Archiv

Diakonie-Präsident zur Inflation
"Wir müssen zielgenau die Schwächsten entlasten"

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie fordert einen Inflationsschutzschirm für einkommensschwache Haushalte. Täglich erreichten ihn Berichte verzweifelter Menschen angesichts steigender Preise. 100 Euro mehr Grundsicherung würde den Menschen helfen und seien laut Berechnung des DIW auch leistbar, so Lilie. Andernfallls werde der soziale Frieden gefährdet.

Menschen kaufen in einem Tafelladen Lebensmittel ein
Menschen kaufen in einem Tafelladen Lebensmittel ein: Die hohen Inflationsraten treffen vor allem die einkommensschwächsten Haushalte (picture alliance/dpa)
Drohende Engpässe bei Gas und Energie, rasant steigende Preise: Der politische Ideenwettbewerb um eine künftige Entlastung der Bürgerinnen und Bürger ist in voller Fahrt, doch schon jetzt bekommen immer mehr Menschen unmittelbar die Folgen der hohen Inflation im Alltag zu spüren. Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie, dem Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche, berichtet von verzweifelten Menschen in den sozialen Einrichtungen, die nicht mehr wissen, wie sie Heizung, Stromkosten und immer teurere Lebensmittel bezahlen sollen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat im Auftrag der Diakonie analysiert, wie sehr die Inflation die deutschen Haushalte entlang der Einkommensverteilung belastet. Das Ergebnis: Die Belastung der Einkommensschwächsten ist nahezu fünfmal so hoch wie die der Einkommensstärksten. Die ärmsten 20 Prozent geben etwa zwei Drittel ihrer Ausgaben allein für Lebensmittel, Wohnen und Energie aus. Sie seien von den derzeitigen Entwicklungen stark betroffen und müssten sich im kommenden Winter möglicherweise zwischen weniger essen oder frieren entscheiden, sagte Lilie im Deutschlandfunk.
Satistik: Ärmere Haushalte leiden stärker unter hohen Energiekosten
Satistik: Ärmere Haushalte leiden stärker unter hohen Energiekosten (x)
Daher fordert der Diakonie-Präsident eine zielgenaue Entlastung der Schwächsten. "Ein Sozialstaat, der sein Teilhabeversprechen ernst nimmt, muss diese Menschen vorrangig in den Blick nehmen - die brauchen jetzt einen Inflationsschutzschirm, der ihre Existenz sichert", so Ulrich Lilie. Konkret fordert er eine um 100 Euro höhere Grundsicherung. Dieser Betrag würde die Menschen schon deutlich entlasten und sei auch leistbar. Von einem "sinnlosen Tankrabatt" hingegen profitierten nicht die Bedürftigen.
Die Politik dürfe nicht weiter nach Gießkannenprinzip verteilen, so Lilie, denn am Ende bezahlten dann die Ärmsten die Zeche. Doch das hätte einen tiefgehenden Riss in der Gesellschaft zur Folge, sei im wahrsten Sinne ein "Armutsszeugnis" für die soziale Marktwirtschaft und bedeute auch eine nachhaltige Gefährdung des sozialen Friedens. Denkbar seien dann etwa Demonstrationen in den Großstädten nach dem Vorbild der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich.
Das Interview in voller Länge:
Stefan Heinlein: Die Diakonie ist der Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche. Sie kümmern sich unter anderem um arme und um alte Menschen. Was hat sich verändert in den Monaten seit Beginn der Krise? Was bekommen Sie mit in Ihren vielen Einrichtungen bundesweit?
Ulrich Lilie: Erst mal bekommen wir in unseren Einrichtungen, in den Sozialberatungsstellen, in den Schuldnerberatungen, aber auch bei den Tafeln die dramatische Veränderung der Situation mit. Dort begegnen wir täglich wirklich verzweifelten Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Heizungs- oder Stromkosten oder die immer teurer werdenden Lebensmittel bezahlen sollen. Allein bei den Lebensmitteln haben wir eine Kostensteigerung zum Vorjahresmonat von fast 15 Prozent. Bei Energiepreisen sind es ja weit über 35 Prozent. Wir wollten genau wissen, wie wirkt sich das aus, und haben darum das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, deren Beratungsfirma Econ gebeten, einmal eine detaillierte Analyse für uns zu machen, wie sehr die sehr unsoziale Inflation die deutschen Privathaushalte entlang der Einkommensverteilung belastet. Dabei ist dann sehr deutlich geworden: Die Inflationsbelastung der einkommensschwächsten Haushalte ist nahezu fünfmal so hoch wie die der einkommensstärksten. Das hat was mit den unterschiedlichen Konsummustern zu tun. Die ärmsten 20 Prozent geben nahezu zwei Drittel ihrer gesamten Ausgaben inzwischen für ihren Grundbedarf aus, vor allem für Nahrungsmittel, für Wohnen und Haushaltsenergie. Bei den reichsten sind das nur 44 Prozent, eine dramatische, wirklich dramatische Entwicklung.
Heinlein: Das heißt, der Kühlschrank am Monatsende bei vielen Familien bleibt leer, weil kein Geld mehr in der Kasse ist?
Lilie: So ist das. Im Moment genießen alle die Ferien. Wenn wir auf den Winter gucken, werden einige sich fragen müssen, ob sie weniger essen oder ob sie frieren.

„Für 10 bis 15 Millionen Menschen eine Frage der Existenz“

Heinlein: Sie sagen es, schon jetzt ist vieles teurer. Viele arme Familien bekommen es zu spüren. Doch der große Preisschock, der kommt für Verbraucher vermutlich erst im Herbst mit der Gas- und der Heizölabrechnung. Eine Verdreifachung, eine Vervierfachung der bisherigen Kosten, niemand kann es genau vorhersagen. Wird dies auch Menschen in Bedrängnis bringen, die bislang noch recht gut über die Runden kommen?
Lilie: Das wird ganz sicherlich so sein. Wir sprechen einmal von ungefähr acht Millionen Menschen, die existenzsichernde Leistungen beziehen, und das sind die Leute, die wirklich ganz am Ende der Leistungskette stehen. Das sind aber auch viele Familien und Rentnerinnen und Rentner, deren Einkommen knapp über den Anspruchsgrenzen zur Unterstützung liegen. Viele von denen wollen gar nicht Unterstützung bekommen, weil sie stolz sind und sagen, ich habe mein Leben lang gearbeitet, und von denen drohen nun auch, viele wegen der Inflation und wegen dieser dramatisch steigenden Energiepreise, ebenfalls in relative Armut abzurutschen.
Darum sagen wir: Ein Sozialstaat, der sein Teilhabeversprechen wirklich ernst nimmt, muss jetzt diese Menschen vorrangig in den Blick nehmen. Die brauchen jetzt einen Inflationsschutzschirm, der ihre Existenz sichert. Ich habe das ja gerade bei den Zahlen gesagt. Die anderen können das aus ihrem Ersparten kompensieren. Das ist nicht toll, aber das ist jetzt keine Frage der Existenz. Für die anderen ist es aber eine Frage der Existenz und da reden wir über eine Gruppe von sicherlich 10 bis 15 Millionen Menschen in unserem Land. Wenn die wieder erleben, dass sie am Ende die Zeche bezahlen, dann wäre das ein tiefgehender Riss in unserer Gesellschaft, im wahrsten Sinne ein Armutszeugnis für die soziale Marktwirtschaft, und ich glaube auch - und das befürchte ich auch – eine nachhaltige Gefährdung der sozialen Friedensordnung unserer Demokratie.

„Jetzt müssen die Stärkeren die Schultern gerademachen“

Heinlein: In der Tat: Wenn wir kein Gas mehr bekommen, sind wir mit Volksaufständen beschäftigt. Das waren die Worte von Außenministerin Baerbock Mitte der Woche. Malt da die Außenministerin den Teufel an die Wand, oder ist das eine bittere Prognose, die Realität werden könnte? Sie warnen vor einer Gefährdung des sozialen Friedens, haben Sie gerade gesagt.
Lilie: Ich sehe das ähnlich. Von Volksaufständen würde ich jetzt vielleicht nicht sprechen, aber ich sehe, dass im Moment, wenn wir nicht etwas ändern und sehr zielgenau jetzt die Schwächsten entlasten, dass wir so etwas wie Gelbwesten-Demonstrationen in Berlin und in anderen großen Städten in Deutschland erleben werden. Das heißt, die Menschen werden sagen, wir sind schon wieder die Verlierer. Wir haben gerade Corona noch nicht richtig überwunden und auch da hat sich schon gezeigt, dass Corona ja wirklich auch die soziale Spaltung in diesem Land deutlich gespiegelt hat. Das heißt, die Ärmsten waren viel stärker betroffen als die relativ Bessergestellten.
Darum sagen wir jetzt, jetzt ist Zeit für gesellschaftliche Solidarität, jetzt müssen die Stärkeren die Schultern gerademachen und dafür sorgen, dass die relativ Armen die Unterstützung kriegen, die sie brauchen. Wir haben dazu einen Vorschlag gemacht und der sagt, es geht jetzt um eine schnelle pragmatische zielgenaue Möglichkeit, nämlich einen monatlichen Zuschlag von mindestens 100 Euro. Den sollten alle Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach SGB II und SGB XII Bereich, das heißt von Wohngeld, von Kinderzuschlag, Grundsicherung im Alter oder für Arbeitssuchende oder bei Erwerbsunfähigkeit sofort bekommen. Das wäre erstens bezahlbar und würde diese Leute auch schnell entlasten.

„Politik ist jetzt aufgefordert, schnell zu handeln“

Heinlein: Sie sagen, der soziale Frieden ist in Gefahr, Proteste möglicherweise nach dem Vorbild der Gelbwesten in Frankreich, Populisten könnten jetzt vermuten, dass jetzt ihre Stunde schlägt. Wie sollte die Politik neben diesen Hilfsprogrammen, die Sie gerade geschildert haben, jetzt reagieren? Ist es die Pflicht der Politik, den Menschen reinen Wein einzuschenken, zu sagen, es kommen harte Zeiten auf uns zu und wir müssen uns alle unterhaken?
Lilie: Ich glaube, es geht um eine Politik des Sowohl-als-auch. Wir müssen alle zusammen unseren Beitrag leisten. Wir müssen auch alle zusammen Energie einsparen. Das gilt für alle. Das muss man den Leuten sehr klarmachen. Da bin ich für reinen Wein. Aber wir müssen jetzt auch zielgenau die entlasten, die besonders dramatisch von den Folgen betroffen worden sind. Ich habe das ja gerade gesagt. Wenn Sie selbst in Ihrem Haushalt zwei Drittel Ihrer Mittel im Prinzip nur für die Existenzsicherung ausgeben, dann vor diesen Steigerungen stehen, dann haben sie nichts mehr, und diese Leute, die brauchen jetzt eine zielgenaue Entlastung. Die braucht aber unsereiner nicht. Für uns ist das unkommod. Dann muss ich mal vielleicht 3.000 Euro mehr für Energie bezahlen, das ist nicht toll, aber es wird mich nicht umbringen. Aber es gibt andere, für die ist das eine Existenzfrage.
Heinlein: Wie schwierig ist es denn, Herr Lilie, eine solche zielgenaue Entlastung hinzubekommen? Wie schwierig wird es, da eine gerechte Grenze zu ziehen, wer Hilfe vom Staat bekommt und wer sie nicht braucht?
Lilie: Unser Vorschlag, den wir auch übrigens vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung haben durchrechnen lassen und die gesagt haben, das würde genau zielgenau die richtigen treffen, wäre ganz einfach. Wir sagen, lasst uns einen pragmatischen Notlagen-Mechanismus machen, haben wir gelernt bei Corona, geht ganz einfach. Der Bundestag kann das mit einfacher Mehrheit beschließen. Dann könnte man für sechs Monate einfach mal sagen, wir machen dieses Entlastungsinstrument. Das würde – das haben wir auch ausgerechnet – ungefähr 5,4 Milliarden kosten. Wenn man mal überlegt, dieser wirklich unsinnige Tankrabatt, der ökologisch unsinnig war und der mit der Gießkanne vor allen Dingen die mit den dicken Autos besonders belohnt hat und keine nennenswerte Entlastung geschafft hat, der schlägt schon mit drei Milliarden Euro zu Buche. Damit wäre unser Vorschlag schon zu einer guten Hälfte bezahlt. Man kann etwas machen, man kann sehr genau etwas machen. Unser Vorschlag ist jetzt im Raum. Es gibt andere gute Vorschläge und die Politik ist jetzt aufgefordert, schnell zu handeln.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.