Archiv


Dick mit der Einschulung

Mit durchschnittlich 7,2 Jahren legen deutsche Kinder im Gewicht zu, beschreibt der Sportmediziner Perikles Simon. Die Gründe sind unklar und auch bei der Suche nach Gegenstrategien sei der Heilige Gral noch nicht gefunden.

Perikles Simon im Gespräch mit Manfred Götzke | 13.08.2012
    Manfred Götzke: Kinder in Deutschland werden immer amerikanischer – zumindest, was das Gewicht angeht. Mittlerweile ist jedes fünfte Kind im Alter von acht Jahren übergewichtig. Ein Grund dafür ist bekannt, die Kinder spielen heute seltener Verstecken und Fußball und sitzen häufiger vor Rechner oder Konsole. Jetzt haben allerdings Sportmediziner der Universität Mainz mal ganz genau untersucht, wann die Kinder zunehmen. Und das Ergebnis ist ziemlich interessant: Die meisten werden im Alter von 7,2 Jahren dick, also kurz nachdem die Kinder eingeschult werden. Der Sportmediziner Perikles Simon ist der Leiter dieser Untersuchung.

    - Herr Simon, kann man also sagen: Einschulung macht dick?

    Perikles Simon: Ja, man kann zumindest sagen, dass in diesem Zeitraum die Gewichtszunahme beginnt. Was da letztendlich der eigentliche Anlass für ist, das wissen wir nicht sicher. Also, es könnte sein, dass diese Einschulung letztendlich nur den Stein ins Rollen bringt, der aber sowieso schon unterwegs war. Beispiel: Wenn man jetzt durch die Einschulung einen kleinen zusätzlichen Stressfaktor hat und vorher schon darauf geprimet war, unter Stress eben jetzt Gewicht zuzulegen, dann könnte das eben das letzte Quäntchen gewesen sein. Es kann aber auch wirklich so sein, dass in der Schule ein Problem besteht. Wir halten das für etwas unwahrscheinlicher, als dass das Problem irgendwo anders herkommt.

    Götzke: Das heißt aber schon, dass Sie vermuten, dass Kinder, die Stress damit kompensieren, dass sie mehr essen, dann besonders gefährdet sind, wenn sie Stress in der Schule haben?

    Simon: Das wissen wir nicht. Wenn man ehrlich ist, ist es momentan alles hypothetisch. Und das Gute ist auch, dass wir das jetzt recht sicher wissen, dass das alles hypothetisch ist. Ich meine, wir haben diese Zeitphase, auf die es jetzt ankommt. Und das ist eigentlich schon etwas, was jetzt ins Bewusstsein überhaupt erst reinkommt. Dass man sich die Frage stellt, ja, wann taucht das Problem überhaupt auf des Übergewichts? Und wenn man das dann so klar auf einen Zeitraum begrenzen kann, dann kann man jetzt die Ursachenforschung betreiben, aber vorher eigentlich nicht. Und wir waren zuvor schon fleißig unterwegs, zu intervenieren, also zu schauen, wie bringen wir denn jetzt das Gewicht wieder runter, oder auch teilweise, wie verhindern wir, dass das Übergewicht überhaupt auftritt? Und da waren wir leider noch nicht sehr erfolgreich.

    Götzke: Können wir trotzdem gleich noch mal drüber reden. Aber es ist ja doch sehr, sehr interessant, dass genau zu diesem Zeitpunkt die Zunahme so stark sich vollzieht. Welchen Umfang hat das Ganze, wie viele Kinder werden denn dick mit der Einschulung?

    Simon: Na ja, das ist für Deutschland dann schon erheblich. Denn es geht hier um zehn Prozent der Kinder, die jetzt über das Maß hinaus, das es jetzt schon in den 80er-, 90er-Jahren gab an übergewichtigen Kindern, dann auftritt. Also, wenn Sie in so einer Alterskohorte sich das anschauen, dann ist das einfach ein nennenswerter Anteil. Da sprechen wir dann von 200.000 Kindern sicherlich, die da ein Übergewichtsproblem in dieser Phase entwickeln.

    Götzke: Was passiert dann mit denen? Also, geht das Gewicht irgendwann wieder zurück oder bleiben diese Kinder dick in der Regel?

    Simon: Die bleiben in der Regel dick. Das ist jetzt allerdings nur die Aussage aus dem statistischen Mittelwert. Man muss da immer vorsichtig sein. Selbstverständlich gibt es Kinder, die dann wieder schlank werden, und auch andere, die erst später dick werden. Aber das sind dann eben relativ gesehen Ausnahmen.

    Götzke: Woran liegt das denn? Mangelnder Wille, abzunehmen, oder gibt es da noch andere, ja, hypothetische Gründe, sage ich jetzt mal?

    Simon: Nein, da gibt es sogar relativ handfeste Gründe, weshalb die es nicht schaffen, wieder abzunehmen. Und die hat man erst in den letzten Jahren richtig entdeckt und untersucht. Also, zum Beispiel, dass das Fettgewebe auch Hormone aussendet, die dafür sorgen, dass der Gewichtsabnahme entgegengearbeitet wird, massiv. Das heißt also, das Fettgewebe kann man sich auch als gutartigen Tumor vorstellen, der sich gerne selber ernährt sehen möchte und das auch auf Kosten des restlichen Körpers teilweise macht. So gesehen muss man auch ein bisschen verstehen, dass eine Gewichtsabnahme auf gar keinen Fall eine spaßige Angelegenheit ist. Die ist im Gegenteil eher in der Regel etwas schwerer, als sich das so der Normalgewichtige vielleicht vorstellt.

    Götzke: Kommen wir vielleicht noch mal auf die Schule zu sprechen. Die Schule ist ja heute viel stärker als früher auch für die Ernährung mit zuständig, jedenfalls wenn es die Ganztagsschule ist. Wie hat sich das auf diese Probleme, die Übergewichtigkeit ausgewirkt?

    Simon: Wir wissen einfach nicht, was es bedeutet für das Kind, dass es jetzt außerhalb vom häuslichen Umfeld eben doch fast die meisten Kalorien des Tages zuführt. Und das ist nicht einfach. Dieser Prozess läuft dann teilweise sehr unkontrolliert ab. Die Schulen sind auch auf dieses Ganztagskonzept noch nicht so lange eingestellt. Man weiß aus den eigenen Erfahrungen und von den eigenen Kindern her, dass es um die Schulen herum jede Menge Möglichkeiten für Kinder gibt, sich auch anderweitig ungesund zu ernähren. Also, das muss gar nicht die Schulkantine schuld sein, wenn ein Kind ...

    Götzke: ... aber der Kiosk und das Snickers und die Pommes in der Umgebung ...

    Simon: ... ganz genau. Die sind ja automatisch, also sehr häufig bei den Schulen, auch noch direkt in der Umgebung. Und wer kontrolliert diese Kinder? Also, ich sage mal: Der Staat muss sich bewusst sein in sehr, sehr vielen Gesundheitsfragen, die er jetzt vielleicht noch nicht im Blick hat, bedeutet eben ein Ganztagsunterricht auch, dass die Erziehung, die normalerweise durch das Elternhaus stattgefunden hat, jetzt übertragen wird auf die Schule. Und dafür muss die Schule gewappnet sein, dafür bräuchte sie auch entsprechendes Personal, das auch entsprechend ausgebildet ist.

    Götzke: Sie meinen eine gezielte Ernährungserziehung?

    Simon: Da muss ich sagen, dass es schon gute Interventionsstudien gibt, die zeigen, dass das leider nicht den gewünschten Effekt erbringt. Also, die Frage ist, ob das reicht, eine Ernährungserziehung. Vielleicht braucht man tatsächlich auch Kontrolle. Und im Elternhaus ist eben diese Kontrolle gegeben. Vielleicht braucht das Kind Zuwendung, Ansprache und all das. Das sind Dinge, die man sich einfach überlegen muss. Also, ich sage mal: Natürlich gibt es sehr viele Kinder, die vielleicht in einem Ganztageskonzept deutlich besser aufgehoben sind als auch im Elternhaus, das vielleicht sehr problembehaftet ist. Aber das Ganze gilt auch in der anderen Richtung und wir müssen uns einfach überlegen, was für eine durchschnittliche Qualität wollen wir in der Betreuung in diesem Ganztagsunterricht?

    Götzke: Gibt es Vorbilder, Länder, Regionen, die das gut gelöst haben mit Ganztagsunterricht und Ernährung?

    Simon: Wenn ich ehrlich bin: nicht, dass ich wüsste. Das Problem ist ungelöst. Also, wir wissen nicht exakt, wo und wie wir da ansetzen sollen. Und ich bin mir sicher, die USA haben über ihr Übergewichtsproblem in der Bevölkerung verstanden, dass sie durchaus viel Geld jetzt bereit sind, zu investieren und auch investieren müssen. Und trotzdem hat man den Heiligen Gral sicher noch nicht gefunden.

    Götzke: Aber so schlimm ist es bei uns ja zum Glück noch nicht?

    Simon: Doch, bei uns ist es, wenn man sich die Zahlen anschaut, so ziemlich genau so schlimm wie in den USA. Man überschätzt diesen Faktor der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben mächtig aufgeholt in den letzten 20 Jahren. Das Einzige, wo uns die USA im Thema Übergewichtig noch überlegen sind, ist das absolut morbide Übergewicht, also die Schwerstübergewichtigen. Und die fallen natürlich dann auch ganz besonders stark ins Auge. Aber ansonsten stehen wir leider nicht anders da.

    Götzke: Herr Simon, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

    Simon: Danke auch!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.