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Dichtkunst als Lebensmittel

Besonders überraschend waren beim Berliner Poesiefestival die Poetry-Slams namens "I, Slam". Aber auch Bekanntes erschien immer wieder anregend, etwa Lesungen auf öffentlichen Plätzen, eine Ausstellung sowie Gespräche, in denen Dichter ihre Arbeit reflektierten.

Von Oliver Kranz |
    Die genauen Besucherzahlen stehen noch nicht fest, aber man kann davon ausgehen, dass die 10.000er-Marke auch in diesem Jahr überschritten wird. Das Poesiefestival ist ein Besuchermagnet. Die Gründe liegen, wie Thomas Wohlfahrt findet, auf der Hand. Er leitet die Berliner Literaturwerkstatt, die das Poesiefestival organisiert.

    "Ich glaube, die Lyrik hat im Buch ein wunderbares Medium, es ist aber nicht optimal, weil 50 Prozent dessen, was ein Gedicht ausmacht, nämlich Klang, Rhythmus, gar nicht vorkommt im Buch. Wie eine Partitur, eine Notenschrift, braucht es das Instrument, das zu verlebendigen. Das ist der Dichter am besten mit seiner Stimme."

    Beim Poesiefestival treten Dichter auf – mehr als 150 waren es in diesem Jahr, aus 40 verschiedenen Ländern. Schon der Eröffnungsabend machte klar, was mit Lyrik alles möglich ist. Da wurden Sonette vorgetragen, freie Verse, Texte aus zufällig generierten Codes und dadaistische Lautgedichte.

    Der Kanadier Christian Bök gehört zu den renommiertesten Lautpoeten seines Landes. Seinen "Doomesday Song" hat er Friedrich Nietzsche gewidmet, anlässlich des Todes von Superman. Das klingt nach Nonsens, ergibt aber durchaus Sinn: erstens, weil Bök wie Nietzsche sehr viel Energie verströmt. Zweitens weil im Krak und Boom der Comicsprache, die das Gedicht zitiert, sehr viel Doom steckt – auf Deutsch: Unheil.

    Christian Bök wurde vom Publikum gefeiert, ebenso wie die sieben anderen Poeten, die bei der Eröffnungsnacht ihre Gedichte vortrugen, natürlich in der jeweiligen Originalsprache. Die Übersetzungen konnte man in einem Buch mitlesen, das am Eingang kostenlos verteilt worden war. Und mit dem Buch erhielt man eine kleine Leselampe. Das muss erwähnt werden, weil sich gerade in solchen Details zeigt, wie perfekt das Poesiefestival organisiert ist.

    Neben den klassischen Lesungen gab es in diesem Jahr sehr viele Poetry Slams. Diese Veranstaltungsform haben sich neuerdings auch in Deutschland lebende Muslime zu eigen gemacht.

    "Salam Alejkum und herzlich willkommen zu der heutigen "I, Slam"-Veranstaltung in der wunderbaren Hauptstadt Berlin. Begrüßen Sie mit mir die Gastgeber, die Moderatoren, nein, die Erfinder von "I,Slam", Younes und Youssef."

    Younes Al-Amayra und Youssef Adlah werden fast wie Popstars gefeiert. Sie sind Mitte 20 und haben das Format erfunden: eine Bühne, sechs Minuten Redezeit, freie Themenwahl, keine Gotteslästerung. Die Idee zündete sofort.

    "Du wusstest, dass ich dich in schwarzem Ledermarkt. Jetzt bereue ich jeden Tag. Du machst Männer glücklich für Geld – so ähnlich wie Frauen auf der Reeperbahn. Keine Diskussion, denn das ist eh Haram. Ich schmeiß Dich mit Anlauf in den Müll und du fliegst wie Peter Pan."

    Sami El-Ali spielt in seinem Text "Liebesdilemma" mit erotischen Klischees. Man könnte ihn für einen argen Macho halten, doch die Schlusspointe dreht die Wirkung um. Der Text richtet sich nicht an eine Frau, sondern an einen alten Schuh, den sich der Poet am Ende vom Fuß reißt und in die Ecke schleudert. Das Publikum beim Poesiefestival war begeistert. Es applaudierte so heftig, dass Sami El-Ali zum "I, Slam"-Sieger gekürt wurde.

    "Spaß muss man irgendwann im Leben doch haben. Sonst würde es, glaube ich, zu langweilig werden, wenn es zu ernst wäre"

    Sagte eine Besucherin mit Kopftuch nach der Veranstaltung. Auch ein junger Mann mit Gebetskette war begeistert:

    "Islam bedeutet ja Gottergebenheit. Die Slammer interpretieren das für sich halt anders, als vielleicht ein Prediger das machen würde. Das ist ihre Art zu zeigen, dass sie gottergeben sind. Einer der Slammer hat zum Beispiel über seine Mutter ein Gedicht präsentiert und im Islam ist die Mutter sehr hoch angesehen. Man sagt: Das Paradies ist unter den Füßen der Mutter. Das geht miteinander einher – die Slam-Texte und der Islam, das ist kein Widerspruch."

    Ebenso wenig, wie Humor und Islam. Der "I, Slam" war die vielleicht überraschendste Veranstaltung des Poesiefestivals, die auch ein neues Publikum in die Akademie der Künste brachte. Ansonsten gab es viel Bekanntes und trotzdem immer wieder Anregendes: Lesungen auf öffentlichen Plätzen, eine Ausstellung und Poesiegespräche, in denen Dichter ihre Arbeit reflektierten.

    Besonders spannend war die Gesprächsreihe "Home – Exit – Home", in der Autoren, die freiwillig oder unfreiwillig im Exil leben oder gelebt haben, darüber berichteten, was ihnen ihre Heimat bedeutet – zum Beispiel die in Kanada lebende Ägypterin Iman Mersal. Sie betonte, dass sie sich vor allem in der arabischen Sprache zu Hause fühle, egal, wo sie gerade sei. Ganz anders die Albanerin Luljeta Lleshanaku, die nach Jahren des Exils heute wieder im Haus ihrer Kindheit wohnt. Sie hat nur dort das Gefühl, wirklich schreiben zu können.

    Viele Stimmen, viele Gedanken, viele Einsichten. Das Festival hat auch in diesem Jahr gezeigt, dass Poesie Lebensmittel sein kann. Im mehrfachen Sinn des Wortes.