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Dia de los muertos
Tanz mit dem Tod

Nirgendwo auf der Welt geht es Ende Oktober so bunt, laut und exzentrisch zu wie in Mexiko. Der „Tag der Toten“ gehört dort zu den wichtigsten Feiertagen überhaupt und wird gleich drei Tage lang ausgekostet. Und manch einer holt sich bei wilden Prozessionen blutige Knie.

Von Øle Schmidt | 31.10.2018
    Mit rotem Kleid und wallendem Haar wirkt Santa Muerte wie eine makabre Mariendarstellung
    Santa Muerte steht im Mittelpunkt der Totentage in Mexiko (Deutschlandradio / Øle Schmidt )
    Der eigentlich beschauliche Friedhof des kleinen Ortes San Juan Chamula gleicht am Tag der Toten einem Tollhaus. Die Gräber sind mit der rötlichen Erde der Region aufgeschüttet, übersät mit duftenden Piniennadeln, inmitten eines bunten Blumenmeers. Hunderte Besucher lachen und weinen, trinken Hochprozentiges und rauchen. Sie reden, nein, sie schreien gegen die ohrenbetäubende Musik an. An jeder Ecke spielt eine Band auf, als sei es der letzte Tag. Mehrstimmiger Gesang verbreitet leidenschaftliche Tristesse und unerhörte Lebenslust.
    "Wenn wir zum Friedhof gehen, nehmen wir Blumen mit, Orangen und Limonaden, Teigtaschen mit Bohnen und Kerzen. Dann beten wir und rufen Chulel an, den großen Geist, damit unsere Ahnen nach Hause kommen und entgegennehmen, was wir für sie vorbereitet haben. Mein Name ist Abraham Gómez Vázquez, ich komme aus San Juan Chamula, ich bin Fotograf
    und 41 Jahre alt."
    Urlaub für die Ahnen
    Der Día de los Muertos, der Tag der Toten, ist einer der wichtigsten Feiertage Mexikos. Im ganzen Land wird er vom 31. Oktober bis zum 2. November begangen. Im indigenen Süden wohl mit dem meisten Herzblut. Hier ist der Tag der Toten eine Familienangelegenheit, ein mehr als tausend Jahre altes spirituelles Ritual, das maßgeblich von den Azteken geprägt worden ist. Zunächst säubern die Familienmitglieder das Haus und verteilen auf der Straße davor bunte Blumen, damit
    die Ahnen auf ihrer Reise aus dem Jenseits die richtige Ausfahrt nehmen.
    "Meine Großeltern sagen, dass die Ahnen ein oder zwei Tage im Jahr frei haben, um zu ihren Familien zurückzukehren und ihre Gaben in Empfang zu nehmen. Ich weiß nicht, von welchem Ort sie kommen, ob es einen Himmel oder eine Hölle gibt."
    Der Tod wird Teil des Lebens
    Abraham trägt eine traditionelle Weste aus weißem Schafsfell, seine Haut ist dunkel, in seinem Blick liegt etwas Sanftes. Als ältester Sohn leitet er das Ritual. Er trennt die orangefarbenen Blüten von den Blumen und verteilt sie auf den Gräbern der Ahnen. Darauf legt er Colaflaschen und geviertelte Früchte. Abrahams Großmutter sitzt versunken an einem Grab und betet. Mit ihrem monotonen Klagegesang trauert sie um den Verlust und zeigt den Ahnen ihre Liebe.
    Auf dem Wiedersehensfest mit ihren verstorbenen Verwandten versöhnen sich die Lebenden mit dem Tod, der Tod wird Teil des Lebens. Obwohl die Ahnen nirgendwo auf dem Friedhof zu sehen sind, zweifelt Abraham nicht an deren Anwesenheit.
    "Wenn wir ein Glas Wasser oder Schnaps auf den Tisch stellen, ist am nächsten oder übernächsten Tag weniger Flüssigkeit in dem Glas. Das bedeutet, dass die Seelen gekommen sind. Oder wir haben dieses sehnsüchtige Gefühl, mit dem man eine Person erwartet. Manchmal zeigen uns auch der Wind oder der Regen an, dass unsere Ahnen bei uns angekommen sind."
    Die Kirche übt Kritik am Kommerz
    Der Song "Santa Muerte" von Cartel de Santa, eine Hommage an die Todesgöttin Santa Muerte, die Heilige Frau Tod, wird hier im Armenviertel Tepito an jedem CD-Stand angeboten. Auf dem riesigen Markt in Mexiko-Stadt sind Statuen von Santa Muerte an diesem Mittag besonders gefragt, nur zwei Häuserblocks entfernt wird die allmonatliche Prozession zu Ehren der Volksheiligen begangen.
    Es ist ein prähispanischer Kult, der sich nach der Invasion von Kolumbus mit christlichen Vorstellungen vermischt hat. So haben etwa europäische Abbildungen des Todes ihren Weg in die Verehrung der Santa Muerte gefunden. Auch wenn ihre Anhänger mehrheitlich Katholiken sind, ist der rasant wachsende Kult um die Volksheilige der katholischen Kirche ein Dorn im Auge. Zu selbstorganisiert, zu wenig tugendhaft, befinden mexikanische Bischöfe. Der Vatikan kritisiert gar eine "Kommerzialisierung des Todes".
    Bei einer Prozession wird eine Statue des Sensenmannes durch die Straßen getragen
    Der Tod geht um (Deutschlandradio / Øle Schmidt )
    "Ich habe einen starken Glauben an den Tod, ich mag ihn sehr. Gott steht für mich immer an erster Stelle, keine Religion hat mehr als einen Gott. Es gibt nur einen Gott und es gibt nur einen Tod. Gott liebt und beschützt uns, der Tod wartet auf uns. Mein Name ist Enriqueta Romero und ich bin 70 Jahre alt. Ich glaube an die Heilige Frau Tod und leite den Schrein hier in Tepito."
    Die inoffizielle Weltzentrale der Santa-Muerte-Bewegung ist ein schmuckloses, kleines Haus mit fleckiger Fassade und Flachdach. Im Erdgeschoss ist ein Laden mit Heiligenfiguren, daneben steht der Schrein – ein Schaufenster mit einer überlebensgroßen Santa Muerte in flackerndem Neonlicht. Enriqueta Romero trägt volles schwarzes Haar und eine karierte Küchenschürze. Sie spricht die Sprache der Straße und findet, dass die Todesgöttin den Lebenden eine Menge zu bieten hat.
    "Sie ist ein Balsam der Heilung. Es kommen so viele Menschen mit einem starken Glauben hier her. Vor dem Altar empfangen sie dann Kraft und gehen zufrieden wieder weg. Und wir brauchen diese Kraft, denn wir leben in beschissenen Verhältnissen und müssen hart arbeiten, um unsere
    Söhne im Gefängnis zu unterstützen."
    "Sei jeden Tag glücklich!"
    Gott macht die Wunder, sagt Enriqueta Romero, und Santa Muerte gibt die tägliche Unterstützung. Dann nimmt sie das Mikrofon vom Tisch und eröffnet die Prozession, so wie an jedem ersten Tag eines Monats. Die Bewegung um Santa Muerte wächst schnell. Mittlerweile zählt sie bis zu zehn Millionen Anhänger, vor allem in Mexiko und den USA. Es ist einer der am schnellsten wachsenden Kulte weltweit.
    Mehr als tausend Menschen strömen zur Prozession. Einige legen die letzten Meter bis zum Schrein auf dem harten Asphalt auf blutigen Knien zurück. Die Skelettfrau, die sie ehren, trägt ein rotes Kleid, auf ihrer Perücke sitzt eine goldene Plastikkrone. Sie sieht aus wie die makabere Umkehrung der Mutter Maria.
    Eine junge Frau rutscht auf den Knien, neben ihr geht ein junger Mann in tief gebeugter Haltung
    Auf Knien kommen die Menschen zu Santa Muerta (Deutschlandradio / Øle Schmidt)
    Mittlerweile hat der Sohn von Enriqueta Romero das Mikrofon übernommen. Alle beten sie mit: Die geschiedene Frau und der Obdachlose, der verarmte Rentner und der Kleindealer, die Frau, die früher mal ein Mann war - und mittendrin: Enriqueta Romero. Sie alle verbindet, dass es irgendwann nicht mehr so weiterging in ihrem irdischen Leben und dass es für sie als Randständige keinen Platz im katholischen Heilsangebot gab. Enriqueta Romero sagt:
    "Seit vielen Tausend Jahren leben wir Mexikaner mit dem Tod. Für uns ist er immer präsent, anders als bei Euch. Eines ist klar: Wir werden geboren, wir sterben – und dann ist es aus. Aber solange Du Dein Leben noch hast, lebe es! Aber lebe es intensiv! Sei jeden Tag glücklich, lass nicht einen Moment, eine Sekunde des Glücks verstreichen. Ob du nun verheiratet bist oder einen Liebhaber hast, ob du alleine bist oder schwul: lebe jeden verdammten Augenblick."