Ein großer, gebrechlicher Musiker sitzt zusammengesunken am Bordstein im Pariser Viertel Montmartre und versucht, sich an eine Melodie zu erinnern:
"Ich kann's nicht mehr richtig. Ich habe den Text vergessen."
Dale Turner heißt der Saxofonist in dem Film "Round Midnight", Dexter Gordon spielte ihn als Rolle seines Lebens. Auch Dexter Gordon kämpfte gegen seine Süchte, auch er war immer elegant gekleidet, und konnte seine Songs am besten spielen, wenn er zur Melodie die Worte kannte.
"Das Großartige am Jazz ist, dass es eine so lebendige Musik ist, die in der Lage ist, sich anzupassen und das Beste aus allen anderen Musikrichtungen in sich zu vereinen: ob Klassik, Soul, Beat, Pop oder Rock. Das ist wirklich der Grund, warum der Jazz überlebt hat. Wenn Du nicht mit Herzblut dabei bist, bist Du in diesem Geschäft falsch."
Dexter Keith Gordon. Am 27. Februar 1923 wurde er in Los Angeles geboren, sein Vater war Arzt und betreute viele Instrumentalisten des frühen Jazz. Als er den siebenjährigen Dexter zu einem Konzert von Duke Ellington mitnahm, entschied der Junge, dass er Musiker werden wollte. Lernte erst Klarinette, später Saxofon und spielte bereits als junger Mann mit allen Großen des neuen Jazz: mit Lionel Hampton, Louis Armstrong, Billy Eckstine, Charlie Parker.
"Ich hatte das Glück, dass ich genau in dieser spannenden Zeit anfing, Musik zu machen: als aus dem Swing der Bebop wurde."
Rauchen, trinken, sich die Seele aus dem Leib spielen
Long Tall Dex wurde sein Spitzname, weil der fast zwei Meter große Mann alle anderen Musiker überragte. Er hat keinen eigenen Stil erfunden, doch er bewies Charakter in seinem Spiel: dem Swing war er harmonisch voraus, dem Bebop rhythmisch leicht hinterher. Geschmeidig und lässig waren sein Ton wie sein Auftreten. Ein Hipster: immer im Anzug, immer mit Hut. Eine brennende Zigarette klemmte er sich an den Hals seines Instruments, dann kamen Drogen dazu: Alkohol und Heroin. Nach einem Gefängnisaufenthalt flüchtete Dexter Gordon nach Europa, lebte erst in Paris, dann in Kopenhagen, wurde vom Publikum geliebt und verlieh der dänischen Jazzszene Glanz. Doch weil ihm das große Publikum fehlte, kehrte er Mitte der 70er-Jahre nach New York zurück und feierte ein überwältigendes Comeback - bis ihn seine Drogensucht wieder einholte.
Seinen letzten großen Auftritt ermöglichte ihm der französische Regisseur Bertrand Tavernier: als er 1985 den schlaksigen Hünen vor die Kamera holte. Das Drehbuch war Dexter Gordon auf den Leib geschrieben:
"Ja, ich bin müde. Mich interessiert überhaupt nichts mehr. Außer Musik. Ich wollte, ich könnte mich ausruhen. Aber wenn ich schlafe, kommen die Träume. Es geht immer irgendwie um Musik. Und ums Saxofon. Um die Sounds, die die Musik weiter treiben, immer weiter und weiter. In manchen Nächten hab ich gearbeitet, gespielt, und dann ist die Nacht vorbei, ich schau mein Mundstück an, und es ist voller Blut, und ich hab nichts davon gemerkt. Mein Leben ist die Musik, meine Liebe ist die Musik. Und das 24 Stunden am Tag. Verstehen Sie das?"
1986 erschien der Film: "Round Midnight", eine Hommage an den Jazz, an all die Jazzmusiker, die, rauchend, trinkend und: sich die Seele aus dem Leib spielend, die Stunden um Mitternacht zum Leben erweckten. Und: ein Denkmal für Dexter Gordon. Am 25. April 1990 starb der große Tenorist in einem Krankenhaus in Philadelphia an Kehlkopfkrebs - vier Jahre nach seinem Tod im Film.