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Die Alpen - Traum oder Albtraum?

Er war ein Draufgänger wie aus dem Bilderbuch. Anfang Februar 1910 hatte er morgens früh im Pariser Bois de Boulogne beim täglichen Lauftraining einen Doppeldecker über sich hinwegknattern gesehen. Da war es um den Peruaner Geo Chavez gewissermaßen geschehen. Noch am selben Tag trat er in eine Flugschule ein, wenig später war er stolzer Besitzer des Pilotenscheins Nummer 23, ausgestellt vom jungen französischen Luftfahrtministerium.

Von Irene Meichsner |
    Diverse Maschinen hatte er schon zu Bruch geflogen, bevor er vor 95 Jahren zur ersten Alpenüberquerung startete. Obwohl seine Geschichte ein tragisches Ende nahm, nötigte sie den Zeitgenossen allergrößte Hochachtung ab. Denn an Mut fehlte es den Männern in ihren fliegenden Kisten wahrlich nicht. Doch ganze zwei Jahre lang sollte es nach Geo Chavez niemand mehr wagen, den Bergen mit einem Flugzeug zu nahe zu kommen.

    Immer weiter, immer schneller - und immer höher. Im Oktober 1909, gerade mal sechs Jahre nach dem ersten, noch unbeholfenen Motorflug der Gebrüder Wright, kreiste ein Franzose in 400 Metern Höhe um den Eiffelturm - damals eine Sensation. Wenig später erreichte ein Landsmann erst 1000 und dann sogar fast 1500 Meter. Und dann trat Geo Chavez auf den Plan: 23 Jahre alt, Sohn eines nach Frankreich eingewanderten peruanischen Millionärs. In seinem nagelneuen Eindecker schaffte er mit 2652 Metern fast aus dem Stand den neuen Welthöhenrekord.

    "Ich will mehr als das einfältige Leben eines Pariser Snobs,"

    zitiert ihn der Schweizer Alex Capus in einer seiner unlängst erschienenen historischen Miniaturen.

    "Ich muss irgendetwas tun."

    Chavez suchte die Herausforderung - und zahlte mit dem Leben dafür. Eine Prämie von 100.000 Lire hatten die Veranstalter der Mailänder Herbstflugwoche für den ersten Flug über die Alpen ausgesetzt. Tausende strömten zum Startplatz nach Brig am Fuße des Simplonpasses im schweizerischen Wallis, um das Spektakel mitzuerleben. Seinen ersten Versuch brach der Peruaner am 19. September 1910 vorzeitig ab, der Mut hatte ihn verlassen: C.C. Bergius, selber begeisterter Pilot, schilderte in seiner romanhaft ausgeschmückten Geschichte der Fliegerei einen Geo Chavez, der schon sein letztes Stündlein kommen sah.

    "Die Hände waren ihm vor Kälte fast abgestorben; er konnte das Steuer, das er unklammerte, kaum noch fühlen. Aber das war nicht das Schlimmste. Über dem Roßwald hatte er plötzlich geglaubt, von einer unsichtbaren Faust erfasst worden zu sein. Er war umhergeschleudert worden, als säße er auf einem nicht zugerittenen Pferd."

    Am 23. September der zweite Anlauf. Damals hatte man noch keine Vorstellung von den Fallwinden und Turbulenzen, die ein Flugzeug im Gebirge mit 20 und mehr Metern pro Sekunde in die Tiefe schleudern können.

    "Bis die Maschine plötzlich einen Stoß erhält, dass man meint, sie breche auseinander ... Jäh, wie man in die Tiefe stürzte, wird man emporgeschleudert. Eine Zentnerlast senkt sich auf die Schultern. Man sinkt in sich zusammen und klebt auf seinem Sitz wie ein Brummer, der von einer Fliegenklatsche getroffen wurde."

    Heute weiß jeder Pilot: Es gibt keine "Luftlöcher", sondern nur wild bewegte Luftmassen, die auch kleine Flugzeuge tragen können.

    "Was aber wusste Geo Chavez von alledem? Nichts! Er war der erste Mensch, der sich derartigen Naturgewalten ausgesetzt sah. Und er verfügte über kein Flugzeug im heutigen Sinne des Wortes. Sein Flugapparat war letztlich nichts anderes als ein von Spanndrähten und mit Leim zusammengehaltenes, merkwürdig sinnvolles Gebilde aus Streben, Zigarrenkistenholz und Leinwand, vor dem ein Motor hing, den man bestaunte und streichelte, wenn er einmal eine ganze Stunde hindurch, ohne zu husten 'gelaufen hatte' ... Wer dies bedenkt und sich vergegenwärtigt, dass Männer wie Chavez durch nichts geschützt waren, dass sie frei zwischen ihren Tragflächen saßen und sich bei auftretender Böigkeit am Rumpf oder Spannturm festhalten mussten, da sie noch nicht einmal Anschnallgurte kannten, der wird nicht fragen, warum der Geist des Peruaners über den Alpen blieb und nicht zur Erde zurückkehrte."

    Sein Ziel, das italienische Domodossola, hatte Chavez noch erreicht, den Landeplatz aber viel zu steil angesteuert.

    "Kleine Schreie flammen auf! ... Die Maschine bäumt sich empor. ... Da schlagen die Flügel über seinem Kopf zusammen. Ein fürchterliches Krachen unterbricht das Sausen in der Luft. Dann wird alles schwarz."

    So stand es tags drauf in der Neuen Zürcher Zeitung. Allzu schwer, so C.C. Bergius, habe Chavez sich bei der harten Landung nicht einmal verletzt.

    "Und doch siechte er dahin, ununterbrochen phantasierend, schreiend oder wimmernd. "Der Wind!" stöhnte er. "Ich will nicht ... Fallböen ... Immer höher. Ich falle ... Hilfe! Ganz tief jetzt ... Die Felsen ... Nein!" schrie er plötzlich mit sich überschlagender, fast kindlich klingender Stimme. "Nicht in die Schlucht! Ich will nicht!""

    Fünf Tage lang kämpfte Geo Chavez im Geiste weiter gegen Turbulenzen und Wirbelwinde, bevor er am 28. September gegen Mittag starb. 42 endlose Minuten dauerte der erste Flug über die Alpen - sie hatten seine Lebenskräfte offenbar vollständig aufgezehrt.