Stefan Heinlein: Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus – so bis 1989 die offizielle Bezeichnung für den 1. Mai in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern. Aufwendige Paraden und Kundgebungen zur Erinnerung an die Tradition der internationalen Arbeiterbewegung, staatlich verordnet und organisiert.
Auch im Westen hat der 1. Mai eine lange Tradition. Der Tag der Arbeit ein gesetzlicher Feiertag; für die meisten Bundesbürger jedoch heute mittlerweile vor allem eher ein Tag ohne Arbeit, eine Gelegenheit, die Seele baumeln zu lassen.
Dennoch: Die Gewerkschaften wollen den 1. Mai morgen nutzen, um möglichst viele Menschen auf die Straßen zu bringen. "Europa. Jetzt aber richtig!" lautet das bundesweite Motto der Kundgebungen. Die zentrale Veranstaltung des DGB morgen in Leipzig; Hauptredner dort ist der Bundesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann. Guten Morgen, Herr Hoffmann!
Reiner Hoffmann: Guten Morgen, Herr Heinlein.
"Immer noch ein herausragender Tag"
Heinlein: Wie wichtig ist der Tag der Arbeit heute noch für die deutschen Gewerkschaften?
Hoffmann: Das ist immer noch ein herausragender Tag, wo wir die Gelegenheit nutzen, auf Probleme in der Arbeitswelt, Probleme aber auch im gesellschaftlichen Zusammenleben deutlich zu machen und unsere Forderung, unsere Position von einer besseren Arbeitswelt deutlich in die Öffentlichkeit zu tragen.
Heinlein: Nun ist aber, Herr Hoffmann, der 1. Mai für die meisten Bundesbürger in erster Linie ein Tag ohne Arbeit, ein Feiertag. Ich sagte es bereits. Warum gehen dann immer weniger Arbeiter und Angestellte mit den Gewerkschaften gemeinsam auf die Straße morgen?
Hoffmann: Das hat sicherlich viele Gründe. Es ist klar, dass nicht mehr wir solche Massendemonstrationen haben wie in Zeiten des Staatssozialismus, worauf im Anspieler von Ihnen hingewiesen wurde. Aber ich gehe davon aus, dass wir morgen auf über 400 Veranstaltungen gut eine halbe Million Menschen motivieren werden, mit uns gemeinsam für eine bessere Arbeitswelt und vor allen Dingen vier Wochen vor der Europawahl für ein anderes Europa, für ein sozialeres Europa zu demonstrieren.
Heinlein: Dennoch: Haben Sie eine Erklärung, dass der DGB und auch die Einzelgewerkschaften nicht nur weniger Teilnehmer am 1. Mai auf die Straße bringen, sondern auch seit Jahren ja konstant immer mehr Mitglieder verlieren? Was ist der Grund für diese Entwicklung?
Hoffmann: Bei den Mitgliedern, da haben Sie auf der einen Seite recht, dass wir in den letzten Jahren deutlich verloren haben. Aber wenn ich mir die Situation in den letzten drei, vier Jahren anschaue, sind wir außerordentlich stabil. Das kann aber überhaupt nicht zufriedenstellend sein, sondern wir erleben, dass wir natürlich eine Ausdifferenzierung von Interessenslagen haben, Pluralisierung in der Gesellschaft stattfindet, so dass Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht, wie es bei meiner Jugend noch der Fall war, zum Traditionsbestand gehört. Wenn man eine Ausbildung machte, wurde man Gewerkschaftsmitglied; das war völlig selbstverständlich. Da hat sich heute kulturell einfach eine Menge geändert.
Wir erleben aber auch, dass Menschen vielfach in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Teilzeitbeschäftigte deutlich weniger Chancen haben, sich gewerkschaftlich zu organisieren, weil sie beispielsweise nicht wissen, wie lange haben sie ihren Arbeitsplatz noch, oder weil die Einkommen so gering sind, dass Menschen natürlich auch auf ihr Einkommen, ihren Euro achten müssen. Wir haben aber auch Probleme bei Höherqualifizierten, die der Auffassung sind, sie könnten die Interessen für sich schon alleine am besten meistern, bräuchten keine Gewerkschaften. Es gibt ein ganzes Set an Ursachen. Insgesamt haben wir ganz viel Luft nach oben. Die Kritik ist richtig und wir sind uns diesen Herausforderungen durchaus bewusst, wenngleich die Situation in den letzten Jahren außerordentlich stabil war.
Tarifverträge so was wie ein öffentliches Gut
Heinlein: Es ist ja so, Herr Hoffmann: Egal ob Gewerkschaftsmitglied oder nicht, am Ende jeder Tarifrunde bekommt ja jeder die ausgehandelten Tariferhöhungen. Ist das ein möglicher Hebel, um mehr Mitglieder zu werben? Wird es da Zeit aus Ihrer Sicht, daran etwas zu ändern?
Hoffmann: Natürlich machen wir immer wieder deutlich, dass Tarifverträge so was wie ein öffentliches Gut sind. Sie bescheren den Gewerkschaftsmitgliedern nicht nur höhere Löhne, sondern die Arbeitgeber zahlen höhere Löhne, die wir tarifvertraglich aushandeln, allen Beschäftigten. Hier kann ich mir gut vorstellen, dass wir Bonus für Gewerkschaftsmitglieder durchsetzen, weil sie sind es letztendlich, die dazu sorgen, dass Menschen, die unter tarifvertraglichen Bedingungen arbeiten, 20, 25 Prozent mehr Lohn bekommen, 30 Tage Urlaub haben, deutlich kürzere Wochenarbeitszeiten haben.
Wir haben aber auch das Problem, Herr Heinlein, dass viel zu viele Arbeitgeber sich ihrer sozialen Verantwortung entziehen. Nur noch gut 52, 54 Prozent der Beschäftigten in Deutschland fallen unter den Schutz von Tarifverträgen. Hier müssen wir dringend nachsteuern, dass wir die Tarifbindung wieder erhöhen. Hier sind insbesondere die Arbeitgeber gefragt, dass sie endlich Arbeitgeberverbänden beitreten, oder dass die Praxis der Arbeitgebermitgliedschaften ohne Tarifbindung, dass man das korrigiert, damit wieder mehr Menschen unter den Schutz von Tarifverträgen fallen. Das wird uns nicht zwangsläufig die Mitgliederscharen in die Gewerkschaftshäuser treiben, aber es wäre auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag, den sozialen Zusammenhalt in unserem Land deutlich zu erhöhen. Dafür stehen Gewerkschaften und wir haben in der Tat eine Situation, dass wir in vielen Meinungsumfragen immer ein absolut positives Image bekommen. Die Menschen sagen, Gewerkschaften sind wichtig, sie sind sehr wichtig. Aber der Schritt, denen auch beizutreten, das ist heute keine so große Selbstverständlichkeit, wie das in den 70er-, 80er-Jahren noch der Fall war. Daran müssen wir arbeiten.
Heinlein: Herr Hoffmann, das war eine ganze Latte an Forderungen, die Sie jetzt in Ihrer Antwort bereits gemacht haben mit Blick auf die Tarifrunde 2019. Die ist ja noch in den Anfängen. Was erwarten Sie denn von den anstehenden Runden? Wird es da hart zur Sache gehen? Wird es harte Tarifrunden geben mit Warnstreiks und Kundgebungen für die Gewerkschaften, auch vielleicht, weil sie Muskeln zeigen müssen, um zu zeigen, wir haben Schlagkraft, kommt in die Gewerkschaft, nur gemeinsam können wir es mit den Arbeitgebern aufnehmen?
Hoffmann: Das hängt ja in erster Linie von den Arbeitgebern ab, in welcher Weise sie bereit sind, sich mit uns am Verhandlungstisch zu einigen. Immer erst dann, wenn es keine Bewegung auf der Seite der Arbeitgeber gibt, dann kommen Warnstreiks zustande, um den Druck deutlich zu erhöhen. Ultima Ratio ist dann, wenn es keine Einigung am Verhandlungstisch gibt, dass man dann auch streikt. Aber so weit sind wir gar nicht. Wir haben eine ganze Reihe von Tarifrunden im letzten Jahr hinter uns. Ich gehe davon aus, dass bei den aktuellen Tarifrunden beide Aspekte, sowohl quantitativ, höhere Entgelte, als aber auch die Frage von Arbeitsbedingungen eine Rolle spielt. Wir haben einen schwelenden Konflikt beispielsweise bei den Gebäudereinigern. Seit Monaten weigern sich die Arbeitgeber, hier im Rahmen des Manteltarifvertrages anständige Regelungen zu finden, dass auch Gebäudereiniger Weihnachtsgeld erhalten. Das ist ein Unding! Für viele Branchen ist das Weihnachtsgeld tarifvertraglich geregelt und eine Selbstverständlichkeit. Das ist so ein Beispiel, wo ich sage, da müssen die Arbeitgeber sich schleunigst mal bewegen, dass auch da Menschen die gleichen Bedingungen haben, wie es in anderen Branchen schon lange üblich ist.
Robuste Arbeitsmarktlage und stabile wirtschaftliche Situation
Heinlein: Herr Hoffmann, nun mehren sich ja die Anzeichen, dass sich die Konjunktur in den kommenden Monaten deutlich abschwächt. Die Prognosen werden deutlich nach unten korrigiert. Werden die Gewerkschaften darauf reagieren und ihre Forderungen nach unten korrigieren, nach unten schrauben?
Hoffmann: Das ist immer das, was die Arbeitgeber sagen. Wir haben nach wie vor erst mal eine ganz robuste Arbeitsmarktlage und eine stabile wirtschaftliche Situation. Wir sehen externe Probleme, Schwierigkeiten: Welche Folgen hat die Handelspolitik der USA? Welche Folgen wird der Austritt der Briten aus der Europäischen Union haben? Das kann man zurzeit nur ganz schlecht einschätzen. Umso wichtiger ist es, dass wir in unseren Tarifrunden dafür sorgen, dass wir die Binnennachfrage stabilisieren und die Konjunktur nicht einbricht in dem Maße, wie sie durch externe Entwicklungen möglicherweise gefährdet ist. Aber ich bin da ganz zuversichtlich, dass wir in diesem als auch im nächsten Jahr noch eine sehr stabile konjunkturelle Entwicklung haben werden, und wir werden unseren Beitrag dazu leisten, dass diese Stabilität auch erhalten bleibt und wir die Binnennachfrage stärken. Das ist ein Beitrag zur Stabilisierung der Konjunktur, das ist dringend erforderlich, und ist auch ein Beitrag dazu, dass wir im Hinblick auf die wirtschaftlichen Beziehungen in den europäischen Nachbarländern für Stabilität sorgen, indem eine stabile Binnennachfrage auch unsere Importe steigern wird. Auch das ist notwendig, auch dazu werden wir beitragen.
Heinlein: Eine letzte Frage noch mit der Bitte um eine kurze Antwort, Herr Hoffmann. "Europa. Jetzt aber richtig!" – so ist das Motto Ihrer Kundgebungen morgen. Das blickt natürlich auf die Europawahl. Der DGB, Herr Hoffmann, steht nicht auf dem Wahlzettel. Welche deutsche Partei macht es denn aus Sicht des DGB richtig mit Europa?
Hoffmann: Wir sind angetreten, gerade jetzt am 1. Mai, aber auch bis zum 26. Mai, bis zu den Wahlen des Europaparlaments, dass wir die Menschen motivieren wollen, geht zur Wahl. Europa ist für uns alle viel zu wichtig, als dass es scheitern darf. Europa hat uns Wohlstand gebracht, hat Frieden gesichert. Aber Europa ist in einer extrem schwierigen Situation und da kommt es darauf an, dass alle Demokraten zusammenstehen und sagen, wir wählen demokratische Parteien, proeuropäische Parteien. Rückkehr in nationale Kleinstaaterei, in Protektionismus oder Nationalismus ist überhaupt gar keine Perspektive. Deshalb unser Angebot "Europa. Jetzt aber richtig!" - die Webfehler beispielsweise der Europäischen Währungsunion korrigieren, die soziale Dimension stärken. Dann sind wir auf dem richtigen Pfad.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.