"Ich kam auf die Welt, als Aborigines noch wie Affen behandelt wurden. Die Weißen dachten, wir seien der Staub der Erde, sie sahen auf uns wie zu Hunden herab. Uns war oft nicht erlaubt, die Städte zu betreten. Ich erinnere mich, dass meine Mutter mich auf dem Rücken trug und wir weglaufen mussten, besonders wenn Männer auf Pferden kamen und ihre Peitschen knallen ließen. Die dachten, das sei lustig. Dafür hasste ich sie!"
Klein und zart wirkt sie in ihrem blauen Kleid, dem grauen, krausen Haar – May O'Brien: Schriftstellerin, Lehrerin, Kämpferin für Frauenrechte und die Rechte ihres Volkes – der Aborigines. Klein und zart wirkt sie in ihrem blauen Kleid mit den Blumenmustern, dem grauen, krausen Haar, dem gewinnenden, breiten Lächeln im Gesicht - May O'Brien, die, als sie erzählt, alles andere als verbittert wirkt, sondern wie jemand, der eine längst vergangene Zeit Revue passieren lässt. Und sie berichtet davon, was es bedeutet, eine Aborigine zu sein in Australien. Sie zeigt auf alte Fotos:
"Das ist meine Mutter – und das mein Stiefvater, denn ich hatte ja einen weißen Vater. Meine Mutter war ungefähr zwölf, als ich geboren wurde. Ich wusste, wer mein Vater war. Ich traf ihn einmal, mochte ihn aber nicht. Er war jung, schikanierte meine Mutter, manchmal schlug er sie. Er lebte auf einer Viehstation. Wenn er kam, verkroch ich mich unter der Decke. Dann nahm er meine Mutter mit. Heute, wo ich alt bin, weiß ich wofür."
Rassentrennung und Kontrolle der Indigenen
Mischlingskindern wie May O'Brien war es nicht lange vergönnt, mit ihren Müttern zusammen zu leben. Australische Gesetze zum Umgang mit der Urbevölkerung entwickelten sich seit den 1920er-Jahren zu einem diffusen Gemisch aus Rassentrennung, Kontrolle der indigenen Bevölkerung und deren Erziehung zu einem für Weiße vermeintlich akzeptablen Lebensstil. Die Menschen wurden gezwungen, in eigens für sie gegründete Gemeinden zu ziehen. Die Rassentrennung sei auch während ihrer Kindheit in den 1930er-Jahren sehr strikt gewesen, erinnert sich May O'Brien:
"Als ich merkte, was los war, bekam ich Angst. Man sagte mir, dass weiße Männer kommen und mich wegholen würden. Dass ich um mein Leben laufen solle, falls ich einen Weiße sähe. Es gab da so ein Ritual, bei dem Holzkohle und Emufett vermischt und den Kindern auf die Haut getragen wurde, besonders den gemischtrassigen. Wenn unerwartet weiße Offizielle in unsere Gemeinschaften kamen, um hellhäutige Kinder abzuholen, würden sie uns nicht erkennen. Das bewahrte uns davor, von ihnen erwischt zu werden. Aborigines wussten das, denn es waren schon einige Kinder abgeholt worden, die nie wieder auftauchten. Manchmal hörten wir lautes Klagen, und wir fragten: warum? Dann hieß es, sie weinten um ihre Kinder, die sie nie wiedersehen würden, weil der weiße Mann sie mitgenommen habe."
"Wir hatten eine Bücherei in Mount Margaret"
Wie viele Mischlingskinder wurde auch May O'Brien ihrer Aborigine-Mutter weggenommen und unter dem Vorwand einer guten Erziehung und Ausbildung in einer Mission untergebracht. Ziel war es, sie wie die anderen hellhäutigeren Nachkommen für ein Leben im weißen Australien zu assimilieren. Eine der ersten Missionen im westaustralischen Outback für diese Aborigine-Kinder war Mount Margaret Mission – gegründet 1921 in einem abgelegenen Gebiet südlich der Goldgräberstadt Laverton:
"Wir erfuhren von Mount Margaret Mission, weil viele unserer Leute sagten, es sei ein guter Platz. Wir gingen zur Schule, wurden von den Missionaren unterrichtet. Es gab Landkarten an den Wänden, die zeigten, dass überall in Australien Leute lebten. Ich konnte das nicht verstehen, denn ich dachte, die einzigen Menschen des Universums seien unsere Leute vom Wongatha-Stamm und die Weißen in der Gegend. Und dann hatten wir eine Bücherei in Mount Margaret. Es war einfach phantastisch, neue Dinge zu lernen – vor allem, wenn du aus einer Aborigine-Familie kamst und Englisch eine neue Sprache war. Es war toll für uns!"
Heute ist O'Brien Leiterin für "Aboriginal Education"
May O'Brien wurde eine der ersten Aborigine-Frauen mit Hochschulbildung und der Qualifikation, dieses Wissen an Kinder aus ihrem eigenen Volk weiterzugeben. 25 Jahre lehrte sie an Grundschulen auf dem Land und in Städten, bis sie schließlich zur Leiterin für "Aboriginal Education" der westaustralischen Regierung berufen wurde, zuständig für die Bildungsanstrengungen des Bundesstaates gegenüber der indigenen Bevölkerung. Darüber hinaus erfuhr sie nationale und internationale Ehrungen. Eine einmalige Karriere in Australien. Doch auch sie musste erleben, dass sich die Lebensumstände gerade junger Aborigines bis heute nicht wesentlich verbessert haben:
"Es ist ein wenig traurig, viele junge Leute nehmen Drogen, ihre Familien kümmern sich zu wenig um sie. Wir schauen, was wir tun können, um zu helfen. Wir machen uns Sorgen wegen des Alkohols und der Drogen. Wenn du das nimmst, wie willst du da die Schule schaffen?"