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Die akademische Kultur befreien

Für den Widerstreit, gegen institutionelle Normen: Die kalifornische Philosophin Judith Butler stellt sich in die Tradition der Aufklärung. In ihrer Streitschrift plädiert sie für eine offene, schrankenlose Universität - und kritisiert einen ehemaligen US-Präsidenten.

Von Klaus Englert |
    Judith Butler treibt eine Ethik um, der es nicht um Moralvorschriften geht. Nicht um unverbrüchliche soziale Werte. Sie lässt sich von einer Ethik leiten, die selbstbestimmt ist. Einer Ethik, die unmittelbar an die Existenz des Individuums geknüpft ist. Vor ein paar Jahren, als noch George W. Bush die Geschicke der Vereinigten Staaten bestimmte, verteidigte Butler noch Ethik als Gegenmodell zur herrschenden Kriegsrhetorik:

    "Mir geht es um die Frage, inwieweit eine Ethik möglich ist, die für die Menschen wirklich lebensfähig ist, ihnen also keine Gewalt antut und in keiner Weise mit Gewaltausübung assoziiert werden kann."

    Judith Butler stieß sich damals am patriot act, den der amerikanische Präsident durchsetzte, um viele Bereiche des öffentlichen Lebens besser kontrollieren zu können. Die international renommierte Philosophin, die an den Universitäten in Berkely und Saas Fee lehrt, wetterte damals gegen die bedenkenlose Kriegshysterie und die damit einhergehende Aushöhlung moralischer Werte. So veröffentlichte sie "Gefährdetes Leben", ein Buch, das auf Vorlesungen an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität zurückgeht und unter dem Motto steht, eine "Kritik der ethischen Gewalt" zu begründen.

    Judith Butler greift in ihrer neuesten Publikation "Kritik Dissens Disziplinarität" dieses Motto wiederum auf, um es in einer etwas anderen Perspektive zu beleuchten. Dieses Mal behandelt sie die Tradition der Aufklärung, die sie als "philosophisches Ethos der Moderne" (S. 39) versteht. Auch das neue Buch, das streckenweise manifestartigen Charakter hat, steht noch unter dem Einfluß der Bush-Ära, obwohl es erstmals im Sommer 2009, also nach Barack Obamas Wahlerfolg, veröffentlicht wurde.

    Butlers Thema ist zwar der Wissenschaftsbetrieb. Aber sie verteidigt eine lebendige Diskussionskultur und plädiert für eine offene, schrankenlose Universität, die ihre insulare Lage in der Gesellschaft verabschieden müsse. Mit Bezug auf Jacques Derrida verlangt sie die "unbedingte Universität" als – wie es bei dem französischen Meisterdenker heißt – "Ort letzten kritischen Widerstands gegen alle dogmatischen und ungerechtfertigten Versuche, sich ihrer zu bemächtigen" (S. 12).
    Trotz dieser historischen Bezugnahmen hat Butlers Streitschrift keineswegs an Aktualität verloren. Denn die Beschränkungen akademischer Freiheit bestehen fort, gleichgültig ob damit staatliche Regulierungen oder eben die wachsende Abhängigkeit von privaten Geldgebern gemeint sind. Die kalifornische Philosophin ist offenbar davon überzeugt, dass weiterhin bestimmte intellektuelle Abweichungen von der Norm als "schurkisch" gebranntmarkt werden. Das ist nicht zufällig eine Anspielung auf den Sprachgebrauch des ehemaligen amerikanischen Präsidenten. Butlers Essay zielt auf diese akademischen Normen, besser: die vermeintliche Legitimität der Normen:

    "Wenn wir vom Subjekt reden, dann dürfen wir keineswegs außer Acht lassen, dass es durch eine Reihe von Normen und Institutionen hervorgebracht ist."

    Judith Butler gehört nicht einfach zum Gros der Wissenschaftler, die unisono die akademische Freiheit verteidigen. Ihr geht es hauptsächlich um die Normen und Institutionen, welche die Freiheit allererst hervorbringen und verbürgen. Und ihr geht es um die scheinbar unverbrüchliche Legitimität dieser Normen und Institutionen. Deswegen fragt sie in dem Buch:

    "Was, wenn überhaupt, legitimiert solche Normen?"

    In dieser Fragestellung zeigt sich für Judith Butler das Dilemma der humanities – der Geisteswissenschaften - an den amerikanischen Universitäten:

    "Entweder sind wissenschaftliche Normen notwendige Beschränkungen, die wir besser nicht hinterfragen, wenn wir die akademische Freiheit bewahren wollen, oder wissenschaftliche Normen müssen einer inneruniversitären Prüfung standhalten, wenn wir die akademische Freiheit bewahren wollen". (S. 8).

    Judith Butler lässt keinen Zweifel daran, dass sie für die letzte Möglichkeit optiert. Gegen Ende ihres engagierten Essays wendet sie sich nochmals gegen George W. Bush, dem sie ankreidet, die akademische Kultur in den Vereinigten Staaten nachhaltig vergiftet zu haben. Gegenüber den eingeübten Unterwerfungsriten, gegenüber der Anpassung an akademische Normen ruft die Querdenkerin ihren Studenten ein "sapere aude" zu. Auch auf die Gefahr hin, dass sich dieses "Wage, Deinen Verstand zu gebrauchen" selbst als "schurkisch" herausstellen sollte.

    Judith Butler orientiert sich dabei an ihrem französischen Wahlverwandten Michel Foucault, der 1984 eine Wiederbelebung von Kants Projekt der Aufklärung forderte. In Foucault sieht die Repräsentantin der queer philosophy den Gewährsmann für einen "philosophischen Ethos" (Dits et écrits, IV, 575). Für Butler ist es spannend, wie Foucault kurz vor seinem Tod in "Was ist Aufklärung?" und "Was ist Kritik?" das wissenschaftliche Projekt mit dem eigenen Lebensentwurf zu verbinden vermochte. Wie er den "philosophischen Ethos" als Arbeit an uns selbst betrachtete, insofern wir freie Wesen sind.

    "Durch die Moralität fragen wir uns: 'Wer kann das Subjekt sein?' Durch sie befragen wir uns auch selbst. Ohne Subjekt gibt es keine Ethik. Und weil es immer Subjekte gibt, ist für mich eine subjektlose Ethik unmöglich. Beständig stellt sich die Frage: 'Was muss ich machen?' 'Wie muss ich leben?"

    Diese Gedanken klingen nicht wirklich originell. Auch einige Passagen aus "Kritik Dissens Disziplinarität" lesen sich wie Paraphrasierungen von Foucaults "Was ist Aufklärung?" Nur der historische und soziale Kontext hat sich deutlich geändert. Wenn sich Judith Butler heute wieder auf Foucaults philosophischen Ethos beruft, dann möchte sie am liebsten, dass sich damit unser Sehen und unsere Existenz, unsere Denk- und Verhaltensweisen ändern.

    ""Ethik kann verstanden werden als Innovation, als Improvisierung, ja sogar als soziales Experimentieren. Daran dachte Foucault, als er meinte, die Praxis der Kritik solle sich als Einübung in die Tugend erweisen. Neue Normen erstellen, nach denen man lebt, war für ihn Teil einer experimentellen Lebenspraxis. Das hat nichts mit schwacher Ethik zu tun, denn sie ist nicht bestimmt durch transhistorische Strukturen oder transzendentale Prinzipien."´"

    Butler meint, unser Leben stelle uns zwei Wahlmöglichkeiten bereit:

    "Wir möchten daran erinnern, dass Sokrates, wenn er gegen die Ungerechtigkeit des Gesetzes argumentiert, das ihn zum Tode verurteilt, deshalb nicht die Berechtigung hat, die Legitimität des Gerichtes oder des Staates in Frage zu stellen. Er weigert sich zu fliehen, weil er, obwohl er seine Strafe als ungerecht versteht, zum Staat gehört, wie er sagt, und weil sein ganzes Dasein und die Möglichkeit seines Gesprächs von diesem Staat abhängt. Ich denke, dass Foucault in einer derartigen Lage einen anderen Kurs einschlagen würde, dass er sich dem ungerechten Gesetz widersetzen und fliehen würde, um so die Unabhängigkeit seiner kritischen Haltung von jeder etablierten Regierungsmacht zu begründen. Die Freiheit zum Dissens muss als wesentlicher Bestandteil der Idee der Demokratie verstanden werden." (S. 49-50).

    Judith Butlers Kultur des Widerstreits mutet an wie ein Revival des französischen Denkens nach 68. Man mag mit Recht fragen, ob ihre Streitschrift angesichts der theorieresistenten Zeit der Bachelor- und Masterstudiengänge nicht hoffnungslos veraltet ist. Aber vielleicht ist sie gerade deswegen aktueller denn je. Nämlich um gegen den herrschenden Pragmatismus den Dissens als ethischen und politischen Imperativ wachzurufen.

    Judith Butler: "Kritik Dissens Disziplinarität" (aus dem Englischen von Regina Karl, Vera Kaulbarsch, Elias Kreuzmair und Adrian Renner), Diaphanes-Verlag, Zürich 2011.