Ina Plodroch: Raus aus dem Alltag, den Krieg, die Trümmer vergessen und sich eine heile Welt vorgaukeln lassen. Das war die Rolle des Kinos 1949, in dem Jahr, als das Deutsche Institut für Filmkunde gegründet wurde. Heute heißt es Deutsches Filminstitut & Filmmuseum – kurz DFF - in Frankfurt und feiert heute sein 70-jähriges Bestehen - Kulturstaatsministerin Monika Grütters gratuliert höchstpersönlich, auch zum neuen DFF Fassbinder Center, das heute gleich mit eröffnet wird. Das heißt: Der gesamte Nachlass des wohl bedeutendsten deutschen Regisseurs steht nun in Frankfurt. Wir haben vor der Sendung mit Ellen Harrington gesprochen – sie leitet seit Eineinhalb Jahren das DFF. Frau Harrington, Sie kommen aus den USA, erinnern sie sich noch, wann haben Sie haben Fassbinder entdeckt?
Ellen Harrington: Ja, das weiß ich noch. Als ich in New York das Fach Kino studierte, traf ich auf viele Regisseure, die global wichtig sind, aber für einen typischamerikanischen Teenager nicht so einfach zu sehen waren. Rainer Werner Fassbinder war sicherlich einer der ersten deutschen Autoren, die ich durch mein Studium kennenlernte.
"Die Filme wirken nicht veraltet"
Plodroch: Was macht ihn denn heute noch so reizvoll, also was könnten sich junge Filmemacher heute noch von Fassbinder abschauen?
Harrington: Für viele Menschen außerhalb Deutschlands, aber auch innerhalb Deutschlands, ist er so eine einzigartige Stimme für seine Zeit und er machte eine große Anzahl wichtiger Filme, die viel über Deutschland in den 70er-, 80er-Jahren aussagen, aber auch über die Zeit nach dem Krieg, die Rolle der Frau, und zeichnete ein ganz anderes Bild von Deutschland verglichen mit dem typischen Leben in den USA. Die Filme wirken nicht veraltet, sie wirken direkt und frisch, egal welchen Film man schaut.
Plodroch: Die Präsidentin der Rainer Werner Fassbinder Foundation, Juliane Maria Lorenz-Wehling, sagte über Fassbinder: "Er braucht keine Denkmäler." Seine Filme halten die Erinnerung an ihn auf der ganzen Welt wach. Aber wie lebendig ist die Erinnerung denn wirklich? Amazon Prime hat ein paar – aber Netflix zum Beispiel kennt keinen Rainer Werner Fassbinder.
Harrington: In Bezug auf historische und künstlerische Filme ist das das Thema, wo sie ausgestrahlt werden. Aber es gibt viele andere Dienste, die Filme wie die von Fassbinder zeigen. Egal ob Netflix da jetzt ein bisschen mehr auf die historische Schiene einsteigt oder nicht - ich hoffe, das werden sie - sehe ich junge Leute, die angezogen werden von Fassbinder-Filmen und sie als sehr direkt empfinden, wenn sie sie sehen können.
Plodroch: Und junge Leute finden Fassbinders Filme dann in ihrem Center?
Harrington: Mit dem Fassbinder-Center hoffen wir Studenten, Wissenschaftler und Interessierte an unsere Sammlung heranzuführen und natürlich haben wir das ganze Originalmaterial von Fassbinders Produktion. Natürlich haben wir auch frühe Film, Filme aus dem letzten Jahr, eine X-Filme-Sammlung, Filme von Volker Schlöndorff, Arthur Brauner und so weiter. Also viel, viel Material, mit dem wir hoffen die Geschichte des Kinos lebendig zu machen. Und wir stellen fest, dass Menschen zurückgehen, bekannte Filme wiederentdecken oder unbekannte Filme entdecken möchten.
Plodroch: 70 Jahre DFF: Die Situation des Films in Deutschland ist ja ganz anders als damals, oder? Dass er nicht nur unterhält, musste der Film erst beweisen und zeigen: Das ist auch Kultur. Aber heute: Jugendliche gehen immer seltener ins Kino, wie Studien gezeigt haben. Wie hat sich ihr Auftrag in den letzten 70 Jahren gewandelt? Was ist also die aktuelle Herausforderung für das DFF?
Harrington: Unsere Aufgabe war immer, Originalmaterial zu sammeln und zu bewahren, egal ob ausgestrahlt oder hergestellt in Deutschland, auch Material von Produktionsdesignern, Direktoren, Kostümdesignern und allen, die mit Kino zu tun haben. Das möchten wir mit der Öffentlichkeit teilen. Mit dem Museum wollen wir alle Generationen erreichen, wir haben dynamische Programme für Kinder ab fünf, wir haben Wanderausstellungen, die sehr populär sind, wir haben eine große Online-Präsentation. Wie haben drei Millionen Online-Besucher jedes Jahr und viele von ihnen sind junge Leute. Wir versuchen dahin zu gehen, wo die Leute sind, teilen, was wir haben und zu einer Kommunikation mit unserer Sammlung einzuladen, mit unseren Experten und unseren kuratorischen Angeboten.
"Junge Leute sind daran interessiert, frühe Filme wiederzuentdecken"
Plodroch: Also Sie sagen, junge Leute sind an Kino interessiert?
Harrington: Ich glaube, die Leute sind immer am Kino interessiert und viele junge Leute sind daran interessiert, frühe Filme wiederzuentdecken, oder neue Filme zu sehen. Aber Angesicht der Situation auf dem Markt gibt es viele, die nicht mehr ins öffentliche Kino gehen. Es ist in unsere Verantwortung, kulturell jeden interessiert Menschen zu erreichen und ihm zu zeigen, dass das eine großartige Kunstform ist und wir Zuschauer aufbauen. Und unsere Besucherzahlen sind um 20 Prozent gestiegen im letzten Jahr und das Kino um 9 Prozent. Ich nehme das als gutes Zeichen, dass der Trend anders herum geht.
Plodroch: Wie sehen Sie den deutschen Film heute? Das Image ist ja eher schlecht – eigentlich auch schlechter, als es sein müsste.
Harrington: Ich sehe den deutschen Film ein wenig auf der auf der Suche nach einer Seele, in dem Sinne wie Filme finanziert werden und was die Menschen sehen wollen. Der Kartenverkauf in Deutschland für deutsche Filme steigt nicht, und deutsche Filme bekommen nicht mehr soviel internationale Aufmerksamkeit oder Beachtung auf Festivals, wie früher. Das ist vielleicht eine Chance für die Industrie für eine Art Neustart. Ich weiß, es wird viel darüber geredet welche Filme finanziert werden sollten und wie die gefördert werden können. Aber jedes Jahr gibt immer wundervolle, wundervolle Filme, und auch bei dem internationalen Oscar-Wettbewerb ist in den letzten Jahren meistens ein starker deutscher Film dabei. Filme von einzigartigen Künstlern werden gesehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.