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Die Angst des Schäfers

Vor etwa 20 Jahre kehrten die ersten Wölfe nach Frankreich zurück. Der erste wurde damals im Nationalpark Mercantour nördlich von Nizza gesichtet. Wird dort ein Schaf von einem Wolf gerissen, bekommt der Schäfer Geld vom Staat - für viele Hirten ist das jedoch kein Trost.

Von Simonetta Dibbern |
    Es ist Vormittag, die Sonne scheint, es ist heiß. Gerard Millischer, einer der beiden Wolfsexperten des Nationalparks, hat eine gute Stunde Autofahrt hinter sich. Hier in Le Bourguet, einem kleinen Örtchen im Tinée-Tal direkt an der Route Nationale, ist er verabredet.

    Hier wohnt Lucien Millefors – so heißt der Schäfer, der ihn gestern angerufen hat.
    Ein kleiner weißhaariger Mann kommt um die Ecke: das Gesicht wettergegerbt, die Ärmel des karierten Hemds sind hochgekrempelt. Er strahlt über das ganze Gesicht, als er den Besucher begrüßt. Dabei kann ihm eigentlich kaum zum Lachen zumute sein: Eines seiner Schafe liegt oben in einer Hütte am Berg. Wenn es, wie er vermutet, von einem Wolf attackiert wurde, kann er zumindest auf eine Entschädigung hoffen.

    Gerard Millischer, Naturschützer und staatlich angestellter Wolfsspezialist ist gut vorbereitet für eine lange Bergwanderung: Wanderstiefel, Rucksack, ein schwarzer Filzhut als Sonnenschutz. Manchmal, sagt der drahtige 50-Jährige, sind es drei Stunden Fußmarsch bis zum Unfallort.

    "Als man mir diesen Job als Gutachter angeboten hat, habe ich lange überlegt. Denn das ist eine heikle Angelegenheit. Die Schäfer sind zornig. Die Stimmung ist angespannt. In dieser Situation einen objektiven Schadensbericht aufzunehmen, das ist nicht gerade leicht. Körperliche und psychologische Schwerstarbeit."

    Das Opfer liegt im Schuppen. Gerard Millischer zieht den Kadaver nach draußen. Kein schöner Anblick: Das Fell auf der einen Flanke ist komplett abgerissen, die Gedärme sind herausgequollen. Gerard Millischer betrachtet es eingehend von allen Seiten. Hier am Bauch: ein Hämatom. Er notiert sich die auf dem Fell tätowierte Nummer und besprüht das tote Tier anschließend mit violettem Farbspray. Damit der Kadaver nicht noch einmal registriert werden kann.

    Der Schäfer Lucien steht hilflos daneben. Und was soll ich jetzt damit tun, fragt er. Was Sie wollen, sagt Gerard Millischer. Am besten liegenlassen. Er setzt sich auf einen Stein, notiert Name und Adresse des Schäfers, fragt, wann das Tier entdeckt wurde und von wem. Haben Sie Hunde? Natürlich hat Lucien Hunde. Aber nicht die, die hier gemeint sind: Wolfshunde, Patous.

    "Nein, keine Hunde, sie sind zu teuer. Und sie fressen zuviel. Man muss das Futter ja auch nach oben bringen, das ist aufwendig, es gibt zwar Hubschrauber, aber trotzdem."

    230 Schafe hat Lucien und ein paar Ziegen. Früher konnten die Tiere im Sommer oben auf den Bergweiden allein bleiben. Jetzt ist er 70, Kinder haben sie nicht, seine Frau und er wechseln sich ab beim Hüten.

    "Man muss Tag und Nacht oben sein. Wir sind die Sklaven unserer Schafe geworden. Eineinhalb Stunden braucht man bis oben, das kann man nicht zweimal am Tag machen. Und einer von uns muss immer oben übernachten. Früher reichte es, wenn wir alle zwei Tage raufgingen, aber jetzt ist das hier der reinste Krieg."

    "Dann muss er noch unterschreiben – ich kann Ihnen nichts versprechen", sagt der Parkbeamte. Der Schadensbericht wird in Nizza geprüft.

    Die Spuren, sagt, Gerard Millischer auf dem Weg zu seinem Auto, sprechen nicht für einen Wolf. Vielleicht war es ein streunender Hund, der das Schaf angegriffen hat. Er scheint geradezu erleichtert, dass nicht er die Entscheidung treffen muss, ob Lucien Geld bekommt oder nicht: Wenn er den Bericht zur Post gebracht hat, ist seine Arbeit getan. Gerard Millischer ist einer der wenigen, die beiden helfen wollen: dem Schäfer und dem Wolf.

    "Natürlich ist es gut für die Fauna der Wildnis, dass der Wolf zurückgekommen ist und sich hier ansiedelt. Denn er nimmt einen wichtigen Platz ein in der Nahrungsmittelkette. Als Angreifer, leider. Aber auch als wichtiger Selektionierer. Denn vor allem die schwachen Tiere werden vom Wolf gerissen, die alten und kranken – und dadurch kann sich die Population besser entwickeln. Insofern ist der Wolf auf jeden Fall eine Bereicherung für den Nationalpark."

    Dem Schäfer Lucien ist das kein Trost. Er verabschiedet sich und nimmt den steinigen kleinen Pfad den Berg hinauf. Zu seinen Schafen. Und zu seiner Frau, die oben auf ihn wartet.