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"Dialogues des Carmélites" in Frankfurt
Trauma trifft auf Märtyrer-Drama

16 Nonnen starben 1794 im Zuge der Französischen Revolution für ihren Glauben auf dem Schafott. Dieses historische Ereignis wurde in einem Roman und einem Filmskript verarbeitet und schließlich 1957 von Francis Poulenc in einer Oper vertont. In Frankfurt wurde das Werk nun inszeniert.

Von Ursula Böhmer | 05.07.2021
Maria Bengtsson (Blanche de la Force; in gelbem Rock) und Gemeinschaft der Schwestern
Die Sängerin Maria Bengtsson (in der Mitte) in der Frankfurter Erstaufführung von „Dialogues des Carmélites“ (Frankfurter Oper / Barbara Aumüller)
"Timor et tremor" singt der Frankfurter Opernchor – "Furcht und Zittern sind über mich gekommen": Noch bevor die Oper beginnt, schickt Regisseur Claus Guth diese Motette von Francis Poulenc voraus – während auf der Bühne zwischen einem riesigen Kubus und diffusen Nebelschwaden eine junge Frau vor gruseligen schwarzen Wesen mit Hasen-Masken zu fliehen versucht. Die Hasen-Wesen verbildlichen hier die Kindheits-Ängste, von denen die Hauptfigur Blanche heimgesucht wird in Poulencs Oper "Dialogues des Carmélites" oder "Dialoge der Karmelitinnen". Immer wieder lässt Claus Guth im Hintergrund auch eine schwangere Frau über die Bühne schreiten:
"Ganz konkret in diesem Stück geht es ja darum, dass wir erleben und erfahren, dass die Mutter von Blanche bei der Geburt gestorben ist, allein mit Vater/Bruder aufgewachsen und diese absolut tragischen Umstände auch - dieser Verlust der Mutter bei der Geburt - die traumatisieren diese Person. Und eigentlich sucht sie, wie sie immer wieder sagt, die Stille. Das kann man dann interpretieren, ob sie das Ende der Stimmen in ihrem Kopf, die dem Wahn nahe sind, oder ob sie damit meint, dass sie eigentlich den Tod sucht."
"Silentium", also "Stille", steht dann auch auf einem Block, der kurz darauf von unsichtbarer Hand vor den Kubus gezogen wird. Der öffnet sich auf der Drehbühne zu klaustrophobischen Seelenräumen: Denn Stille findet Blanche schließlich nur im Kloster, bei den Karmelitinnen.
"Und eigentlich ist es für mich eher eine surreale, kafkaeske Reise von jemandem, der permanent Erwartungen hat, da wieder eine Mutterfigur zu finden, Halt zu finden. Und überall, wo sie das erwartet - also vor allem im Kloster - stellt sich dann heraus, dass die selber völlig schwach sind angesichts des Todes, dass sie eigentlich nirgends die Hilfe und den Halt findet, den sie sucht."

Glaube schützt vor Ängsten nicht

Denn die Priorin, Blanches Mutterersatz, stirbt an einer Krankheit - an Gott und Glaube zweifelnd. Glaube schützt vor Ängsten nicht – und für Blanches Kindheitstrauma findet Claus Guth in Frankfurt immer wieder beeindruckende Bilder: Die tote Priorin wird in einem gläsernen, klinischen Brutkasten aufgebahrt. Eine Marienstatue entpuppt sich als Blanches tote Mutter. Immer wieder tauchen Babyfiguren auf, die wahlweise für ihre eigene Sturzgeburt oder das Christkind stehen. Was ist Wahn, was Wirklichkeit?
Claus Guth lässt uns die Welt durch Blanches Augen sehen - und Maria Bengtsson singt und spielt sie in Frankfurt großartig, als blond bezopftes Wesen im gelben Rock, zart und fragil. Das Brüchige findet sich auch in Francis Poulencs eher rückwärtsgewandt-romantischer Partitur wieder, erläutert die Dirigentin des Abends, die Litauerin Giedrė Šlekytė:
"Und das ist wirklich für mich auch die größte Schwierigkeit, denn es gibt unglaublich viele Generalpausen und immer wieder fängt man neu an. Und oft schreibt er auch noch zu den Generalpausen ‚sehr lang‘ oder ‚lang‘, sodass es irgendwie auch schwierig ist, da einen Bogen zu haben. Und das ist wahrscheinlich die Stärke und Schwierigkeit."
Die meistert Giedrė Šlekytė aber bravourös– auch dank des hervorragenden Frankfurter Opern-Orchesters. Pandemie-bedingt spielt es eine auf 30 Köpfe verschlankte Fassung. Auch sämtliche Männer-Partien aus Vater, Bruder, Priester, Arzt und Kommissar wurden auf nur zwei Sänger verteilt. Darunter der samtig-weiche Tenor von Jonathan Abernethy.

Tänzerinnen als Chor-Ersatz

Der klangschöne Frankfurter Opern-Chor singt, mit weitem Abstand, hinten aus dem Zuschauerraum vom dritten Rang herunter. Als Ersatz für den Karmelitinnen-Chor schickt Claus Guth acht Tänzerinnen in blauer Fantasie-Tracht und weißen Häubchen auf die Bühne. Die expressive Choreografie von Ramses Sigl erinnert wahlweise an fernöstliche Sonnengebets- oder selbstmörderische Harakiri-Rituale. Den zweiten Plot der Oper – den Märtyrertod der Karmelitinnen unter der französischen Revolutions-Guillotine – drängt Claus Guth hier bewusst an den Rand:
"Weil ich glaube, dass das auch mehr das Thema ist, was uns heute interessiert – gerade das Thema Depression, das Thema, wie verorte ich mich in einer zutiefst verunsicherten Zeit als Mensch? Das ist was Interessantes und am Schluss erlaube ich mir sogar, sehr weit von der Vorlage wegzugehen, indem die ganze Guillotine-Szene keine Guillotine sichtbar ist."
Stattdessen schickt Blanche sozusagen ihre Ängste aufs Schafott. Die erscheinen hier als lauter blond-bezopfte Blanche-Doubles, laufen zunächst manisch in einer Art Reise-nach-Jerusalem-Spiel umher, bis Blanche sie – eine nach der anderen – in eine schwarze Luke schubst, die sich unmerklich im Bühnenboden aufgetan hat. Ist Blanche nun endlich Angst-frei? Diese Frage bleibt, Gottlob, offen an diesem sehens- und hörenswerten Abend.