, was soll man tun?
    Yüksel: Es muss da schon eine klare Trennung zwischen der Arbeit der DITIB geben und den staatlichen Behörden hier. Wer wirklich annimmt, dass die DITIB tatsächlich für den Integrationsprozess einen Beitrag leisten könnte, der irrt. Das muss ich auch in der Deutlichkeit sagen. DITIB ist im Moment absolut gleichgeschaltet, niemand traut sich in der DITIB irgendwas Kritisches über die Türkei zu sagen, und es ist leider so, wer DITIB an die Schulen zum Beispiel beim Religionsunterricht nach Deutschland holt, der weiß auch, dass im Schlepptau Erdogan dabei ist.
    Zurheide: Das heißt, da ist unser grundsätzliches Konzept völlig falsch gelaufen, was dann nicht nur möglicherweise für DITIB gilt, auch für andere Einflüsse, die von außen über die Religion eigentlich etwas anderes transportieren wollen. Darüber reden wir gerade, oder?
    Yüksel: Definitiv. Also ich bin sehr dafür, die Deutungshoheit der islamischen Religion aus den Hinterhöfen tatsächlich auch in unsere Klassenzimmer zu holen, um Radikalisierung zu verhindern, aber das müssen wir mit hier ausgebildeten Religionslehrern machen, mit deutschen Curricula, und das dürfen wir nicht einer Religionsbehörde, die gleichgeschaltet ist, aus Ankara einräumen.
    Appeasementpolitik beeindruckt in der Türkei niemanden
    Zurheide: Ist es inzwischen in politischen Kreisen angekommen oder was müssen wir da tun, damit sich das verändert?
    Yüksel: Teils, das muss ich wirklich sagen, ist es so, dass viele inzwischen sensibler geworden sind im Umgang mit der Türkei, aber wer meint, an der Appeasementpolitik gegenüber der Türkei und eine – vorsichtig ausgedrückt – Rücksichtnahme gegenüber der türkischen Politik an den Tag zu legen, der wird über die Hürden, die die Türkei selbst antidemokratisch und gegen Menschenrechte gerichtete Politik macht, der wird über das Stöckchen jeden Tag ein bisschen höher springen müssen, und dann muss sich natürlich an der wertegebundenen Politik wie in Deutschland oder auch in Europa natürlich die Frage stellen, bis wohin, und wann ziehen wir mal hier die Notbremse.
    Zurheide: Was heißt jetzt Notbremse ziehen? Das ist ja genau die Debatte: Gespräche über Beitritt zu Europa, zur europäischen Gemeinschaft, ganz aufgeben oder sagen Sie auch, wie Can Dündar oder andere kritische Menschen, die dem Regime kritisch gegenüber stehen, na ja, bloß nicht die Gespräche aufgeben, weil man damit die letzte Einflussmöglichkeit hat, aber es ist ja eine ambivalente Situation?
    Yüksel: Sie haben faktisch über die Beitrittsgespräche keinerlei Einflussmöglichkeiten in der Türkei. Die Kapitel 23 und 24 der Kopenhagener Kriterien, also wo es um Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte geht, das ist nicht das Kapitel, was man wirklich mit den Türken gegenwärtig auch besprechen kann. Ich finde den Entschluss des Europäischen Parlamentes richtig. Es ist ein klares Signal, das habe ich auch in den Nachrichten in der Türkei verfolgt, dass alleine der Beschluss des Europäischen Parlamentes zu einer großen Diskussion geführt hat und dass natürlich Türken sagen, unsere Zukunft liegt natürlich in Europa und nicht in den arabischen oder im russischen oder pazifischen Raum, wenn man die Shanghai-Strategie von Erdogan sich anschaut, und deshalb kritisiere ich auch die Außenminister, die in Brüssel zusammengekommen waren und den Beschluss des Europäischen Parlamentes gänzlich ausgeblendet haben. Das ist nicht die Aufgabe der europäischen Außenminister, die legislative Entscheidung hinten ranzustellen und so zu tun, als ob da nichts gewesen wäre. Wer wirklich glaubt, dass Erdogan die Sprache versteht, die die europäischen Diplomaten sprechen, irrt.
    Zurheide: Das heißt, Herr Kurz ist da offensichtlich näher dran.
    Yüksel: Definitiv. Also Steinmeier irrt, dass sein … Ich schätze ihn sehr, und ich glaube, dass das ein hervorragender Bundespräsident sein wird, den wir dann im Februar zu wählen haben, aber in der Frage der Türkei irrt er, dass seine Appeasementpolitik gegenüber Erdogan, sie wird da nicht so verstanden, sie wird da eher als Rücksichtnahme auf die gegenwärtigen politischen Entscheidungen gewertet und nicht irgendwie, wenn Erdogan mit Steinmeier redet oder mit anderen europäischen Politikern, wenn da gesagt wird, wir sind beunruhigt oder wir sind irritiert, da sind in der Übersetzung, wenn das simultan Dolmetscher übersetzen, dann sind das auch noch tatsächlich Dinge, die beeindrucken in der Türkei niemanden.
    Zurheide: Serdar Yüksel war das mit einer klaren Botschaft, Landtagsabgeordneter aus Nordrhein-Westfalen. Herr Yüksel, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.