Bertram Eisenhauer ist etwas ganz Ungewöhnliches gelungen. Er hat ein Sachbuch geschrieben, das ganz und gar romantisch ist, und er hat ein gesellschaftspolitisches Buch geschrieben, das vollkommen subjektiv ist.
"Weil ich ein Dicker bin" ist das Buch eines stark übergewichtigen leitenden Redakteurs bei der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", der davon berichtet, wie er ein Jahr lang im Rahmen einer Therapie versucht, Gewicht zu verlieren.
Eisenhauer beginnt bei 185,4 Kilogramm, und endet bei 169,4 Kilogramm. Sein Buch hat die Anmutung eines Tagebuchs, nicht zuletzt, weil es aus einer Reihe anonymer Kolumnen für die FAS hervorgegangen ist.
"Die Redakteurin hat oft zu mir gesagt, 'wollen Sie das wirklich so schreiben? Sie machen sich auch selber ein bisschen runter, und das ist ein bisschen hart', und so. Aber ich habe zu ihr gesagt, 'ja, hm, wenn wir das so ein bisschen milder schreiben – das kennt man alles schon'. Und ich habe mir, glaube ich, aber auch nicht in letzter Konsequenz klargemacht, dass man das dann derartig auf den Präsentierteller irgendwie legt. Es ist auch ironisch, dass ich sage, 'ich möchte nicht als Dicker wahrgenommen werden', und natürlich, durch das Buch werde ich jetzt grade erst einmal als Dicker wahrgenommen. Aber das ist so eine von den Ironiefallen, die es halt so gibt."
Durch die gesellschaftliche Körpernorm entwertet
Eisenhauer berichtet so ungefiltert aus seinem Seelenleben, dass auch die Rezensentin meint, sie müsse ihn vor sich selbst schützen. So schildert er, wie sich sein Gesicht verändert, als er nach ersten Diät-Erfolgen wieder rückfällig wird – und zu viel isst.
"Wenn ich mein richtig dickes Gesicht betrachte, als betrachtete ich das eines Fremden, würde ich im einen Moment sagen, es zeige einen verrohten, verschlagenen Charakter. Schon der nächste Blick jedoch findet in meiner Physiognomie eine blöd-naive Leutseligkeit, die mir noch unangenehmer ist. Die Verweichlichung, die das Ausladende meiner Züge suggeriert, lässt mich für manche Leute jünger erscheinen, als ich bin, so puppenhaft alterslos; das mag aber mit dem Bügeleffekt des Übergewichts zusammenhängen. Form muss sich dieses Gesichtsensemble ohnehin von meinem Bart leihen."
Das ganze Buch handelt davon, wie ein übergewichtiges Ich um Selbstachtung ringt: Es will sich vom abfälligen Urteil der Umwelt unabhängig machen, und kann sich doch selbst nicht anders wahrnehmen, als durch die gesellschaftliche Körpernorm entwertet. So sind Dicke, schreibt Eisenhauer, die wahrscheinlich letzte Gruppe, die noch weitgehend straflos diskriminiert werden darf. Ihr Problem gilt als selbst gemacht, da darf ihr Leid offenbar ruhig durch Verachtung noch vergrößert werden.
Reiten auf dem inneren Elefanten
"In einem Zeitalter, in dem am Arbeitsplatz immer weniger rohe Kraft gebraucht, der Körper nicht mehr länger als Schicksal aufgefasst wird, sondern unter Kontrolle gebracht werden kann und muss, hat man ihn zum Ausweis erfolgreicher Selbstdisziplin und –organisation gemacht. Wer dabei versagt, mit dem kann etwas nicht stimmen."
"…Und da gibt’s diese eine Sache, dieses elementare Ding, dieses Essen. Und das kriegst du nicht hin. Und das hat so Weiterungen, bis hinein, dass es einen einsamer macht, als es sein müsste."
Aber warum gelingt es nicht einfach, weniger zu essen, mehr Sport zu treiben, besser auszusehen, nicht mehr allein zu sein, mehr Lebensglück zu haben? Eisenhauer übernimmt vom US-amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt eine Metapher dafür, wie das dicke Ich sich selbst nur scheinbar unter Kontrolle hat: der innere Elefant. Demnach reitet das Selbst auf dem Elefanten, steuert ihn auch mit seinem Willen, den Zügeln – allerdings nur so lange, wie der Elefant nicht seinen eigenen Willen dagegen setzt.
"Und schon ist der Keks gegessen. Was sage ich: die ganze Packung."
Eisenhauer lehnt eine Magenverkleinerung ab – in seiner Gewichtsklasse gilt dies als eine der letzten Möglichkeiten, dauerhaft abzunehmen. Eine Operation käme ihm jedoch zu sehr vor wie der endgültige Beweis, dass er keine freie Persönlichkeit ist, sondern bloßes Opfer von Zwängen.
Selbstentblößung, die sich zum Leid bekennt
Die US-Dickenbewegung verlangt inzwischen eine Anerkennung des schweren Übergewichts als Behinderung. Die Gesundheitsforschung findet immer mehr Indizien, dass es oft biologisch schier unmöglich ist, nur aus eigener Willenskraft Gewicht zu verlieren. Doch Eisenhauer möchte sein Übergewicht nicht - oder jedenfalls nicht nur - als Krankheit begreifen:
"Ich zögere wirklich, es als Behinderung für mich selber zu bezeichnen, weil: Ich will nicht von einem bemitleidenswerten Zustand – dem Zustand des Dicken - in einen anderen Zustand wechseln – nämlich dem des Behinderten -, der auch mit vielen Vorurteilen umstellt wird. Auf der einen Seite beharre ich auf meiner Selbstbestimmung, auf der anderen Seite sage ich aber auch, ich nehme das als ein Verhalten an mir selber wahr, was Züge einer Sucht trägt."
"Ich habe also den Eindruck, dass ich eine Mitverantwortung, eine Mitschuld, wenn Sie so wollen, sicherlich an meinem krankhaften Übergewicht habe, aber dass das auch ein Schicksal ist."
Eisenhauer hat den medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Stand der Erkenntnis gut aufbereitet; wer selbst Rat sucht, wird in seinem Buch viele aktuelle Forschungsansätze und Quellen finden.
Nun ist Eisenhauer nicht der erste, der seriöse Recherche und eigenes Exempel zu einem dichten Text übers Dicksein verwebt. Ganz zu schweigen vom Geschäftsmodell der Frauenzeitschriften, die quasi vom Widerspruch zwischen Selbstbehauptung und Schlankseinwollen leben. Doch die Selbstentblößung, die nur ab und zu ironisch abgepuffert wird, die so rational durchargumentiert ist und sich eben doch zum Gefühl, auch zum Leid bekennt: Sie macht Eisenhauers Buch aus.
Bertram Eisenhauer: "Weil ich ein Dicker bin. Szenen eines Lebensgefühls." C. Bertelsmann Verlag, 336 Seiten, 19,99 Euro