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Diät von Europa

In den Niederlanden macht sich Europaskepsis breit. Die Regierung aus Rechtsliberalen und Sozialdemokraten fordert in einem Strategiepapier die Rückgabe von Kompetenzen der EU an die Mitgliedstaaten. Dafür solle möglicherweise sogar der Vertrag von Lissabon geändert werden.

Von Kerstin Schweighöfer |
    Der Plein gehört zu den geselligsten Plätzen in Den Haag. Er liegt mitten im historischen Zentrum, gleich beim Parlament. Der runde Backsteinturm weiter links ist traditionell Amtssitz des Ministerpräsidenten. Dort befindet sich der Arbeitsplatz von Mark Rutte.

    "Aber wahrscheinlich sitzt er eh nicht hinterm Schreibtisch, sondern ist mal wieder in Brüssel”, meint eine Frau, die mit ihrer Freundin die letzten Strahlen der Herbstsonne genießt und sich auf einer der vielen Café-Terrassen ein kopje koffie gönnt:

    "Unser Premier weilt viel zu oft in Brüssel!”"

    findet sie.

    ""Hier spielt die Musik!”"
    ""Wir sind für Europa, aber für weniger Brüssel ”",

    betont ihre Freundin.

    "”Es kann doch nicht alles von Brüssel aus geregelt werden - wir müssen ein eigenständiges Land bleiben!”"

    So wie diese beiden Damen denken viele niederländischen Wähler: Europa ja, noch mehr Einfluss aus Brüssel - nein!

    Die Regierungsparteien haben sich längst darauf eingestellt - nicht zuletzt, um euro- und europafeindlichen Rechtspopulisten wie Geert Wilders den Wind aus den Segeln zu nehmen.

    "Europa, wenn nötig - national, wo möglich”, lautet deshalb auch der Wahlslogan der Rechtsliberalen von Premier Rutte. Bereits Ende September, als erste niederländische Partei, haben sie ihr Programm für die Europawahlen im Mai 2014 präsentiert. Der rechtsliberale Spitzenkandidat Hans van Baalen:

    ""Das Wichtigste für uns ist, dass wir weiterhin zusammen die Grenzen bewachen. Und natürlich müssen wir grenzüberschreitend zusammenarbeiten. Aber dabei sollte sich Europa auf den gemeinsamen Markt konzentrieren, auf Wirtschaft und Arbeitsplätze.”"
    Zusammen mit ihrem sozialdemokratischen Koalitionspartner haben die Rechtsliberalen eine Liste mit 54 Aktionspunkten aufgestellt, die weiterhin - oder wieder - auf nationaler Ebene geregelt werden sollten, auch wenn dazu eine Rückübertragung von Zuständigkeiten nötig ist. 54 Punkte also, die Brüssel nichts angehen, von denen Brüssel die Finger lassen sollte. Das fängt bei der Steuer- und Sozialpolitik an und hört bei EU-Programmen für Schulmilch und Gemüse auf.

    Von dieser Liste verspricht sich die niederländische Regierung denselben Effekt wie von einer guten Diät: Europa soll schmaler und schlanker werden. Oder, so Premier Rutte: leaner and meaner.

    "”Europa darf nicht weiterhin mehr und mehr Aufgaben bekommen. Die Frage, die in Brüssel öfter gestellt werden sollte, lautet: ‘Ist es wirklich nötig, dass wir uns damit beschäftigen?’ Die Liste, die wir aufgestellt haben, ist einzigartig. Diese Inventarisierung hat vor uns kein anderes EU-Land durchgeführt. Das ist neues Denken. Und ich merke an der Reaktion aus anderen Mitgliedsländern, dass das Interesse an dieser Liste sehr groß ist."

    Inzwischen hat Rutte zwar den Segen der Abgeordneten bekommen, diese Liste mit nach Brüssel zu nehmen und in die Tat umzusetzen. Einmal im Jahr soll er in Den Haag berichten, welche Punkte realisiert werden konnten.

    Die zuvor geführte Parlamentsdebatte allerdings verlief nicht ohne Hohn und Spott vonseiten der Oppositionsparteien: Auf der "Inventarliste” stehe vor allem Kleinkram: "Peanuts”, schimpften die Grünen. "Schlapp und bedeutungslos”, höhnten die Rechtspopulisten von Wilders’ "Partei für die Freiheit” PVV.

    Der sucht bereits Kontakt zu anderen europafeindlichen Parteien in Frankreich, Großbritannien und Belgien, um für die Europawahlen die Kräfte zu bündeln. "Zusammen werden wir für einen politischen Erdrutsch sorgen”, prophezeit Wilders.

    Mit seiner "Europa-Inventur” hat Premier Rutte auch in eigenen Reihen Kritik geerntet: Sie geht den Rechtsliberalen nicht weit genug, die Partei plädiert auch für eine Rückübertragung sämtlicher Zuständigkeiten, die Gesundheit, Sport und Kultur betreffen. Selbst dann noch, wenn dazu eine Änderung des Vertrags von Lissabon nötig ist.

    Rutte will davon nicht viel wissen. Aber seine Partei hält eine Vertragsänderung für unvermeidlich. Dieses Tabu müsse gebrochen werden. Der Vertrag von Lissabon sei überholt.