Als Jean-Philippe Avouac am Morgen des 25. April auf seinem Handy die Nachricht über das Magnitude-7,8-Beben in Nepal sah, fürchtete er das Schlimmste: "Ich war auf 300, 400.000 Tote gefasst, denn die Umgebung von Kathmandu ist dicht besiedelt und die Häuser sind schlecht gebaut. Als die ersten Informationen über die Schäden einliefen, glaubte ich, die Kommunikation sei gestört und wir bekämen keine richtigen Informationen. Inzwischen ist klar, dass es stimmt: Das Ghorka-Beben war zwar eine Tragödie für die Menschen, aber die Zahl der Opfer ist angesichts von Stärke und Ort des Bebens mit weniger als 10.000 noch gering", erklärt der Geologe, der an der University of Cambridge und dem Caltech Institute in Pasadena arbeitet. Kathmandu ist immer wieder von Erdbeben zerstört worden, denn die Stadt liegt an der Himalaja-Hauptverwerfung. An dieser mehr als 2.000 Kilometer langen Störungszone schiebt sich der Indische Subkontinent unter Eurasien.
Vor allem große Gebäude zerstört
"Wir wussten aus GPS-Messungen der vergangenen 15 Jahre, dass ein Teil dieser Zone unter Nepal verhakt ist." Und genau in diesem Bereich entstand das Ghorka-Beben vom 25. April. Der Bebenherd war flach, lag in wenigen Kilometern Tiefe, und der Riss breitete sich von dort mit drei Kilometern pro Stunde von West nach Ost aus. "Nach etwa 20 Sekunden erreichte er Kathmandu und lief dann noch weiter. Insgesamt riss die Erdkruste innerhalb von 50 Sekunden über etwa 150 Kilometer Länge und 20 Kilometer Breite auf."
Ungewöhnlich war am Ghorka-Beben unter anderem, dass es an ein- und zweistöckigen Gebäuden vergleichsweise geringe Schäden hinterließ. Dafür zerstörte es vor allem große Gebäude wie den 60 Meter hohen Bhimsen-Turm: "Das ist ein interessanter Punkt, der nach einer Erklärung verlangt. Unseren Analysen zufolge ist einer der Gründe, dass die Bodenbewegungen langsam einsetzten, nicht abrupt, und danach schnell wieder abfielen. Das Beben war erstaunlich 'zahm'. Es entstanden vor allem niederfrequente Wellen, die eher für große Gebäude zum Problem werden, während der Anteil hochfrequenter Wellen, die kleinen Gebäuden zusetzen, gering war. Die Bodenbeschleunigung in Kathmandu lag zudem nur bei 20 Prozent der Erdbeschleunigung."
Beben lässt sich nicht im Computer simulieren
Ein weiterer Faktor, durch den die großen Gebäude anfälliger waren als die kleinen, betrifft den Untergrund: Kathmandu liegt in einem Becken, das mit einem halben Kilometer weicher Sedimente gefüllt ist: "Die Sedimente dieses Beckens verstärkten die niederfrequenten Wellen, sodass der Untergrund im Resonanzbereich großer Gebäude schwang und sie zerstörte."
Das Gorkha-Beben erstaunt die Seismologen, weil sich sein Verhalten weder im Computer simulieren, noch in Laborexperimenten aus den Gesteinseigenschaften ableiten lässt. Danach müsste der Anteil hochfrequenter Wellen höher sein als beobachtet. Vielleicht habe der Untergrund noch andere Eigenschaften als bekannt, vielleicht seien Flüssigkeiten in der Störungszone gefangen. Vielleicht ist aber auch ein langsames Vorbeben nicht aufgefallen, das zu klein war, um von dem globalen seismischen Messnetz erfasst zu werden. Vor Ort gibt es nur eine Station. Für die Seismologen ist deshalb der Aufbau eines lokalen seismischen Netzwerks sehr wichtig, denn: "Westlich des beim Ghorka-Erdbeben gerissenen Bereichs erstreckt sich ein 800 Kilometer langer Streifen, in dem die Erde seit 1505 nicht mehr gebebt hat. Dort dürfte sich inzwischen ein Versatz von rund zehn Metern aufgebaut haben."
Das Beben von 1505 war mehr als dreißigmal stärker als das Gorkha-Beben. Heute würde es eine Katastrophe auslösen: Es träfe den Norden Indiens, ein dicht besiedeltes Gebiet mit schlecht gebauten Gebäuden und einem Untergrund, der dazu neigt, sich während eines Bebens zu verflüssigen. Dieses Gebiet bereite ihnen wirklich Sorgen, urteilt Jean-Philippe Avouac.