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Die Ära Stalin

Josef Stalin beherrschte fast 30 Jahre lang das flächenmäßig größte Land der Erde, die Sowjetunion. Und er wurde zu einem der größten Massenmörder der Weltgeschichte. Das Stalin-Bild zurechtzurücken - ihn weder zu vergöttern noch zu verdammen - das hat sich nun der britische Historiker Geoffrey Roberts vorgenommen. Er betrachtet Stalins Rolle in der Epoche der Kriege - vom Zweiten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg. Michael Kuhlmann hat das Buch gelesen.

    "Brüder und Schwestern! Ein mächtiger Feind hat unser Land mit Krieg überzogen."

    Ein gefaßter Josef Stalin im Moskauer Rundfunk am 3. Juli 1941. Seit elf Tagen befand sich die Sowjetunion im Krieg mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Die größte Herausforderung, der sich der Moskauer Diktator im Laufe seiner Herrschaft gegenübersah. Wie die Sowjetunion den Angriff zurückschlug, wie sie danach halb Europa unter ihre Kontrolle brachte und zu einer Weltmacht wurde, das untersucht der britische Historiker Geoffrey Roberts in seinem neuesten Buch "Stalins Kriege". Mit einem provokanten Tenor.

    "Stalin war der Diktator, der Hitler besiegte und der dabei half, die Welt für die Demokratie zu retten."

    Vor allem, so erläutert Roberts, habe Stalin die UdSSR vor innerer und äußerer Bedrohung schützen wollen. Deshalb habe er unter anderem mit Hitler paktiert. 1941, so Roberts, habe der Diktator keinen Konflikt mit Deutschland gewollt - ob er ihn für einen späteren Zeitpunkt gewünscht habe, dieser Frage weicht der Autor aus. Die Rote Armee antwortete auf den deutschen Überfall zunächst mit einer offensiv geprägten Gefechtsfeld-Taktik - die zu katastrophalen Niederlagen führte.

    Roberts erklärt schlüssig, dass erst ein Umdenken Erfolge gebracht habe: Indem die Sowjets nämlich zu einer geschmeidigen Defensive übergegangen seien. Das Buch schildert aber nicht nur die militärischen Ereignisse, es wendet sich auch der Politik zu, den Konferenzen der Großen Drei von Casablanca, Teheran und Jalta. Auch dort, so Roberts, sei Stalin vor allem am Schutz der Sowjetunion gelegen gewesen. Einen osteuropäischen cordon sanitaire habe der Diktator zimmern wollen - kein Offensivbündnis. Aber:

    "Der Marshallplan und die Truman-Doktrin leiteten die Bildung eines antisowjetischen Westblocks ein, dem Stalin durch die Konsolidierung der kommunistischen Position in Osteuropa entgegenzuwirken suchte. In der Tat war für Stalin der Grund, den Kalten Krieg zu führen, nicht nur darin zu suchen, dass er die sowjetischen Interessen verteidigte, sondern auch darin, den Kriegstreibern im Westen eine politische und ideologische Niederlage zu bereiten."

    Die Terminologie in diesem Absatz ist kein Zufall. Roberts macht sich in seinen Wertungen weitgehend die Perspektive des Diktators zueigen. Er befasst sich zwar durchaus mit den stalinschen Verbrechen. Aber die arbeitet er eher pflichtschuldig ab. Wenn es dann um die praktische Politik geht, fällt Roberts über den Protagonisten meist milde Urteile.

    Ein Beispiel ist seine Sicht auf Stalins Verhalten gegenüber dem Warschauer Aufstand von 1944. Den Verdacht, dass der Tyrann kühl zusah, wie die Wehrmacht die polnische Heimatarmee niederwalzte und zehntausende Zivilisten massakrierte, diesen Verdacht bezeichnet der Autor als - so wörtlich - "eher abwegig".

    Roberts erklärt vielmehr ausdrücklich - wenn auch ohne besonderen Hinweis auf Quellen -, dass Stalin mit einem Erfolg der Polen gerechnet - und auch deshalb nicht eingegriffen habe. So weit, so gut. Nur - sechs Seiten weiter liest es sich anders: Seine Generäle nämlich hätten Stalin vor der Stärke der deutschen Truppen im Raum Warschau gewarnt, schreibt Roberts. Und überdies habe der Diktator selbst von der Schwäche der polnischen Heimatarmee gesprochen.

    Das Buch kann also den landläufigen Vorwurf des stalinschen Verrats am polnischen Widerstand keineswegs entkräften. Doch auch beim Blick auf Stalins Pläne für das Nachkriegs-Osteuropa nimmt der Autor seinen Protagonisten über Gebühr in Schutz: Geradezu lammfromm erläutert Roberts Stalins Pläne von "Neuer Demokratie" und Volksdemokratie. Und das klingt dann im Grunde nach harmlosen Reformstaaten voller zufriedener Menschen.

    Der Frage, wie weit es sich bei solchen Staaten noch um Demokratien gehandelt hätte - das Buch beantwortet sie nicht. Auch wie sich jene "Neue Demokratie" zum bekannten Zitat Walter Ulbrichts von 1945 verhielt - "Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben" - Roberts äußert sich nicht dazu. Doch aus seiner Sicht heiligte der Zweck offenbar die Mittel:

    "Für mich ist die Herrschaft Stalins nicht eine simple Moralgeschichte über einen paranoiden, rachsüchtigen und blutdürstigen Diktator. Es ist die Geschichte einer mächtigen Politik und Ideologie, die sowohl nach utopischen als auch nach totalitären Zielen strebte. Stalin war ein Idealist, der bereit war, jedwedes Mittel an Gewalt anzuwenden, das ihm nötig erschien, seinen Willen durchzusetzen und seine Ziele zu erreichen."

    Das Buch irritiert den Leser aber auch mit Blick auf das sowjetische Herrschaftssystem. Der Kreml erscheint hier als eine Art Black Box - von der rationale Entscheidungen ausgegangen seien. Kaum ein Wort darüber, dass das Prinzip des Schreckens, die Intrigen und der Verfolgungswahn bis in die obersten Führungsetagen hinein herrschten - wie Simon Sebag Montefiore in seiner Arbeit über den "Hof des roten Zaren" gezeigt hat.

    Wer also Roberts Buch aufschlägt, der sollte Erkenntnisse darüber und auch über die praktischen Folgen stalinscher Politik für Millionen Menschen im Hinterkopf haben. Und er sollte sich in Erinnerung rufen, dass der Idealismus im Denken und Tun des Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili wohl eher ein Mauerblümchendasein führte.

    Das vorausgeschickt, bringt "Stalins Kriege" freilich detailliert auf den Punkt, welche Taktiken der Moskauer Diktator anwandte, um die Nachkriegswelt in seinem Sinne zu gestalten. Damit kann das Buch eine gut sortierte Bibliothek durchaus bereichern. Man sollte es nur nicht ausschließlich lesen.

    Geoffrey Roberts: Stalins Kriege. Vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg
    Aus dem Englischen von Michael Carlo Klepsch,
    Patmos Verlag, Düsseldorf 2008,
    501 Seiten, 39,90 Euro