Kürzlich hielt die amerikanische Philosophin Susan Neiman einen Vortrag vor sozialdemokratischen Spitzenpolitikern. Das Thema war das ihres jüngsten Buches: "Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten", so der Titel. Manche Genossen mochten sich vorab gefreut haben: Lässt sich vielleicht mit Kant für eine Reichensteuer plädieren? Und könnte man nicht unter Berufung auf den Kinder-Versteher Jean-Jacques Rousseau den mickrigen Hartz-IV-Satz für die Jüngsten scharf verurteilen? Doch Neiman musste tagespolitische Erwartungen enttäuschen. Ihr Leitfaden bietet keine fadenscheinige Anleitung zum Unschuldigsein im Berliner Betrieb. Die Chefin des Einsteinforums verzichtet darauf, die Weltformel für gute politische Entscheidungen zu versprechen. Sie leistet vielmehr hartnäckig Lobbyarbeit für den Mut zur Moral.
An Doppelmoralaposteln herrscht kein Mangel. Die Deutschen lieben es zum Beispiel, wenn eine Linke dabei erwischt wird, wie sie mit ihrem Dienst-Mercedes Privattouren unternimmt. Doch mit solch kindischen Empörungsritualen hält sich Neiman erst gar nicht auf. Erwachsen in ihrem Sinne ist, wer den kleinkrämerischen Realismus hinter sich lässt, wer über das Tatsächliche hinaus den Blick aufs Mögliche wagt, und wer in der Lage ist, Gut und Böse gut begründet voneinander zu unterscheiden.
Die Philosophin spricht darüber offenbar lieber vor der SPD als vor der CDU, denn gerade die Linke hat ihrer Ansicht nach moralische Unterweisungen bitter nötig. So ehrlich, wie es ein Buch mit diesem Titel gebietet, spricht Neiman ihre politische Absicht aus:
Der Ausdruck "moral clarity" ist keine Erfindung der Konservativen, doch spätestens seit 2001 ist er fest in konservativer Hand. In Amerika ist der Ausdruck so eng mit George W. Bush verbunden, dass nur seine Parteigänger ihn zu benutzen geneigt waren. Dieses Buch beabsichtigt, ihn sich zurückzuholen.
Bisher sei die Linke über das trostlose Stadium des Materialismus noch nicht hinausgekommen, analysiert Neiman.
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, behauptet Brechts sarkastisch-materialistische Weltformel. Neiman hält dagegen. Sie zeigt, dass der Mensch ohne Moral geistig wie seelisch verhungert. Wer es aufgibt, über Moral nachzusinnen, gibt sich viel zu früh zufrieden.
Wahrheit sagt uns, wie die Welt beschaffen ist, Moral, wie sie sein sollte.
Dieses Kant-Zitat taucht gleich mehrmals auf. Neiman ist schon für ein Zeitungsinterview in die Rolle des Königsberger Philosophen geschlüpft, auch in diesem Buch macht sie sich ihren Lieblingsdenker zu Eigen. Es ist fast peinlich für den Denkerstandort Deutschland, dass eine Amerikanerin das deutsche Publikum an die Aktualität Kants erinnern muss. Neiman hatte das Manuskript dem Suhrkamp Verlag angeboten, der lehnte es ab. Der Grundkurs in Geistesgeschichte erschien der Verlagschefin "zu amerikanisch". Dabei wäre "Moralische Klarheit" ein passendes Gegenstück zu Adornos "Dialektik der Aufklärung" gewesen, einem der Suhrkamp-Kulturklassiker. Das Herz des Neiman-Buches ist nämlich, ganz undialektisch, ein leidenschaftliches Plädoyer für die Werte der Aufklärung: für das Recht auf Glück, für Vernunft, Ehrfurcht und Hoffnung. Brillant räsoniert die 55-Jährige über die Vernunft, die so viel mehr ist als logisches Denken und Verknüpfen von Informationen. Dass ihr Räsonnement auf Kants kategorischen Imperativ hinausläuft, dürfte selbst philosophische Laien nicht überraschen. Wirklich originell aber sind die Kapitel zu "Ehrfurcht" und "Hoffnung". Ehrfurcht - ist das nicht etwas für Frömmler? Und "Hoffnung" – hegen die nicht nur naive Ein-bisschen-Frieden-Träumer?
Neiman spricht die Aufklärung vom gängigen Vorwurf frei, die Religion an sich bekämpft zu haben. Sie stellt klar:
Die meisten Angriffe der Aufklärung hatten nicht die Religion als solche zum Ziel. Was sie aufbrachte, war, dass die Religionen ihren eigenen erklärten Zielen zuwider handelten.
Aufgeklärte Ehrfurcht nährt sich nicht aus Angst, sondern aus Bewunderung, Bescheidenheit und Dankbarkeit für das Sein selbst. "Ehrfurcht" als Claim der SPD – man kann sich die zerfurchte Stirn der Wahlkampfstrategen vorstellen. Dann doch lieber "Hoffnung". Aber auch die ist etwas anderes als jenes gnadenlos positive Denken, mit dem Motivationstrainer und Kampagnenmanager ihr Geld verdienen. Hoffnung, lehrt Neiman, ist die Bedingung der Moral. Wer das Wünschen verlernt, ist im wahrsten Sinne des Wortes demoralisiert.
Wir sind so gut, wie wir sein müssen, um so zu handeln, als ob wir es wären.
Ein Denkanstoß, zu komplex für ein Parteiprogramm, zu verschachtelt für einen Optimismus-Ratgeber. Neiman formuliert dennoch prägnant, verständlich und so persönlich, als wolle sie den Leser in eine gepflegte Konversation verwickeln. Trotz des unverschwurbelten Stils ist "Moralische Klarheit" ein anspruchsvolles Buch. Nur wer Homers Odyssee kennt und Bibel- oder zumindest Abraham-fest ist, kann Neimans freche Lesart der Geschichten voll auskosten. Neiman ist zwar weder Richard David Precht noch Anselm Grün. Manche Einsichten aber taugen dazu, auf kleine Zettel geschrieben zu werden. Eine Kostprobe:
Sich eine Welt zu wünschen, in der Glück und Tugend im Gleichgewicht sind, ist nicht kindisch.
Und noch eine:
Das Wirkliche ist uns gegeben, damit wir uns das Mögliche vorstellen.
Solche Sätze lassen sich per Kühlschrankmagnet im Alltag befestigen. Dann kann die Moral das Reich des Fressens erobern.
Susan Neiman: "Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten". Erschienen in der Hamburger Edition. Für 32 Euro gibt es 496 Seiten, ISBN: 978-3-86854-223-3.
An Doppelmoralaposteln herrscht kein Mangel. Die Deutschen lieben es zum Beispiel, wenn eine Linke dabei erwischt wird, wie sie mit ihrem Dienst-Mercedes Privattouren unternimmt. Doch mit solch kindischen Empörungsritualen hält sich Neiman erst gar nicht auf. Erwachsen in ihrem Sinne ist, wer den kleinkrämerischen Realismus hinter sich lässt, wer über das Tatsächliche hinaus den Blick aufs Mögliche wagt, und wer in der Lage ist, Gut und Böse gut begründet voneinander zu unterscheiden.
Die Philosophin spricht darüber offenbar lieber vor der SPD als vor der CDU, denn gerade die Linke hat ihrer Ansicht nach moralische Unterweisungen bitter nötig. So ehrlich, wie es ein Buch mit diesem Titel gebietet, spricht Neiman ihre politische Absicht aus:
Der Ausdruck "moral clarity" ist keine Erfindung der Konservativen, doch spätestens seit 2001 ist er fest in konservativer Hand. In Amerika ist der Ausdruck so eng mit George W. Bush verbunden, dass nur seine Parteigänger ihn zu benutzen geneigt waren. Dieses Buch beabsichtigt, ihn sich zurückzuholen.
Bisher sei die Linke über das trostlose Stadium des Materialismus noch nicht hinausgekommen, analysiert Neiman.
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, behauptet Brechts sarkastisch-materialistische Weltformel. Neiman hält dagegen. Sie zeigt, dass der Mensch ohne Moral geistig wie seelisch verhungert. Wer es aufgibt, über Moral nachzusinnen, gibt sich viel zu früh zufrieden.
Wahrheit sagt uns, wie die Welt beschaffen ist, Moral, wie sie sein sollte.
Dieses Kant-Zitat taucht gleich mehrmals auf. Neiman ist schon für ein Zeitungsinterview in die Rolle des Königsberger Philosophen geschlüpft, auch in diesem Buch macht sie sich ihren Lieblingsdenker zu Eigen. Es ist fast peinlich für den Denkerstandort Deutschland, dass eine Amerikanerin das deutsche Publikum an die Aktualität Kants erinnern muss. Neiman hatte das Manuskript dem Suhrkamp Verlag angeboten, der lehnte es ab. Der Grundkurs in Geistesgeschichte erschien der Verlagschefin "zu amerikanisch". Dabei wäre "Moralische Klarheit" ein passendes Gegenstück zu Adornos "Dialektik der Aufklärung" gewesen, einem der Suhrkamp-Kulturklassiker. Das Herz des Neiman-Buches ist nämlich, ganz undialektisch, ein leidenschaftliches Plädoyer für die Werte der Aufklärung: für das Recht auf Glück, für Vernunft, Ehrfurcht und Hoffnung. Brillant räsoniert die 55-Jährige über die Vernunft, die so viel mehr ist als logisches Denken und Verknüpfen von Informationen. Dass ihr Räsonnement auf Kants kategorischen Imperativ hinausläuft, dürfte selbst philosophische Laien nicht überraschen. Wirklich originell aber sind die Kapitel zu "Ehrfurcht" und "Hoffnung". Ehrfurcht - ist das nicht etwas für Frömmler? Und "Hoffnung" – hegen die nicht nur naive Ein-bisschen-Frieden-Träumer?
Neiman spricht die Aufklärung vom gängigen Vorwurf frei, die Religion an sich bekämpft zu haben. Sie stellt klar:
Die meisten Angriffe der Aufklärung hatten nicht die Religion als solche zum Ziel. Was sie aufbrachte, war, dass die Religionen ihren eigenen erklärten Zielen zuwider handelten.
Aufgeklärte Ehrfurcht nährt sich nicht aus Angst, sondern aus Bewunderung, Bescheidenheit und Dankbarkeit für das Sein selbst. "Ehrfurcht" als Claim der SPD – man kann sich die zerfurchte Stirn der Wahlkampfstrategen vorstellen. Dann doch lieber "Hoffnung". Aber auch die ist etwas anderes als jenes gnadenlos positive Denken, mit dem Motivationstrainer und Kampagnenmanager ihr Geld verdienen. Hoffnung, lehrt Neiman, ist die Bedingung der Moral. Wer das Wünschen verlernt, ist im wahrsten Sinne des Wortes demoralisiert.
Wir sind so gut, wie wir sein müssen, um so zu handeln, als ob wir es wären.
Ein Denkanstoß, zu komplex für ein Parteiprogramm, zu verschachtelt für einen Optimismus-Ratgeber. Neiman formuliert dennoch prägnant, verständlich und so persönlich, als wolle sie den Leser in eine gepflegte Konversation verwickeln. Trotz des unverschwurbelten Stils ist "Moralische Klarheit" ein anspruchsvolles Buch. Nur wer Homers Odyssee kennt und Bibel- oder zumindest Abraham-fest ist, kann Neimans freche Lesart der Geschichten voll auskosten. Neiman ist zwar weder Richard David Precht noch Anselm Grün. Manche Einsichten aber taugen dazu, auf kleine Zettel geschrieben zu werden. Eine Kostprobe:
Sich eine Welt zu wünschen, in der Glück und Tugend im Gleichgewicht sind, ist nicht kindisch.
Und noch eine:
Das Wirkliche ist uns gegeben, damit wir uns das Mögliche vorstellen.
Solche Sätze lassen sich per Kühlschrankmagnet im Alltag befestigen. Dann kann die Moral das Reich des Fressens erobern.
Susan Neiman: "Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten". Erschienen in der Hamburger Edition. Für 32 Euro gibt es 496 Seiten, ISBN: 978-3-86854-223-3.