Gerhard Schröder: Herr Sommer, nach zwölf Jahren an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes gehen Sie in den Ruhestand. Zwölf Jahre, die für die Gewerkschaften auch turbulente Jahre waren. Was überwiegt jetzt zum Abschied: Erleichterung, die Bürde des Amtes los zu sein oder auch ein bisschen Wehmut über den Verlust von Einfluss und Macht?
Michael Sommer: Also Erleichterung wäre falsch gesagt, weil ich habe das Amt gerne ausgeübt. Es hat auch bei allem Unbill, den es gab, Spaß gemacht. Es waren für mich zwölf interessante Jahre, schöne Jahre, die ich ohne die Gewerkschaftsbewegung so nie hätte erleben können. Das ist der eine Teil. Der andere Teil ist, die Verantwortung für die Repräsentanz und für die Politik der Gewerkschaften sozusagen in neue Hände zu geben, ist auch ein Stück Erleichterung. Weil es ist schon so, man geht mit den Problemen ins Bett und man steht mit ihnen auf. Wie es dann am Montagmorgen sein wird, wenn mein Nachfolger gewählt wird, das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Aber schauen wir mal.
Schröder: Keine Sorge, in ein schwarzes Loch zu fallen, mit der vielen freien Zeit nichts anfangen zu können?
Sommer: Nein, ich habe ja das ein oder andere noch zu tun. Also ich freue mich schon auf die Arbeit bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, wo ich jetzt stellvertretender Vorsitzender bin. Es gibt noch das ein oder andere, aber es ist eben so. Das, was ich jetzt machen werde, habe ich früher neben dem Job des DGB gemacht. Und ich erhoffe mir schon sehr viel mehr freie Zeit und Muße.
"Ich sage mir: 'Du kannst weiter in den Spiegel schauen'"
Schröder: Sie sind mit sich im Reinen?
Sommer: Ja. Wirklich Ja. Deshalb im Reinen, weil ich weiß, dass ich in den zwölf Jahren nicht alles richtig gemacht habe, aber zum Schluss doch mit einer Bilanz gehe, wo ich vor mir selbst sage: "Du kannst weiter in den Spiegel schauen!"
Schröder: Da hat ja die Große Koalition auch einiges mit beigetragen …
Sommer: Beide Große Koalitionen, wenn Sie so genau wollen.
Schröder: Ja, aber jetzt, wenn wir die letzte nehmen, der Mindestlohn und die Rente mit 63 sind auf dem Weg. Hätten Sie sich schönere Abschiedsgeschenke vorstellen können?
Sommer: Ach, na ja, Geschenke sind es ja nicht. Das ist ja ein schwer erkämpftes Werk, wenn man so will. Beim Mindestlohn war es so, dass ich mir völlig klar war, nach der Kampagne, die wir gefahren haben über acht, zehn Jahre, zu sagen: Wir brauchen den gesetzlichen Mindestlohn. Und wir haben eine Zustimmungsrate von 85 Prozent in der Bevölkerung – auch in den konservativen Parteien, auch selbst bei der FDP über 70. Da war mir klar, der Mindestlohn wird kommen. Er ist nicht ein Geschenk, sondern der ist von uns erkämpft. Bei der Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren ist es so, dass das sozusagen das Friedensangebot der SPD an die organisierte Arbeitnehmerschaft ist. Und auch das hat ja sehr viel damit zu tun, dass die SPD gemerkt hat, gerade die Rente mit 67 war das Aufregerthema in den Betrieben. Vielleicht noch mehr als manches andere, auch mehr als Hartz IV, nach meiner Einschätzung. Und Sigmar Gabriel war klug genug, dort den Hahn umzulegen. Und von daher sage ich: Ja, das ist dann schon gut, wenn man das kriegt, wenn man geht. Aber es sind keine Geschenke.
Schröder: Kritiker sagen, dass es ein Geschenk an die organisierte Arbeitnehmerschaft ist – wie Sie es auch sagen –, an ohnehin gut abgesicherte Facharbeiter zum Beispiel, die 45 Jahre gearbeitet haben, eine ordentliche Rente bekommen – bezahlen müssen das aber nachrückende Generationen. Ist das gerecht?
Sommer: Also erst mal reden wir über Menschen, die 45 Jahre in die Rentenkasse einbezahlt haben. Denn das ist ja nicht so, dass jeder die Rente mit 63 bekommen soll, abschlagsfrei, sondern nur diejenigen, die 45 Jahre in die Versicherung einbezahlt haben. Entweder direkt oder dass Zeiten der Arbeitslosigkeit anerkannt werden. Und das ist gerecht, nach einer solchen Lebensleistung zu sagen: 'Dann kannst du auch mit 63 gehen, weil du hast 45 Versicherungsjahre hinter dir.‘ Dazu kommt noch, dass ja auch da die Treppe – wie bei der 67er Rente – so langsam hochgeht auf 65. Und was wir wollen ist auch, dass in Zukunft mögliche Zeiten von Arbeitslosigkeit – die wir uns alle nicht wünschen, aber die wir auch nicht ausschließen können – dann tatsächlich auch bei der Rentenberechnung mit angefasst werden, damit man sagt: 'Ja, wenn jemand so eine Arbeitsbiografie hinter sich hat, dann ist es nur gerecht, wenn er dann abschlagsfrei gehen kann.'
"Niemand zwingt Arbeitgeber dazu, Leute mit 61 auf die Straße zu setzen"
Schröder: Die Wirtschaft aber wiederum warnt, dass hier ein neues Tor geöffnet wird, dass die Rente mit 61 dann schon möglich ist, wenn Beschäftigte dann in die Arbeitslosigkeit gehen und dann mit 63 in den vorzeitigen Ruhestand abschlagsfrei. Droht hier eine weitere Frühverrentungswelle?
Sommer: Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, an meinem allerletzten Interview nicht allzu laut zu werden, aber an der Stelle muss ich schon sagen: Ich halte das für eine unglaublich dumme und dreiste Argumentation! Das sind die gleichen Leute, die über Jahrzehnte dafür gesorgt haben, dass die Alten nicht im Erwerbsleben blieben, dass sie sich von den alten Belegschaften getrennt haben, die dafür gesorgt haben, dass es olympiareife Mannschaften gibt und die jetzt plötzlich im Zuge des demografischen Wandels das erkennen. Niemand zwingt Arbeitgeber dazu, Leute mit 61 auf die Straße zu setzen. Niemand zwing Personalchefs dazu, Frühverrentungsprogramme zu fahren. Das sind nicht wir, das sind die Arbeitgeber! Und um dem vorzubeugen, haben wir auch der Bundesregierung gesagt: Wenn die das machen, dann sollen sie auch bitteschön dafür zahlen, dann sollen die Sozialversicherungskosten einbezahlen.
Schröder: Stichwort „Erstattungspflicht“, was die Arbeitsministerin will.
Sommer: Was die Arbeitsministerin völlig zu Recht sagt. Weil es waren doch nicht wir, die dann im Arbeitsministerium angerufen haben und gesagt haben: ‘Oh, wir freuen uns darauf, Leute früher loswerden zu können“ – das waren doch Personalchefs von großen Konzernen. Und denen zu sagen: 'Pass mal auf, ihr kriegt das nicht für billig!“ Und: "Wir wollen, dass die Leute mit 63, nach 45 Versicherungsjahren gehen können, aber wir wollen doch nicht sozusagen die noch mal in Arbeitslosigkeit schicken vorher.“ Das ist doch nicht ein Bild von Arbeit, was wir haben. Das ist doch ein Bild, was einige Unternehmer und einige Arbeitgeber haben. Aber das ist doch nicht das Gewerkschaftsbild.
Schröder: Die Bundesregierung selbst schätzt, dass durch die Rente mit 63 50.000 Beschäftigte zusätzlich mit 63 in die Rente gehen werden. Das sind Fachkräfte, die dann in den Betrieben fehlen werden.
Sommer: Ja, das ist so. Aber andererseits sind das auch Fachkräfte, die 45 Jahre lang im Zweifel ihren Betrieben treu gedient haben und auch Menschen, die dann nicht mehr können und die dann auch sagen: Es ist dann auch genug. Und denen es wahrscheinlich ähnlich geht wie mir. Die sagen: 'Ja, ich habe jetzt viel gearbeitet in meinem Leben, und jetzt möchte ich von den Jahren, in denen ich noch einigermaßen gesund bin, auch etwas haben.' Und ich kann das nur nachvollziehen, dass man sagt: 'Nach 45 Jahren ist es dann auch genug.' Gerade in einer Arbeitswelt, die immer hektischer wird, die immer druckvoller wird, wo Arbeitshetze und Arbeitsdruck zugenommen haben, dass da Menschen nach 45 Versicherungsjahren sagen: 'Das war es dann', das halte ich für richtig. Und ich glaube auch nicht, dass man die Fachkräftelücke damit füllen kann, indem man sagt: 'Bleibt mal länger drin.' Das ist der eine Teil. Der zweite Teil ist – wenn ich das noch sagen darf –, ich hoffe ja, dass wir endlich mal, wenn wir das Thema abgeschlossen haben, dieses Rentenpaket, dann mal zu einer wirklich vernünftigen Diskussion in diesem Land kommen über die Frage: Was ist denn eigentlich ein wirklich gutes, zukunftsweisendes Modell, um in die Rente zu gehen?
Sommer begrüßt Diskussion über flexiblen Renteneintritt
Schröder: Wie lautet Ihre Antwort?
Sommer: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Menschen gibt, die nicht mehr können und denen man garantieren muss, dass sie auch vorher mit einigermaßen guten Bedingungen rausgehen können. Und dann gibt es Menschen, die können wesentlich länger, die wollen wesentlich länger und denen würde ich dann auch die Möglichkeit geben, über 65 oder über 67 hinaus zu arbeiten. Dann allerdings nicht mit der Maßgabe, dass die Arbeitgeber die Rentenversicherungsbeiträge sparen, sondern mit der Maßgabe, dass die, die dann länger machen, auch dafür was dann für die Rente danach haben. Das ist das, was wir zum Beispiel als „Finnisches Modell“ haben. Und ich begrüße ausdrücklich, dass wir jetzt langsam anfangen, so eine Diskussion zu führen, über Flexibilität nach vorne und nach hinten.
Schröder: Wo ist das Problem? Das könnte man doch einfach regeln, oder?
Sommer: Nein, so einfach ist es nicht. Weil natürlich sofort die Ersten, die kommen und sagen: 'Macht nach hinten auf', dann sagen: 'Aber dann sollen die Arbeitgeber nicht mehr mehr ihre Sozialversicherungsbeiträge bezahlen.' Und dann würde das dazu führen, dass wir einen Drehtüreffekt kriegen nach dem Motto: Der ist dann billiger, weil er älter ist und keine Sozialversicherungsbeiträge mehr zahlt und damit die Bruttolohnkosten geringer werden. Also da sind noch ein paar Probleme zu lösen. Aber immer alles zu seiner Zeit. Und jetzt machen wir das Rentenpaket fertig und dann sollten wir uns über neue Formen von Flexibilität unterhalten – wofür ich sehr bin, die Gewerkschaften übrigens auch. Nur, wir müssen erst mal die Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen. Wenn die aus der Welt geschafft sind, dann können wir uns wirklich neuen Fragen stellen.
Schröder: Kommen wird auch der Mindestlohn, allerdings mit Ausnahmen, zum Beispiel für Jugendliche oder Langzeitarbeitslose. Das gefällt Ihnen nicht. Kritiker – zum Beispiel aus der Linkspartei – sagen: Das Modell, das die Arbeitsministerin jetzt plant, das ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Haben die recht?
Sommer: Na ja, offensichtlich haben bestimmte Leute in der Linkspartei schon lange keine Schweizer Käse mehr angeguckt. Dann würden sie wissen, dass der mehr als zwei Löcher hat. Also es handelt sich um zwei Löcher, die uns wehtun, die wir auch nicht akzeptieren. Ich halte sowohl die Altersbegrenzung nach unten mit 18 für falsch. Sie war ein Kompromiss zum Schluss in der Bundesregierung, weil es ja Kreise gab, die über 21 diskutiert haben, wo wir dann einen totalen Drehtüreffekt zulasten junger Leute gehabt hätten oder sogar 25. 18 halte ich für falsch, und auch unsere Jugend für falsch, und wir werden auch im parlamentarischen Verfahren dagegen vorgehen. Gänzlich unerträglich läuft es, meines Erachtens, mit Blick auf die Langzeitarbeitslosen. Wer sagt eigentlich, dass Langzeitarbeitslose, nur weil sie nicht einer Mindestlohnregelung unterliegen, tatsächlich einen Job kriegen? Das ist, erstens, eine wirklich völlig unbewiesene Behauptung. Zum Zweiten, selbst wenn es so wäre, warum müssen die Leute noch mal bestraft werden? Nach dem Motto: 'Du warst lange langzeitarbeitslos, du warst lange in Hartz IV, du darfst jetzt raus, gnädigerweise, und dann geben wir die erste mal einen geringeren Lohn.' Ich halte das wirklich für menschenverachtend und für diskriminierend. Und ich glaube übrigens auch, dass es mit …
Schröder: Aber wäre es nicht auch die Möglichkeit, ihnen eine Chance zu geben?
Sommer: Wenn man den Menschen hätte eine Chance geben wollen, dann hätte man das heute machen können. Es wird ja jetzt diskutiert im Zusammenhang mit dem Mindestlohn. Wenn man den Menschen eine Chance geben will, eine zweite oder dritte Chance im Leben, warum tut man es nicht jetzt, wo der Mindestlohn noch gar nicht auf dem Tapet steht?! Man merkt die Absicht und ist verstimmt: Es ist eine verlogene Diskussion.
Vernünftige Modelle gemeinsam finden
Schröder: Wie schwer wiegt der Makel, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro – eine Marke, die die Gewerkschaften gesetzt haben – bis 2018 nicht steigen wird? Dadurch wird er real entwertet.
Sommer: Der wiegt schwer. Andererseits haben wir ja im Zuge der Koalitionsverhandlungen mit beiden Koalitionspartner ja auch geredet und uns dann auch bereit erklärt sozusagen, tarifvertragliche Angleichungsprozesse zu machen. Die Kanzlerin nannte das immer: „Phasing-in“. Die geben natürlich die Möglichkeit, dass man sozusagen etwas später als 2015 reingeht in die 8,50 Euro, aber möglicherweise höher rausgeht. Wir haben das jetzt in der Fleischindustrie zum Beispiel ja gezeigt, wie das gehen kann. Und ich glaube das, das wird ein großer Anreiz sein, sozusagen früher schon die Angleichung tarifpolitisch zu machen. Und im Übrigen sind wir mit den Arbeitgeberverbänden gut im Gespräche, die Phase der Angleichung vorzuziehen. Wir haben das jetzt auch beide für das Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen. Das macht deutlich, dass wir sozusagen mit den Arbeitgebern zusammen nach vernünftigen Modell suchen. Ich halte es übrigens auch für gut, dass man an der Frage sieht, die Arbeitgeber haben jetzt auch ihren Frieden mit dem Mindestlohn gemacht. Er ist ein historischer Einschnitt in der deutschen Sozialgeschichte. Einer, den ich vor zehn, zwölf Jahren wahrscheinlich noch nicht gewollte hätte, weil ich noch gedacht hätte, die Tarifautonomie ist so mächtig und kräftig, dass sie auch in schwach tarifierten Bereichen durchziehen kann, weil wir sozusagen über die faktische Bindewirkung von Tarifverträgen durchkommen. Ich muss heute erkennen, in weiten Bereichen des Niedriglohnsektors – das sind, wenn man es genau nimmt, wahrscheinlich acht Millionen Betroffene – zieht da eben nicht diese Tarifautonomie, und wir brauchen diesen gesetzlichen Mindestlohn. Die Gewerkschaften haben immer beides gewollt. Den Mindestlohn einerseits und die Stärkung der Tarifautonomie andererseits. Und das bekommen wir jetzt. Und deswegen glaube ich schon, dass wir in einer vernünftigen Basis bauen jetzt, um Arbeit wieder in Zukunft gemeinsam gestalten zu können.
Schröder: Und wie groß ist Ihre Sorge, dass dadurch Arbeitsplätze verloren gehen werden?
Sommer: Überhaupt nicht. Alle Bespiele, die wir kennen aus dem Ausland mit der Einführung des Mindestlohns, sagen: Dadurch sind keine Arbeitsplätze verloren gegangen. Ich kenne die Diskussion, die im Zusammenhang mit Frankreich läuft, über den SMIC für Jugendliche – ein SMIC ist der französische Mindestlohn. Die Zahlen geben es einfach nicht her. Und ich glaube auch, dass man auch einigen Arbeitgebern sagen muss: 'Ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, dass du den Leuten vier, fünf Euro bezahlst und im Übrigen der Staat den Zuschuss liefert über Hartz IV und dann meinst, damit kannst du das zum Geschäftsmodell machen, ich finde, unter ehrlichen Kaufleuten und auch in einer ehrlichen Marktwirtschaft, haben solche Modelle keinen Platz!‘ Dass diese Firmen dann vom Markt verschwinden, da weine ich keine einzige Träne drum. Da werden andere rauskommen, die werden dann vernünftige Arbeitsbedingungen bieten.
Agenda 2010 war "ein sehr, sehr schweres Problem"
Schröder: Herr Sommer, die zwölf Jahre Ihrer Amtszeit waren geprägt von dem Streit um Agenda 2010, um Hartz-Reformen und Rente mit 67. Wir haben über Mindestlohn und Rente mit 63 gesprochen. Sind das Punkte, die die Wunden, die dieser Streit gerissen hat, heilen kann? Ist jetzt alles gut?
Sommer: Also erst mal waren meine zwölf Amtsjahre nicht nur durch diese Punkte geprägt, sondern sie waren geprägt, am Anfang durch das Platzen der Internetblase und dadurch einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit, noch mal Anfang der 2000er Jahre. Sie waren geprägt, ab dem Jahre 2008, durch die Bewältigung der Lehman-Krise. Wir standen damals vor der Aufgabe: Entweder wir kriegen das hin oder wir kriegen auf den Schlag ein, zwei, drei Millionen Arbeitslose mehr. Und das gehört auch in diese Zeit. Und deswegen wehre ich mich auch dagegen, sozusagen nur diese Zeit als Agenda-geprägt zu betrachten. Die Agenda war am Anfang meiner Amtszeit ein sehr, sehr schweres Problem. Sie hat für eine große Zerrissenheit auch im Gewerkschaftslager gesorgt. Wir waren nicht einig. Ich war damals auch nicht immer in der besten Performance. Wir haben dann daraus gelernt, als Gewerkschaften uns zusammen zu raufen und sozusagen gemeinsame Ziele gemeinsam zu setzen. Was manchmal schwierige Prozesse waren, die aber gelungen sind. Dass wir das so bewältigt haben, wie wir es bewältigt haben, ging auch nur, weil wir dann wieder eine einige, eine starke Gewerkschaftsbewegung hatten, die inhaltlich und strategisch gemeinsam aufgestellt war.
Schröder: Es ist eine Gewerkschaftsbewegung, die gebrochen hat mit der SPD. Diese historische Allianz: Wer Gewerkschafter ist, ist auch Sozialdemokrat, die gibt es nicht mehr. Wie tief ist heute noch der Graben zwischen Gewerkschaften und SPD?
Sommer: Erst mal würde ich auch da noch mal versuchen, das vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ich würde immer noch behaupten, dass die SPD inhaltlich die Allianz mit den Gewerkschaften gebrochen hat. Wenn ich meine persönliche politische Entwicklung betrachte, dann habe ich meine inhaltlichen Positionen nicht verändert. Nun, Anfang der 70er galten Positionen, wie die meine, in der SPD als rechts – heute gelte ich als links außen. Da muss man sich auch fragen, was mit dieser Partei eigentlich passiert ist. Nichtsdestotrotz haben Sie mit Ihrer Fragestellung natürlich an einem Punkt recht. Es gibt sozusagen die alte strategische Achse SPD-Gewerkschaften nicht mehr. Sie ist ersetzt worden durch – wenn man so will – inhaltliche Bündnisse. Das ist gut – was ich ja auch am Beispiel jetzt mit Sigmar Gabriel am Beispiel Rente oder neue Ordnung der Arbeit auf den Weg gebracht habe. Er mit mir und ich mit ihm – da können Sie sich jetzt aussuchen, wer jetzt Henne und wer Ei ist. Aber es gibt auch eben …
Schröder: Aber einen Wahlaufruf zum Beispiel, wie 1998, ist nicht mehr denkbar?
Sommer: Nein. Der ist nicht mehr denkbar. Und wir haben auch gleichzeitig, auch nachdem es ja eine faktische Abspaltung von der SPD in Form der Linkspartei gab – ursprünglich der WASG und dann der Linkspartei – auch lernen müssen, dass die Gewerkschaften sich wieder auf ihre klassische Rolle als Interessenvertretung von Arbeit besinnen und beschränken müssen und dieses auch parteipolitisch unabhängig. Das hat gleichzeitig den guten Nebeneffekt gehabt, dass wir auch gesprächsfähig sind hin zu allen demokratischen Parteien. Und deswegen wird es auch keine gemeinsamen Wahlaufrufe oder Wahlaufrufe oder indirekte Wahlaufrufe zugunsten der SPD geben. Übrigens würden solchen Wahlaufrufen die Menschen in den Betrieben auch nicht mehr folgen. Weil die Enttäuschung über die SPD in den Betrieben ist wahrscheinlich noch größer als meine persönliche.
Schröder: Sie selbst sind Sozialdemokrat seit über 30 Jahren.
Sommer: Ja.
Zur SPD: "Ich teile die Grundidee dieser Partei von einer sozialen Demokratie"
Schröder: Haben Sie persönlich Frieden geschlossen mit Ihrer Partei?
Sommer: Ich bin in der Partei immer deshalb geblieben, weil ich gesagt habe: Ich teile die Grundidee dieser Partei von einer sozialen Demokratie und wenn Sie so wollen, auch von einem demokratischen Sozialismus. Demokratischer Sozialismus heißt, ein Sozialismus, der im Zweifelsfall Marktwirtschaft beinhaltet, auch die Bereitschaft, wenn man Fehler macht, abzutreten und sich Wahlen zu stellen und demokratischen Prozessen zu stellen. Das unterscheidet die SPD sehr von Stalinisten und Kommunisten. Und deswegen bin ich dieser Idee treu geblieben. Auf der anderen Seite weiß ich, dass ich mit meinen Positionen in der Mitte des vergangenen Jahrtausends und auch in dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends in der Minderheit war. Ich glaube, dass ich jetzt wieder langsam auch Teil des Mainstreams in der SPD bin. Aber diese Partei ist eben keine Arbeitnehmerpartei mehr. Und sie darf es übrigens auch nicht sein in einer modernen Gesellschaft. Wir brauchen auch keine Gewerkschaftspartei. Die Frage ist nur, ob die SPD sozusagen noch ihr Herz bei den arbeitenden Menschen hat und das dann auch laut hörbar schlagen lässt oder nicht. Und das ist die Frage, um die wir kämpfen.
Schröder: Sie haben noch immer Zweifel?
Sommer: Ja, ich hatte Zweifel. Ich glaube, die Zweifel sind teilweise ausgeräumt worden, zum Beispiel durch das Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl. Das war eines der linkesten Programme seit Jahrzehnten. Aber trotzdem ist das Misstrauen der organisierten Arbeitnehmerschaft geblieben – weil die Enttäuschung über den Verrat von Gerhard Schröder wiegt schwer.
Schröder: Offenbar ein Misstrauen, dass es auch über die Arbeitnehmerschaft hinaus gibt. Trotz Schwenk in der SPD. Trotz Mindestlohn und Rente mit 63 dümpelt sie bei 25 Prozent. Was macht die SPD falsch?
"Die Fehler sind gemacht worden von Schröder und Müntefering"
Sommer: Sie hat viel falsch gemacht. Ich glaube das nicht, dass sie momentan etwas falsch macht. Ich glaube auch, dass jetzt zum Beispiel die Diskussion, die Sigmar Gabriel im Zusammenhang mit der sogenannten kalten Progression führt und da auch die Frage stellt: Wie gehe ich eigentlich steuerpolitisch mit besserverdienenden Arbeitnehmerschichten um? Das sind ja keine Besserverdienenden im Sinne von Reichen, sondern es sind besserverdienende Arbeitnehmer, und es gibt ja auch schlechter verdienende Arbeitnehmer. Ich halte diese Diskussion für richtig. Ich glaube, die machen momentan tatsächlich keine Fehler. Die Fehler sind gemacht worden von Schröder und Müntefering. Und für diese Fehler werden sie lange noch bezahlen. Und sie werden lange brauchen. Und sie müssen auch sehen, dass sie ja auch ein Aufspalten auf der Linken haben. Infolge der Regierungspolitik von Helmut Schmidt, sind die Grünen entstanden. Infolge der Regierungspolitik von Gerhard Schröder ist die Linkspartei mit gefördert worden. Mit der Folge, dass sie auf der linken Seite des politischen Spektrums eine Zersplitterung haben, die sie auf der rechten (noch) nicht haben. Und damit muss man politisch umgehen. Und ich glaube nur, dass auch die Perspektive für die Parteienlandschaft in Deutschland nicht sein kann, dass man dauerhaft sozusagen in eine Große Koalition läuft – wie ja jetzt schon seit einem Jahrzehnt oder länger in Österreich –, sondern dass man die Lager auch wieder bilden muss. Aber das geht nur, wenn man aufeinander inhaltlich zugeht.
Schröder: Das ist ein Plädoyer für Rot-Rot-Grün. Schon für 2017,? Ist das eine realistische Machtoption für die SPD?
Sommer: Das kann ich Ihnen heute nicht sagen. Ich glaube nur, dass man diese Machtoption als SPD wenigstens ernsthaft diskutieren sollte. Ich bin momentan als Gewerkschaftsvorsitzender sehr zufrieden, dass es die Große Koalition gibt, weil ich glaube, das ist in der heutigen Zeit die adäquate Antwort auf die Probleme. Und ich hoffe auch sehr, dass diese Große Koalition die Reformvorhaben nach vorne bringt. Wie neue Ordnung der Arbeit, wie ein neues Rentenpaket, wie doppelte Staatsbürgerschaft und, und, und, und. Da ist viel zu tun – übrigens auch europapolitisch viel zu tun. Aber das kann doch nicht die Dauerperspektive für dieses Land sein. Und ich glaube, die Dauerperspektive für dieses Land muss sein, dass man mit Blick auf die kommenden Wahlen auch entweder nach neuen strategischen Bündnissen sucht – die Union tut das zum Beispiel mit den Grünen – oder aber auch sagt: Wir gehen wieder, wenn man so will, in ein linkes Lager und in ein konservatives Lager zurück. Ich glaube nur, dass man für 2017 eine andere politische Option braucht, als die Fortsetzung der Großen Koalition.
Schröder: Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, im Interview der Woche, im Deutschlandfunk. Herr Sommer, Ihr Nachfolger wird auch auf die Gewerkschaften selber schauen müssen. Da gibt es ja auch noch reichlich Probleme. Der Mitgliederschwund ist bestenfalls gestoppt. Von wachsenden Mitgliederzahlen, von zunehmender Stärke sind die Gewerkschaften noch weit entfernt. Dann gibt es weitere Probleme: Einzelne Berufsgruppen, wie zum Beispiel Ärzte, Piloten oder Lokführer haben dem DGB den Rücken gekehrt, wollen auf eigene Faust Tarifverträge durchsetzen. Der DGB hat schon einmal einen Anlauf gemacht, gemeinsam mit den Arbeitgebern, hier eine gesetzliche Regelung herbei zu führen. Ist das wirklich die Lösung? Müssen Sie sich lästige Konkurrenz per Gesetz vom Hals halten?
Sommer: Also lassen Sie mich zum ersten Punkt kommen. Ich glaube schon, dass wir die Trendwende in der Mitgliederentwicklung geschafft haben. Wir nehmen wieder bei den berufstätigen Mitgliedern zu, wir nehmen bei jungen Mitgliedern zu. Deswegen würde ich das so nicht stehen lassen, was Sie zu Beginn Ihrer Frage sozusagen als Diktum gesetzt haben.
Mitgliederfrage wieder eine der zentralen Fragen in den Gewerkschaften
Schröder: Aber das ist doch eine schwache Bilanz, wenn wir sehen, in den letzten Jahren sind tausende von neuen Jobs geschaffen worden, das spiegelt sich in den Mitgliederstatistiken der Gewerkschaft nicht wider.
Sommer: Ja, und trotzdem sage ich Ihnen, wir müssen jeden Tag – jeden Tag! – 900 neue Mitglieder werben, um nur die Abgänge, zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit und Alter zu kompensieren. Das ist in den vergangenen Jahren wieder gelungen. Wir nehmen bei der Zahl der berufstätigen Mitglieder, der jungen Mitglieder zu. Von daher glaube ich schon, dass wir organisationspolitisch die Trendwende tatsächlich erreicht haben. Das ist nie zufriedenstellend und es muss mehr werden. Aber ich glaube schon, die Entwicklung ... wir haben die Negativentwicklung aufhalten können und gehen jetzt in eine andere Richtung. Und von daher würde ich das so nicht stehen lassen, im Gegenteil. Die Mitgliederfrage ist wieder eine der zentralen Fragen in den Gewerkschaften geworden. Jetzt zum Komplex, der sogenannten Tarifeinheit. Dieter Hundt und ich waren 2009 bei der Kanzlerin und haben ihr gemeinsam …
Schröder: Der Arbeitgeberpräsident.
Sommer: Ja, der damalige Arbeitgeberpräsident. Wir haben ihr einen gemeinsame Vorschlag unterbreitet. Damals wurde uns gesagt: Wir lösen das Problem! Vier Jahre lang ist nichts passiert. In den vier Jahren haben wir damit leben lernen müssen, dass es Tarifkonkurrenz gibt, und die Gewerkschaften sind damit ziemlich gut klargekommen. Nichtsdestotrotz bleiben wir bei unserem Ziel: Ein Betrieb, ein Tarifvertrag; ein Betrieb, eine Gewerkschaft; eine Branche, ein Tarifvertrag. Weil wir sagen, die Tarifzersplitterung nützt nicht den Arbeitnehmern, sondern sie nützt den Arbeitgebern oder einzelnen Gruppen in der Arbeitnehmerschaft. Und am Bespiel der Ärzte und des Krankenhauspersonals, glaube ich schon, dass man das durchaus beobachten kann, wie dann teilweise Interessen von Ärzten gegen die Interessen von Pflegepersonal ausgespielt werden und umgekehrt.
Zur Tarifeinheit: "Wir werden nicht auf den Gesetzgeber warten"
Schröder: Aber der gesetzliche Vorstoß beinhaltet ja auch eine Einschränkung des Streikrechts. Und das ist ja auch in Ihrem Lager beim DGB zum Beispiel, bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hoch umstritten?
Sommer: Was wir versucht haben, ist zu sagen: Wir wollen praktisch gesetzlich den alten Zustand herstellen, den wir durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes über 50/55 Jahre hatten und der durch eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes aufgehoben worden ist. Aber was wir nicht wollen – um das ganz deutlich zu sagen –, ist eine Einschränkung des Streikrechts. Und ich bin mir absolut sicher, dass in der Frage der DGB-Kongress auch sehr einheitlich handeln wird. Was ist dann die Konsequenz daraus? Die Konsequenz daraus ist, der Gesetzgeber hat nicht gehandelt, wir halten am politischen Ziel der Tarifeinheit fest und dann muss man sie eben in den Betrieben herbeiführen. Ich wünsche uns da sehr viel Erfolg. Und den Verbänden, die meinen, sie könnten sozusagen auf Grundlage von Partikularinteressen weiter Politik machen, denen werden wir dann schon die notwendige Auseinandersetzung bieten. Und noch ein Wort zu den Arbeitgebern. Der Ursprung der Zerstörung der Tarifeinheit waren Strategien, wie zum Beispiel das Lufthansa-Management sozusagen und die Gewerkschaft gegeneinander auszuspielen. Die Folge sehen Sie jetzt selbst. Der Ursprung war, dass die Arbeitgeber aus ihren Tarifverbänden ausgetreten sind und sogenannte Mitgliedschaften ohne Tarifbindung gemacht haben, sodass die Tarifbindung aufgeweicht wurde. Wenn die Arbeitgeber die Tarifbindung wollen, wenn die Arbeitgeber die Tarifeinheit wollen, dann sollen sie ihren Beitrag leisten dazu und das heißt, endlich diese Spaltungstendenzen unterlassen.
Schröder: Aber Folge der wiederhergestellten Tarifeinheit wäre, dass kleinere Gewerkschaften, wie die Lokführer, Marburger Bund, Cockpit, dann keine eigenen Tarifverträge mehr abschließen könnten, wenn sie in dem Betrieb die kleinere Gewerkschaft wären.
Sommer: Um es deutlich zu sagen: Wir werden nicht auf den Gesetzgeber warten! Die Gewerkschaften werden selbst politisch handeln, in den Betrieben.
Schröder: Herr Sommer, am Dienstag sind Sie Privatmann, welche Ziele setzen Sie sich?
Sommer: Privat will ich noch ein bisschen daran arbeiten, dass mein Französisch wesentlich besser wird – da gibt es noch viel Nachholbedarf. Und im Übrigen habe ich in den vergangenen 20, 25, 30 Jahren sehr viel davon profitiert, dass ich eine starke Ehefrau hatte, die mir sehr geholfen hat in verschiedenen Lebenssituationen. Der ich dann auch jetzt mal geholfen habe, zum Beispiel durch die Nierentransplantation, aber der ich unglaublich viel zu verdanken habe und der ich sage: „Jetzt bist du dran!“ Und ich werde vor allen Dingen erst mal für meine Frau da sein. Und dann gucken wir mal, was da noch an Zeit übrig bleibt.
Schröder: Herr Sommer, ich wünsche Ihnen alles Gute und vielen Dank für das Gespräch.
Sommer: Ich wünsche Ihnen und Ihren Hörern auch alles Gute.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.