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Dichter, Gauner, Sänger

"Odessa ist eine abscheuliche Stadt. Das weiß jedermann: Statt "das ist ein großer Unterschied" sagt man dort "'das sind zwei große Unterschiede", und auch sonst sagt man vieles anders. Ich glaube aber, man kann auch vieles Gute über diese bedeutende und bezaubernde Stadt des Russischen Reiches berichten. Wohlgemerkt, es ist eine Stadt, in der es sich leicht und hell leben lässt."

Von Uli Hufen |
    Als Isaak Babel 1916 diese vielleicht berühmtesten aller Sätze über seine Stadt niederschrieb, war Odessa eine erst 120 Jahre alte Schönheit. Der Mythos der lebensfreudigen, kosmopolitischen, freien Stadt Odessa stand in voller Blüte.

    Heute, knapp 100 Jahre später, erlebt Odessa eine Zeit des Welkens, wie sie die Stadt schon mehrfach erlebte. Es ist "ein poetisches Vergehens, in dem ein Hauch von Sorglosigkeit und sehr viel Hilflosigkeit liegen." Babel kannte auch das.

    Der Mythos aber lebt fort. Die Lange Nacht erzählt von diesem Mythos, seiner Entstehung und Pflege. In literarischen Texten und Interviews, vor allem aber mit Liedern. Denn außer genialen Kriminellen und Dichtern hat nichts den Mythos der 'abscheulichen' Stadt Odessa mehr befördert, als ihre Chansons.


    Es ist ein warmer Spätsommertag des Jahres 1789, an dem unsere Geschichte beginnen soll, vor 213 Jahren also. Genau genommen ist es der 17. September 1789. Europa ist in erheblichem Aufruhr in diesen Tagen. Vor zwei Monaten wurde die Bastille gestürmt, die französische Revolution hat begonnen. Aber auch weiter links auf der europäischen Bühne, fast 2000 Kilometer östlich von Paris, am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres trägt sich Welthistorisches zu. Schon zwei Jahre befindet sich Russland im Krieg mit dem Osmanischen Reich. Im Sold von Zarin Katharina II. stehen Abenteurer aus ganz Europa.

    Einer von ihnen ist ein Mann mit dem klangvollen Namen Don Joseph de Ribas. Don Joseph stammt aus Neapel, seine Vorfahren sind spanischer und irischer Abstammung. Der Don ist was man einen Glücksritter nennt und an diesem 17. September 1789 hat er seinen größten Tag, an diesem Tag wird sein Name in die Geschichte eingehen. Warum? Nun, an diesem Tag erobert ein russisches Kommando unter de Ribas Führung die türkische Festung Yeni-Dunai, die sich an einem Ort namens Chadzhibej befindet. Yeni-Dunai? Chadzi-was? werden Sie jetzt vielleicht fragen und haben damit ganz Recht. Die Eroberung einer obskuren türkischen Festung irgendwo am Schwarzen Meer hätte gewiss nicht gereicht, um Don Joseph de Ribas unsterblich zu machen. Aber Geduld! Fünf Jahre später, am 27. Mail 1794 befiehlt Zarin Katharina II., genau hier, in Chadzhibej, einen Hafen und eine Stadt zu erbauen. Und dieser Stadt verdankt de Ribas seine Unsterblichkeit, genau wie sie ihm ihre Geburt verdankt. Der Name der neuen Stadt ist Odessa und der berühmteste Boulevard in Odessa trägt schon lange den Namen des neapolitanischen Glücksritters.

    Zwei Gesichter prägen das Alltagsbild von Odessa. Die Neureichen bestimmen vor allem das Leben in den Szenecafés an der Flaniermeile Deribasiwska - unaufhörlich in ihre Handies quasselnd. Mafiosi-Gestalten durchkreuzen in ihren metallic-glänzenden 7er BMWs die Straßen.
    Mare: Kleine Fluchten, verblichene Pracht


    Links zu Odessa:

    Offizielle Website von Odessa: http://www.odessa.ua/

    Fotos mit vielen Stadtansichten Odessas


    Berühmt durch "Panzerkreuzer Potemkin"

    Odessa ist die Stadt, in der Sergej Eisenstein 1925 einen der berühmtesten Filme der Kinogeschichte drehte, den "Panzerkreuzer Potemkin". Der Film mit der berühmten Treppenszene, in der ein Kinderwagen inmitten von Gewehrfeuer, Blut und Tod langsam die Stufen einer weiten Freitreppe hinabrollert. Eine andere Revolution tobt, die von 1905. Das Bild von der Treppe kennen viele und es steht besonders im Westen für Odessa, wie wenig sonst.

    Eisensteins Film über die Meuterei auf dem Panzerkreuzer ist vielen bekannt. Aber was geschah wirklich? Mare: Meuterei auf der Potjomkin


    Der Mythos vom ungezwungenen Leben

    Für die Menschen in Russland, der Ukraine und in weiten Teilen Osteuropas ist Odessa aber viel mehr als ein alter Kinderwagen, der in schwarz-weiß eine tolle Treppe hinunter ruckelt. Seit 200 Jahren versorgt die Stadt die Welt mit berühmten Musikern und Schriftstellern. Der Pianist Emil Gilels und der Geiger Nathan Milstein studierten hier, Isaak Babel wurde hier geboren und die Idee des Zionismus stammt auch aus Odessa. Die russische Musik des 20. Jahrhunderts, egal ob populär oder klassisch, ist ohne Odessa kaum vorstellbar, die Bedeutung der Odessaer Filmstudios ist groß und nicht zuletzt kommen viele der großen sowjetischen Komiker und Entertainer aus Odessa. Doch da ist auch noch etwas ganz anderes, schwerer Greifbares und Beschreibbares: Odessa ist in der russischen Imagination ein Ort der Freiheit. In Odessa lässt es sich, in Isaak Babels berühmter Formulierung, 'leicht und hell leben'. Und der Umstand, dass Odessa auch immer eine Hauptstadt der Ganoven und Gangster war, spricht nicht gegen diese Behauptung, sondern für sie. Hunderte Chansons und Dutzende Chansonniers feiern "Odessa-Mama" und schreiben den Mythos vom ungezwungenen Leben am Ufer des Schwarzen Meeres fort.

    Tanz schneller, Genosse und vergiss das Weinen nicht! Eine Lange Nacht über russische Popmusik


    Isaak Babel als Reporter

    Im Laufe eines halben Jahres, von Februar bis Juli -1918, schrieb der damals 24jährige Isaak Babel insgesamt :17 Reportagen aus Petersburg für die von Maxim Gorki herausgegebene Tageszeitung "Nowaja schisnj" (Neues Leben), das Organ der Sozialdemokratischen Partei (Menschewiki). Kaum ein Autor dieser Zeit hat das Alltagsleben in den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution mit solcher Unbefangenheit und Eindringlichkeit dargestellt wie Babel.

    Europas neue Ufer: Rundreise um das Schwarze Meer (Teil 2) und Teil 1

    "Hüte dich vor Fischern, Kriegsschiffen und griechischen Frachtern", sagt der Kapitän, während sein Schiff Kurs auf Odessa nimmt. Der Beginn einer Rundreise um das Schwarze Meer, mit Schiffen, Zügen, Bussen und Sammeltaxis. In eine Weltregion, die immer Grenzgebiet der Reiche und Religionen war - zwischen Europa und Asien, Ost und West, Christentum und Islam.


    Literaturtipps:

    Joachim Baumann, Uwe Moosburger: Odessa, Facetten einer Stadt im Wandel
    Pustet Verlag, Regensburg 2003, ISBN 3-79171-848-7, 24,90 Euro

    Odessa ist eine junge Stadt, nur etwas mehr als 200 Jahre alt. Dennoch hat sie viel zu bieten: Architektonische Kostbarkeiten wie das Operntheater, musikalische Genies wie David Oistrach, weltberühmte Sehenswürdigkeiten wie die legendäre "Potemkin"-Treppe – das sind einige Perlen der ukrainischen Hafenstadt am Schwarzen Meer.


    Nadja Helling, Brigitte Schulze: Einladung nach Odessa - ein Wegweiser
    Impulse, Weilheim 2005. ISBN 3-9810467-0-6, 14,80 Euro


    Artur Grossmann: Die Krim - mit Lemberg, Kiew und Odessa. Reisehandbuch
    Reise Know-How Verlag Rump, ISBN: 978-3831715152, 19,90 Euro


    Edgardo Cozarinsky Die Braut aus Odessa. Erzählungen
    Wagenbach Verlag, ISBN: 978-3803131973, 17,50 Euro

    Sieben wunderschöne Erzählungen über Emigranten im 20. Jahrhundert. Ihre Spuren führen von Odessa nach Buenos Aires, von Wien und Budapest nach Lissabon und Paris.

    Der einst nach Frankreich emigrierte Argentinier Edgardo Cozarinsky widmet sich nach nach seinem Roman "Die Braut von Odessa" erneut Einwanderen - diesmal jüdischen Einwanderern, die aus Osteuropa nach Argentinien kamen. (Radiofeuilleton, Kritik: Jüdische Lebens- und Leidensgeschichten)


    Isaak Babel: So wurde es in Odessa gemacht
    Reclam Verlag, ISBN: 978-3150099520, 3,40 Euro


    Isaak Babel: Tagebuch 1920 (Ein Winterbuch)
    Friedenauer Presse, ISBN: 978-3921592595, 18,50 Euro

    In seinem Tagebuch 1920 hält Isaak Babel die Schreckenstaten der Roten Armee im Russisch-Polnischen Krieg Tag für Tag fest. Nichts wird vertuscht, nichts beschönigt. Das Tagebuch wurde jahrelang von einer Freundin Babels in Kiev versteckt, die es später Babels Ehefrau übergab. Erst im Zuge der Perestroika konnte es erstmals vollständig publiziert werden.
    Diese Postkarte aus dem 19.Jahrhundert zeigt die Potemkinsche Treppe von der Altstadt Odessas zum Hafen
    Diese Postkarte aus dem 19. Jahrhundert zeigt die Potemkinsche Treppe. (Detroit Publishing Company)