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Diakonie-Präsident zu UN-Geberkonferenz
"Wir brauchen sichere Kanäle, auf denen das Geld in Afghanistan ankommt"

Die UNO plant Millionenhilfen für Afghanistans Bevölkerung. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie forderte Garantien, dass das Geld nicht in Korruption oder Terrorfinanzierung landet. Zudem müssten humanitäre Einreisevisa vergeben werden - "wir brauchen eine Sowohl-als-auch- und nicht eine Entweder-oder-Lösung".

Ulrich Lilie im Gespräch mit Silvia Engels |
Diakonie-Präsident Lilie vor einer Wand mit Schultafel
Diakonie-Präsident Lilie hält ein "sowohl als auch" für nötig, um den Menschen in Afghanistan zu helfen (picture alliance / dpa / Sophia Kembowski)
Millionen Menschen in Afghanistan leiden unter Hunger, Dürre und unter Gewalt durch das neue Taliban-Regime. Auf einer Geberkonferenz der Vereinten Nationen in Genf sollen am Montag (13.09.2021) über mehr als eine halbe Milliarde US-Dollar an Hilfsgeldern verhandelt werden.
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Fiannzierung von Korruption und Terrorkampf "muss ausgeschlossen sein"

Mit Mitarbeitenden und Partnerorganisationen in Afghanistan vertreten ist unter anderem die Diakonie Deutschland. Deren Präsident Ulrich Lilie forderte von der Konferenz Sicherheiten, dass das Geld auch bei den Betroffenen ankomme:
"Es darf sicherlich nicht so sein, dass man sagt, wir sammeln jetzt über 600 Millionen US-Dollar ein und finanzieren damit wieder unterschiedliche Formen von Korruption und womöglich den Terrorkampf der Taliban. Das muss ausgeschlossen sein, und das muss diplomatisch sehr klar besprochen werden. Das ist die Aufgabe des Außenministers und derjenigen, die da jetzt diese Konferenz verantworten."
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Innerhalb der Taliban müssten die Leute gefunden werden, die bereit seien, ein wenig nachzugeben, sagt der ehemalige Botschafter Jürgen Chrobog. "Wir müssen Angebote machen, Angebote, die sie annehmen müssen." Allein seien die Taliban zum Staatsaufbau nicht fähig.
Man müsse "robust" und druckvoll mit der Taliban-Regierung verhandeln, sagte Lilie, auch wenn in deren Reihen ein international gesuchter Terrorist sitze. Es gebe Hunderttausende Binnenflüchtlinge in Agfhanistan. "In den Lagern in den Städten ist die Lage jetzt schon fatal."

"Da muss die deutsche Außenpolitik aktiv werden"

Es gehe jedoch nicht nur um eine Versorgung der Menschen im Land selbst. Nur wenigen Zehntausend gelinge die Flucht etwa in die Nachbarländer Pakistan und Usbekistan. "Da muss die deutsche Außenpolitik aktiv werden." Auch humanitäre Einreisevisa befürwortet Lilie. Die aktuelle Lage verlange nicht nach einem "entweder oder", sondern nach einem "sowohl als auch".
"Wir müssen da in die Vorhand kommen. Das heißt, wir müssen wirklich eine vernünftige Prävention machen", sagte Lilie auf die Forderung des deutschen Entwicklungsministers Gerd Müller (CSU) nach einer nachhaltigeren Entwicklungspolitik: "Herr Müller spricht ja völlig zu Recht an, dass wir immer hinterherlaufen, dass wir immer die Folgen von katastrophalem Handeln oder von katastrophaler Weltvergessenheit und Selbstbezogenheit zu bearbeiten versuchen."

Das Interview in voller Länge:

Silvia Engels: Können Sie und Ihre Partnerorganisationen in Afghanistan derzeit noch Menschen versorgen?
Ulrich Lilie: Ich will gleich dazu was sagen, aber ich würde gerne noch mal anknüpfen an das, was Herr Maurer gesagt hat. Wir haben gestern einen vielbeachteten Schlagabtausch, wurde gesagt in den Nachrichten gesagt, erlebt, nämlich das Triell. In diesem Triell ist kein einziges Wort zu der riesigen humanitären Herausforderung, die wir da jetzt vor uns haben, gesagt worden, und das hat für mich in erschreckender Weise gezeigt, wie selbstbezogen und wie weltvergessen wir im Moment in diesem Land sind. Einen Tag, nachdem der 20. Juli überall Thema war, nachdem der amerikanische Präsident daran erinnert hat, dass mehr als 30.000 Soldaten sich umgebracht haben, jeden Tag 18, weil sie die Horrorbilder nicht aus dem Kopf kriegen, reden wir nicht über das, was wir da angerichtet haben. Traumatisierte Menschen, 3,5 Millionen Menschen, die von Hunger, Dürre und Vertreibung betroffen sind – das ist die Situation und das sollte uns schon nachdenklich machen.
Ja, wir sind da und wir wollen gerne auch da bleiben. Aber wir brauchen Sicherheit. Wir brauchen Handlungsfreiheit. Wir brauchen klare Bedingungen dafür, dass die Bedürftigen wirklich die Hilfe bekommen in einem Land, in dem ja bekannter Weise – das haben wir nun alle gelernt – Korruption sehr groß ist. Wir brauchen Sicherheitsgarantien für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das möchten wir uns nicht von den Taliban vorschreiben lassen. Und wir brauchen faire Kanäle, auf denen das Geld in Afghanistan dann wirklich auch ankommt. Auch darüber muss auf der Konferenz gesprochen werden.
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"Mit den Taliban reden, mit denen man reden kann"

Engels: Sie sprechen es an: Sicherheitsgarantien, Handlungsfreiheit, möglichst weit weg von den Taliban. Aber das ist doch nicht realistisch. Sie müssen doch in irgendeiner Form wahrscheinlich mit den Taliban zusammenarbeiten.
Lilie: Ganz sicherlich ist das jetzt die Stunde der Diplomatie. Daran haben ja viele auch zurecht erinnert. Man muss – das habe ich von Anfang an gesagt – auch mit den Taliban reden, zumindest mit denen, mit denen man reden kann, und wir brauchen Garantien, denn es darf sicherlich nicht so sein, dass man sagt, wir sammeln jetzt über 600 Millionen US-Dollar ein und finanzieren damit wieder unterschiedliche Formen von Korruption und womöglich den Terrorkampf der Taliban. Das muss ausgeschlossen sein und das muss diplomatisch sehr klar besprochen werden. Das ist die Aufgabe des Außenministers und derjenigen, die da jetzt diese Konferenz verantworten.
Engels: Wie könnte denn das praktisch aussehen, dass da in irgendeiner Form eine UN-Truppe tätig wird, in deren Schatten Sie arbeiten, oder wie sollte man sich das vorstellen?
Lilie: Ich bin kein Militärexperte. Ich weiß nicht, ob man da jetzt wieder einen Einsatz macht. Jedenfalls muss sichergestellt sein, dass die Kanäle sicher sind. Wir müssen über Finanzierungswege nachdenken, die dafür Sorge tragen, dass wirklich das Geld für humanitäre Zwecke ausgegeben wird und dass es wirklich bei den Menschen ankommt. 15 Millionen Menschen sind von Hunger betroffen. In den allermeisten, ich glaube, in 27 von 34 Provinzen, hat die UN gesagt, ist jetzt schon der Notstand ausgebrochen. Die Lebensmittelpreise explodieren. Herr Müller, der Entwicklungshilfeminister hat zurecht darauf hingewiesen, dazu kommt die Pandemie, die Covid-Pandemie, die auch dort herrscht. Es gibt eine große Dürre und dazu wirklich die Gewalt. Wir haben Hunderttausende von Binnenflüchtlingen, die jetzt auch noch zusätzlich in die Städte gehen, und in den Lagern in den Städten ist die Situation jetzt schon fatal.
Wir brauchen sichere Kanäle. Wir brauchen klare Abkommen. Die Taliban müssen sich auch klar erklären, dass es jetzt in ihrem Interesse ist, dass es um die Menschen im Land geht.
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Engels: Sichere Kanäle sprechen Sie an, um mehr leisten zu können an Hilfe. Es gibt aber auch die andere Sorge. Haben Sie noch deutsche Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter oder afghanische Ortskräfte, die jetzt akut von den Taliban bedroht sind und das Land verlassen müssen?
Lilie: Das wird gerade diplomatisch versucht zu regeln. Noch mal: Wir müssen jetzt dafür Sorge tragen, und dazu brauchen wir Sicherheitsgarantien der Taliban, dass Sicherheit und Handlungsfreiheit und klare Bedingungen für die humanitäre Hilfe gesichert sind. Da muss man jetzt sehr ernsthaft und auch robust mit denen sprechen, die sagen, sie wären diejenigen, die die eigentlichen Interessen des Volkes wahrnehmen.

"Helfen, diese humanitäre Situation zu entspannen"

Engels: Moralisch ist es bestimmt nicht der richtige Weg, aber wäre es aus ganz praktischer Sicht dann besser, wenn die westlichen Regierungen die Taliban als Führung anerkennen würden und dann konkrete Forderungen an eine staatliche Regierung aufstellen können, weil es ihren Hilfsorganisationen in Afghanistan diese Sicherheitsgarantien geben könnte?
Lilie: Im Moment haben wir ja die etwas verrückte Situation, dass da ein weltweit gesuchter Terrorist Mitglied der Regierung ist. Das ist eine sehr volatile Situation. Das ist natürlich auch für die Politik keine einfache Situation. Trotzdem muss man jetzt alles versuchen, um mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen. Sie anzuerkennen, bietet sich jetzt vielleicht nicht an, aber man muss natürlich diplomatische Gespräche führen, und offensichtlich funktioniert da ja was. Diesen Weg muss man, glaube ich, jetzt sehr engagiert weitergehen.
Im Übrigen müssen wir auch darüber reden, jenseits von Diskussionen über Pulleffekte oder 2015 darf sich nicht wiederholen, welches der Beitrag Europas und eines starken Deutschlands in einem starken Europa dazu ist, dass wir die Flüchtlingskrise in diesem Land entspannen. Diese Menschen fühlen sich vom Westen wirklich allein gelassen und verraten und wir sollten darüber nachdenken, wie wir uns proaktiv darum bemühen, eine stattliche Anzahl von Menschen da rauszuholen, weil die Grenzen zu den Nachbarländern ja jetzt schon abgeriegelt sind. Es kommen nur noch ganz wenige Leute nach Pakistan, nach Usbekistan oder Tadschikistan. Da muss man gucken, dass wir da auch helfen, diese humanitäre Situation zu entspannen. Das ist im wohlverstandenen Interesse, weil wir sonst eine ganz andere Flüchtlingsbewegung erleben werden. Noch mal: Sehr, sehr nachdenkenswert ist, dass das gestern in dieser weltvergessenen Diskussion überhaupt kein Thema war.
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Engels: Schließen Sie sich der Forderung anderer Hilfsorganisationen wie zum Beispiel Medico International an, die jetzt humanitäre Einreisevisa nach Europa, nach Deutschland fordern und nicht so sehr darauf setzen, dass die Menschen in der Region versorgt werden können?
Lilie: Ja, wir brauchen beides, glaube ich. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass diese Geberkonferenz, die ja schon fast eine bedrückende Tradition hat, auch was Afghanistan angeht, nicht wieder ein weiteres fatales Versagen ist. Da muss wirklich was bei rauskommen. Wie gesagt, das muss verbunden werden mit nachhaltiger Diplomatie und Druck auf die Taliban, dass wirklich gewährleistet ist, dass diese Sicherheitsgarantien, die ich angesprochen habe, gewährleistet werden. Und wir müssen gleichzeitig auch dafür sorgen, dass sich die Situation in den Flüchtlingslagern entspannt, dass vor allen Dingen die besonders vulnerablen Gruppen – wir reden über 80 Prozent Frauen und Kinder – vor allem den Schutz bekommen, den sie wirklich brauchen. Wir brauchen eine Sowohl-als-auch-Lösung und nicht eine Entweder-oder-Lösung.

"Wir laufen immer hinterher"

Engels: Dann schauen wir noch mal auf die Möglichkeiten, dass Menschen in den Nachbarländern Afghanistans aufgenommen werden können. Sie haben es angesprochen. Pakistan, Usbekistan, da gibt es starke Grenzreglementierungen. Aber wenn die Menschen es über die Grenze schaffen, haben Sie als Diakonie auch dort Kräfte vor Ort, die da schnell helfen können?
Lilie: Ja, da gibt es über unsere Partnerorganisationen Hilfsangebote, die auch durchaus greifen könnten. Aber wie gesagt, es sind im Moment nur verschwindend wenige, wenige 10.000, denen überhaupt diese Flucht gelingt, weil die Nachbarländer die Grenzen dichtgemacht haben. Auch da müssen wir natürlich reden, muss die deutsche Außenpolitik aktiv werden, damit dass möglich ist, dass die Menschen überhaupt aus dem Land rauskommen, weil sonst droht eine humanitäre Katastrophe und das wäre das zweite fatale Kapitel, das der Westen dann da schreibt.
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Afghanistan ist wieder in der Hand der Taliban. Der Irak-Krieg brachte dem Land keine Demokratie, im Gegenteil: Der Krieg trug zur Destabilisierung einer Region bei. Und auch in Libyen herrscht Chaos. Sind solche Einsätze noch sinnvoll und wenn – unter welchen Bedingungen?
Engels: Sie haben ihn schon angesprochen. Der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Gerd Müller, hat sich geäußert. Er fordert mittlerweile einen grundsätzlichen Umbau von Hilfsleistungen und auch von Entwicklungszusammenarbeit, stärker in Richtung Prävention. Das klingt gut. Ist das aber angesichts der Not, der akuten Not nicht mehr als ein frommer Wunsch?
Lilie: Ja, auch hier braucht man beides. Herr Müller spricht ja völlig zu Recht an, dass wir immer hinterherlaufen, dass wir immer die Folgen von katastrophalem Handeln oder von katastrophaler Weltvergessenheit und Selbstbezogenheit zu bearbeiten versuchen und damit den katastrophalen Situationen hinterherlaufen. Insofern ist Prävention genau richtig. Auch gestern war kein Wort in der ganzen Covid-Diskussion davon, dass in Afrika weniger Menschen geimpft sind als in Deutschland. Auch das hat fatale Folgen und da spricht Herr Müller zu Recht an, wir müssen da in die Vorhand kommen. Das heißt, wir müssen wirklich eine vernünftige Prävention machen, weil das natürlich auch fatale Entwicklungen hat, was Hunger, Dürre und dann wieder Flüchtlingsbewegungen, die dadurch ausgelöst werden, produzieren wird. Also weitsichtige Politik, aber gleichzeitig auch aktuelle humanitäre Hilfe. Noch mal: es geht um ein sowohl als auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.