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Dichter der Welt in Berlin

Die zwölfte Edition des Festivals stand im Zeichen der modernen, experimentellen und manchmal auch schrillen Formen, mit denen Lyriker heute auf sich aufmerksam machen. Vielfältig und lebendig stellte sich die Dichtung in Berlin dar.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    Ist Lyrik eine aussterbende Gattung oder ist das Gedicht, das einst auf dem Marktplatz entstand, nur in geschlossene Dichterkreise abgetaucht? Wie lebendig und vielfältig Dichtung auch heute ist, war schon auf der Eröffnungsveranstaltung des Internationalen Berliner Poesiefestivals zu erleben. Während in der "Nacht der Poesie" der tunesische Rapper El General die revolutionäre Wirkkraft von Dichtung beschwor, erkundete die tschechische Künstlerin Iva Bittova mit Stimme und Violine neue, teils irrwitzige Dimensionen von Sprache und Lautmalerei. Die zwölfte Edition des Festivals stand im Zeichen der modernen, experimentellen und manchmal auch schrillen Formen, mit denen Lyriker heute auf sich aufmerksam machen.

    Hier trägt der isländische Allround-Künstler Sjon mit dem tschechischen Experimentalmusiker Ondrej Adamek und dem Berliner Kammermusikensemble Neue Musik sein Gedicht "Schamanenzauberei" vor. Auf der Bühne ist eine pneumo-mechanische Apparatur zu bestaunen, die per Luftstoß die Klanglichkeit menschlicher Organe imitiert. Auch im "Dichtraum-Denkraum" im U-Bahnhof Brandenburger Tor versuchte man, neuer Lyrik mehr Gehör zu verschaffen. Unter dem inoffiziellen Motto "Ran an die Leute!" lasen hier deutsche Nachwuchsdichter gegen das hektische Treiben an und schrieben gemeinsam mit Passanten Gedichte. Luise Boege präsentierte ihre Form der lyrischen Gegenwartsaneignung: die 26-Jährige ließ ihre Texte mehrfach durch Googles Übersetzungssoftware laufen, was ihre Gedichte zwar entstellte, aber sie wenigstens auf den eingangs erwähnten "Marktplatz" Internet zurückholte.

    "Es gibt die Poesie, und es gibt mehr Menschen, die Gedichte schreiben, als Menschen, die Gedichte lesen. Das ist ein abgeschlossenes Paralleluniversum zur echten Welt. Und was mich immer interessiert und was ich gerne herausfinden würde, ist, woran das liegt, ob sich einfach die Struktur der Welt geändert hat, dass gar kein Bedürfnis mehr gibt, oder ob es an der Lyrik liegt, dass sie einfach immer an der Welt vorbei zielt. Ich glaube es ist eher immerzu ein Hinterfragen: was bedeutet das, und: gibt's die echte Welt auch, oder gibt's nur die eigene."

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    Die Ausstellung "Movens" in der Akademie der Künste zeigte, dass die Verbreitung von Lyrik heute digital abläuft: beim mehrsprachigen Gedichtgenerator "Babel Poesie", bei der Manessischen Liederhandschrift in digitalisierter Edition oder beim Internetarchiv lyrikline.org mit 7000 Gedichten von 700 Dichtern aus der ganzen Welt. Um das Verhältnis zwischen Lyrik und Lebenswirklichkeit ging es in der Festival-Sektion "Migration im Rücken" mit Dichtern, die die Flucht aus ihrem Heimatland und die Migration ins Exil geprägt hat. Fiston Mwanza Mujila, der 2007 aus dem Kongo flüchtete und heute in Graz lebt, erklärte, er könne als Dichter nur über die schrecklichen Dinge aus der Vergangenheit schreiben, denn die Schönheit sei dagegen etwas Banales. Während Fiston Mwanza Mujila Lyrik als Ausdruck seines Schmerzes, seiner Wut und Trauer über die Verbrechen in seiner Heimat sieht, hat der Iraker Abbas Khider, der wegen seiner politischen Aktivitäten mit 19 Jahren inhaftiert und gefoltert wurde und nach vielen Jahren in Flüchtlingslagern nun in Berlin lebt, in der Dichtung erstmals die Schönheit entdeckt. In Berlin habe sich ein Traum für ihn erfüllt:

    "Erstaunlicherweise bin ich jemand, der jetzt gern auf dem Sofa hockt. Ich war immer, das ganze Leben wirklich unterwegs. In der deutschen Sprache habe ich die Freiheit, über alles zu schreiben. Es gibt keine Zensur oder Grenzen. Ich kann wirklich über viele Dinge schreiben, ohne Ängste. Deswegen ist die deutsche Sprache für mich zu einer poetischen Tat geworden."

    Abbas Khider, der seine beiden Romane auf Deutsch verfasst hat, für seine Gedichte aber das Arabische vorzieht, zeugt auch vom Grundproblem der internationalen Vernetzung von Lyrik. Dass Übersetzungen von lyrischen Werken nur sehr frei und unter Verlust der sprachlichen Einmaligkeit funktionieren, war auch der Tenor der Festival Sektion "Versschmuggel" mit jungen deutschen und französischen Dichtern, die sich gegenseitig übersetzen. Wer sollte es auch sonst tun? Die Anzahl der Übersetzungen neuer französischer Lyrik ins Deutsche tendiert seit Jahren gen Null. Das Problem der mangelnden Verbreitung und Präsenz von Lyrik in der Gegenwart wischte das Festival in Berlin aber gekonnt beiseite: zu offensichtlich waren hier der Enthusiasmus neuer Lyriker und die lebendige Vielfalt ihrer Werke.