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Die Arbeit im Anthropozän
Eine knappe Weltgeschichte der Arbeit in praktischer Absicht

Homo sapiens ist der Primat, der Werkzeuge herstellen kann, vom Faustkeil und Pflug über Windmühle und Dampfmaschine bis zu den Computersystemen, die die geistige Arbeit automatisiert und die Fantasieproduktion standardisiert haben. Und wie es scheint, ist der neuerliche Automatisierungsschub erst am Anfang.

Von Mathias Greffrath |
In der Ausstellung "ROOTS // Wurzeln der Menschheit" laufen zwei jugendliche Besucher am Donnerstag (06.07.2006) im Rheinischen Landes Museum in Bonn an einer Plakatwand vorbei, die den Evolutionsverlauf zum Homo Sapiens beschreibt.
Homo sapiens scheint am Ende seiner Laufbahn, gefangen in den stählernen Netzen eines techno-ökonomischen Prozesses. (picture-alliance / dpa / Jörg Carstensen)
Einstweilen produziert der kapitalgetriebene Automatismus noch Überfluss, aber auch immer mehr Menschen ohne Arbeit und Einkommen. Im Norden werden sie durchgefüttert, aus ausgebluteten Südregionen hat die große Elendswanderung begonnen. Eine immer kleinere Minderheit besitzt und gestaltet die politischen, administrativen und technischen Apparate.
Homo sapiens scheint am Ende seiner Laufbahn, gefangen in den stählernen Netzen eines techno-ökonomischen Prozesses. Steuert der auf den ökologischen Kollaps hin? Bei den Elenden, den Ausgegrenzten, den Nutznießern, aber auch bei den Theoretikern wachsen Ratlosigkeit und Fatalismus. Und die Gewaltbereitschaft wächst, die der Elenden und die derjenigen, die ihren Wohlstand bedroht fühlen. Etwas in uns wehrt sich gegen die Alternativlosigkeit - aber worauf, auf welche Arbeit kann dieses Gefühl noch setzen.

Das Manuskript zur Sendung:
"Hören Sie auf, vom Holozän zu sprechen..."
So begann Paul Crutzens zorniger Zwischenruf auf einer Geologenkonferenz vor 15 Jahren. Paul Crutzen, das ist der Atmosphärenchemiker, der das Ozonloch entdeckte und dafür den Nobelpreis erhielt. Und Holozän, so heißt die Epoche der Erdgeschichte, die vor 10.000 Jahren begann, am Ende der letzten großen Eiszeit.
"Hören Sie auf, vom Holozän zu sprechen, wir leben doch schon längst im Anthropozän."
Anthropozän - das heißt: Zeitalter des Menschen, und Paul Crutzens Zwischenruf ist alles andere als beruhigend. Er resümiert, was wir spätestens seit einem halben Jahrhundert wissen: Die irdische Natur als Ganze ist zum Produkt der Menschen geworden.
Und das markiert einen Bruch mit der Menschheitsgeschichte, über die wir Aufzeichnungen und Überlieferungen besitzen. Die begann im frühen Holozän. Zum Beispiel mit der Geschichte von Noah und seiner Arche. Denn die hat, wie alle Legenden einen realen Hintergrund - die Überschwemmung des Schwarzen Meeres vor 12.000 Jahren, während der letzten dramatischen Erderwärmung. Innerhalb von nur 40 Jahren stieg damals die Durchschnittstemperatur auf der Nordhalbkugel um sechs Grad Celsius. Das arktische Eis begann zu schmelzen, der Meeresspiegel stieg um Dutzende von Metern, trennte die Britischen Inseln vom Festland.
In der Levante, dem fruchtbaren Halbmond, der sich von Griechenland bis in die Mündungsgebiete von Euphrat und Tigris zog, in China und Mittelamerika, erlaubte das Klima den Horden der Jäger und Sammler, sesshaft zu werden, Pflanzen anzubauen, Tiere zu zähmen, Vorräte zu bilden. In dieser "neolithischen Revolution" entstanden die ersten Maschinen, der Pflug, der Webstuhl, die Töpferscheibe. Mit der Sesshaftigkeit das Eigentum an Grund und Boden, mit der Vorratshaltung die befestigten Städte. Die Arbeitsteilung differenzierte sich aus, und damit begann die dauerhafte, in Institutionen gefestigte Herrschaft von Menschen über Menschen, ob Sklaverei, feudale Hörigkeit oder Schuldknechtschaft.
Aber jahrtausendelang noch beruhte die Produktivität der Arbeit im wesentlichen auf Naturkräften: auf der Muskelkraft der Menschen und Tiere, auf der Energie von Sonne, Wind und Wasser. Das Anthropozän beginnt, so definiert es Paul Crutzen, mit der Industriellen Revolution in Europa. Und paradoxerweise war es nicht der Erfindungsreichtum von Ingenieuren und Handwerkern allein, der die Produktivität explodieren ließ, sondern wiederum eine Naturkraft: die fossile Energie der Kohle, die Dampfmaschinen und Lokomotiven antrieb und den Wirkungsgrad der mechanischen Maschinen ins bis dahin Undenkbare erhöhte.
Model einer historischen Dampfmaschine
Model einer historischen Dampfmaschine (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
Ohne diese industrielle Revolution wären die Forderungen der Unterschichtsrebellionen, der Humanisten, der Aufklärung für immer im Himmel der Ideen geblieben: die Erklärung der "gleichen, unveräußerlichen Rechte: Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" ebenso wie die Apotheose der Arbeit in der bürgerlichen Ideologie. Zwischen den Fortschrittsreden der Ideologen und der schmutzigen Praxis in den Fabriken der ersten Industrieperiode klaffte noch lange ein Abgrund. Der Reichtum der Nationen beruht auf der Arbeitsteilung, so konnte man es bei Adam Smith lesen. Aber im Kleingedruckten der gesellschaftlichen Wirklichkeit stand als Fußnote: Das Eigentum ist geschützt. Ein einklagbares Recht auf Arbeit - die Parole der frühen Arbeiterbewegung - kennen die westlichen kapitalistischen Nationen bis heute nicht.
Dennoch: Auch wenn Millionen von Männern, Frauen und Kindern in den Bergwerken und Fabriken des frühen 19. Jahrhunderts vertiert und verschlissen wurden, auch die entstehende Arbeiterbewegung setzte auf den Kapitalismus. Eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, eine wirkliche Demokratie werde es nur "in einer schon vorhandnen Welt des Reichtums und der Bildung" geben können, so schrieb es der junge Karl Marx, und weiter:
"Die Entwicklung der Produktivkräfte [ist] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte".
In der Vorhölle der großen Industrie werde der Wohlstand erzeugt, auf dessen Grundlage die Unterdrückung und die Ungleichheit schwinden, die Bürgerrechte wirklich werden könnten.
"An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, sind alle berechtigt."
So postulierte es nicht Dr. Marx aus London, sondern der AEG-Gründer und Gegner des Erbrechts, Walter Rathenau aus Berlin. Und weiter:
"Wirtschaft ist nicht Privatsache".
Denn warum ist eine Nation reich geworden?
Da kommt viel zusammen: Weil ein Fürst mit den Steuern, die er den Bauern abgepresst hat, eine Akademie der Wissenschaften und Manufakturen gegründet hat; weil Bürger die Gewerbefreiheit erkämpften; weil Migranten härter arbeiten als andere; weil es eine Religion gab, die Fleiß als gottgefällig ansah; kurz: Die ganze Geschichte einer Gesellschaft produziert mit.
Und so verbreitet auch die modische Staatsverdrossenheit der heutigen Gründer und Investoren sein mag: Die grundlegenden Voraussetzungen, die Basisinvestitionen für den technischen Fortschritt - Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen, Verkehrssysteme, Rechtssicherheit - sie wurden immer von Staaten geschaffen, von den Bewässerungsanlagen Assyriens bis hin zu Steve Jobs oder Mark Zuckerbergs Imperien.
Seit den 70er-Jahren sanken die Wachstumsraten in den früh industrialisierten Ländern kontinuierlich
Wirtschaft ist also keine Privatsache, aber Wirtschaftsdemokratie bleibt eine schöne Formel, die es heute gerade noch in die programmatischen Schriften linker Parteien schafft. Das Arbeitsrecht, existenzsichernde Löhne, soziale Sicherheiten wären nicht denkbar gewesen ohne die Organisationskraft der Arbeiterbewegung. Der Sozialstaat, den die Sozialdemokratie nach den Katastrophen der Weltwirtschaftskrise und des Weltkriegs gegen den Verzicht auf Wirtschaftsdemokratie eintauschte, beendete - und ich spreche hier nur von West-Europa -, zwar den alten Klassenkampf. Aber das rasante Wachstum der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - das Wirtschaftswunder - bescherte allen immer mehr, wenn auch den einen viel mehr, den anderen weniger.
Diese Ausweitung der Konsumzone ließ die Kritik am Kapitalismus ebenso verstummen wie die Forderungen nach gesellschaftlicher Lenkung des technischen Fortschritts. Die Kapitalistische Welt schien erfolgreich und alternativlos: ein Reich des Wohlstands und der Freiheiten, wenn auch nicht der Gleichheit.
Die Sache hatte nur drei Haken, und die bekommen wir seit ein paar Jahrzehnten zu spüren. Seit den 70er-Jahren sanken die Wachstumsraten in den früh industrialisierten Ländern kontinuierlich, und die Arbeitslosigkeit wurde chronisch. Steuersenkungen, Deregulierungen und Privatisierungen stabilisierten die Profite; Renten und Sozialleistungen wurden reduziert; von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wuchs die private und staatliche Verschuldung, die den Weltwirtschaftskrisen der letzten Jahre zu Grunde lag. Der zweite Haken ist die Globalisierung: Die Wohlstandsmaschine Kapitalismus hat sich von ihrem Territorium, dem Nationalstaat, emanzipiert. Über die politische Weltkarte von Nationen haben sich die Netze einer Art Turbofeudalismus gelegt.
Es ist ein Feudalismus, dessen Herren nicht greifbar sind. Ihre Herzogtümer haben keine Grenzen, ihr Reichtum wird an 1.000 Orten hergestellt, auf der Erde verstreut wie die Besitztitel an ihrem Profit. Und ihre Landnahmen werden von den Finanzplätzen und Börsen gesteuert: Billionen frei flottierenden Geldes - der Profit vergangener Arbeit - drängen auf immer höhere Verzinsung und drücken so auf die Arbeitsgesellschaften der Welt.
In den neuen Industrierevieren der ehemaligen Kolonien herrschen Arbeitsbedingungen wie im Frühkapitalismus; in den alten Metropolen wird die Arbeit bis zur Unerträglichkeit verdichtet. Die Barrieren der Ungleichheit liegen zunehmend nicht mehr zwischen armen und reichen Ländern, sondern zwischen den Zonen, in denen Kapital investiert wird, und dem sozialen Brachland, das sie umgibt. Und noch weiter draußen liegt das wüste Land, die neuen weißen Flecken, die die Weltkarte sprenkeln: die geplünderten Südregionen, die ökonomisch uninteressanten Gebiete, die Slums der Mega-Metropolen, in denen das Heer der Elenden wächst.
Der dritte Haken, das ist die Wachstumsfalle. Die Produktivitätsexplosion von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wäre nicht möglich gewesen ohne die Ausbeutung der fossilen Wälder, die in Jahrmillionen Erdgeschichte wuchsen und deren Verbrennung nun die Ökosysteme der Welt in die Klimakatastrophe treibt. Seit dies nicht mehr zu leugnen ist, sind große technische Fortschritte gemacht worden, aber alle Minderungen des Energieverbrauchs durch technische Innovation und erneuerbare Energien werden durch das global anhaltende Wachstum von Produktion und Konsum aufgefressen.
Die sozialen Folgen des ungleichen Handels
Gegen eine Beschränkung dieses Wachstums aber stehen seine beiden mächtigen Treiber: der Wachstumszwang des Kapitals - und die ungleiche Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen. Nicht nur in den Wohlstandssregionen, sondern schärfer noch in den Schwellenländern und den armen Regionen der Welt. Mit gewissem historischen Recht blockieren diese, wenn die Klimaretter des Nordens ihnen nun zur Rettung der Atmosphäre egalitäre CO2-Reduktionsziele aufzwingen wollen. Und schließlich haben wir im vergangenen Jahr einen ersten Vorgeschmack von dem erlebt, was auf uns zukommt, wenn sich Millionen von Menschen aus den elenden Weltregionen auf den Weg machen. Sie folgen den Versprechen der Globalisierung und den medialen Bildern einer globalisierten Konsumkultur, sie fliehen vor den Klimaschäden, vor den sozialen Folgen des ungleichen Handels, vor dem Landhunger des Nordens. Sie flüchten vor Kriegen, an deren Ausbruch und Verschärfung nicht nur vormoderne Stammesmentalitäten und Religionen mitwirken, sondern ebenso das Erbe des Imperialismus und der Ölhunger der westlichen Welt.
Das Anthropozän - es könnte ein dunkles Zeitalter werden, und "Zeitalter der Menschheit" ein schlimmer Euphemismus und eine Abstraktion. Denn das ist der Grundwiderspruch der Epoche, in der wir leben: Wir haben jede Menge Probleme, die das Leben aller Menschen betreffen, aber die Menschheit ist kein handlungsfähiges Subjekt. "Wer Menschheit sagt, will betrügen", so formulierte es der konservative Staatsrechtler Carl Schmitt. Und er fügte hinzu: In Wirklichkeit gehe es um die Frage,
"welchen Menschen die furchtbare Macht, die mit einer erdumfassenden wirtschaftlichen und technischen Zentralisation verbunden ist, zufallen wird."
Viel spräche also dafür, nicht Anthropozän zu sagen, sondern: Kapitalozän - wenn das Wort nicht ein noch größeres Ungetüm wäre. Denn nicht "der Mensch" und auch nicht "die Menschen" haben die Oberfläche der Welt, die sozialen Beziehungen und das Begehren der Menschen umgeformt. Die Arbeit von Menschen hat sie ins Werk gesetzt, aber die Kapitalmächte bestimmen bis heute die Richtung und das Tempo dieser Veränderungen. Nicht die Technik hat die Grundlagen der Zivilisationen- die Erde, die arbeitenden Menschen und die Institutionen geformt, sondern die Art ihrer Anwendung, nicht die Produktivkräfte, sondern die Produktionsweise. Und das Mantra dieser Produktionsweise heißt unendliches Wachstum. Es ist ein utopisches Mantra, denn es verwandelt die Orte, die Institutionen und die Lebenswelt der Menschen, in U-Topien, in Un-Orte: Die Nation wird vom Gefäß der Gesellschaft zum Standort globaler Konkurrenzkämpfe; das Parlament vom Ort, an dem Bürger beschließen, wie sie leben wollen, zum Notariat für die Investorenimperative; Städte, Regionen, Fabriken werden zu Transit-Räumen, belebt oder entwohnt nach der Logik des Kapitals, die Familien zum Ort, an dem "Humankapital" aufgezogen und Kaufkraft generiert wird - einst unübertroffen formuliert vom christlichen Demokraten Friedrich Merz:
Die Kinder von heute sind die Mitarbeiter von morgen und die Kunden von übermorgen. Die schönste Eigenschaft des Menschen - seine Fähigkeit zu spielen, zu musizieren, Geschichten zu erzählen oder erzählt zu bekommen - ist zum Geschäftsfeld gigantischer Kapitalien geworden, die die Arenen des Kommerzsports und die Netze der Unterhaltungsindustrie betreiben. Von den christlichen Festen ganz zu schweigen. Und wen das alles traurig macht, selbst der wird noch zum Wachstumsfaktor. Depression ist die zweithäufigste "Krankheit" - und ein neues, lukratives Geschäftsfeld. Das Ganze ist eine "Teufelsmaschine" - so sagte es der große bürgerliche Wissenschaftler Max Weber, eine Maschine, die erst zur Ruhe kommen werde, wenn "die letzte Tonne Erz mit der letzten Tonne fossilen Brennstoffs geschmolzen sein wird".
Und diese Teufelsmaschine hat auch die Arbeit selbst verändert, und mit ihr die Menschen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten hat sich, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, die qualifizierte Arbeit, die an den Körpern, den Fähigkeiten, den Erfahrungen der Menschen klebte, von ihnen abgelöst. Zunächst bei der Herstellung von Dingen: Die Geschicklichkeit der Hand verschwand in den Maschinen, die Muskeln wurden von Dampfmaschine und Elektrizität ersetzt. Automaten traten an die Stelle von Auge, Tastsinn und Erfahrungswissen. Natürlich war das ein Fortschritt und eine Befreiung von Körper und Seele tötender Plackerei, aber sie hat ihren anthropologischen Preis: Der Mensch als Produzent, als eigenartiges und deshalb eigensinniges Subjekt der Tätigkeit, wird zum flexiblen, passiven Rohstoff der Großen Maschine.
Das bleibt nicht ohne Folgen für die Individuen und die Gesellschaften. Mit der Einführung automatischer oder teilautomatischer Produktionsverfahren in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts spaltete sich die traditionelle Facharbeiterschaft in hoch qualifizierte Spezialisten und austauschbare Bedien- und Hilfskräfte. Aber wer leicht zu ersetzen ist, der verliert seine Verweigerungsmacht. Denn die Räder stehen eben nicht mehr still, wenn "die starken Arme" es wollen.
Und nun, im 21. Jahrhundert, wälzen Informationstechnologie und Internet die Arbeitswelt erneut um. Nicht nur der Hilfsarbeiter im Lager, nicht nur die Kassiererin im Supermarkt werden ersetzbar, sondern auch das Können von Ingenieuren, Architekten und Anwälten ist nun in den Algorithmen der Software gespeichert und abrufbar. Computer stellen medizinische Diagnosen oder organisieren komplexe logistische Abläufe, Algorithmen ersetzen das Ermessen von Verwaltungsangestellten.
Ein von Robotern geführtes Auto im Volkswagen-Werk in Wolfsburg. Davor ein Warnschild, dort nicht händisch einzugreifen.
Ein von Robotern geführtes Auto im Volkswagen-Werk in Wolfsburg. (John Macdougall / AFP)
Was derzeit mit dem Schlagwort Industrie 4.0 oder "Internet der Dinge" bezeichnet wird, signalisiert den Endpunkt dieser Entwicklung. Werkstücke, die ihren Weg durch die Produktionsabläufe selbsttätig digital steuern; Verteilungsnetze, die vom voll automatisierten Lager über selbstlenkende Automobile bis zum Supermarkt fast ohne Menschen auskommen; Sensorentechnologien, die Störungen erkennen und selbstständig beheben, smarte Häuser, die ihre Temperatur regeln, Kühlschränke, die melden, dass die Milch zur Neige geht und eine Bestellung aufgeben, die von Drohnen ausgeliefert wird; GPS-Systeme, die nicht nur die automatisierten Landwirtschaftsmaschinen über die quadratkilometergroßen Felder der Monokulturen steuern, die mir nicht nur den Weg weisen, sondern auch schnarren, wenn mich ein auf meine Vorlieben passendes Schnäppchen an der nächsten Ecke erfreuen könnte; die Algorithmen von Facebook, google, amazon und anderen, die schon heute wissen, was mich morgen interessiert; Kameras, die Physiognomien und Stimmen analysieren, um Konsumpräferenzen zu erkunden. All das ist teils noch in Entwicklung, teils durchdringt es schon heute unseren Alltag. Business at the speed of thought, so hat Bill Gates diese schöne neue Welt vor zwei Jahrzehnten vorausvisioniert: Produktion und Distribution in der größten Geschwindigkeit, zu den geringsten Kosten und mit den wenigsten beteiligten Menschen.
Es gibt keine zuverlässigen Prognosen über das Ausmaß an Arbeitslosigkeit, das daraus folgen wird. Für die USA und für Deutschland gibt es Schätzungen, dass in den nächsten Jahrzehnten 50 Prozent der Arbeitsplätze durch das Vordringen der sogenannten künstlichen Intelligenz wegrationalisiert werden könnten. Niemand kann Zuverlässiges sagen, denn die wichtigste Größe für die Geschwindigkeit des Vormarschs der Automaten und Roboter wird der Preis der menschlichen Arbeit sein: sinkt er, lohnen sich die Maschinen nicht, steigt er, wird - wo immer es geht - rationalisiert. Noch schleppen - so zeigt es ein Foto dieser Tage - Tausende von Trägern in geschulterten Kiepen Kohle aus den chinesischen Tagebauten womöglich, um die Elektrizität zu produzieren für die Herstellung von Computern, die in den Konsumzonen der Welt das Leben von manueller Arbeit befreien. Noch lagern Handelsriesen wie amazon einfache Tätigkeiten wie Adressensuchen an digitale Stücklohnarbeiter aus - mechanische Türken, wie sie ganz offiziell heißen - die für Stundenlöhne von drei Euro in einem weltweiten Netz ackern - ohne die Möglichkeit, sich zu organisieren. Könnten sie es: Die Antwort wäre die nächste Generation von Automaten.
Technologische Optimisten verkünden wie immer: Mit der Automatisierung fielen zwar Arbeitsplätze weg, aber im selben Maß entstünden neue Tätigkeitsfelder. Besonders menschenfreundlich klingt das Argument: Durch die Rationalisierung würden Arbeitskräfte frei, vorzüglich für Dienstleistungen - ob nun in der Gastronomie, im Gesundheitswesen, in der Betreuung von Alten oder Kindern oder im Haushalt. Aber auch die stehen unter Kosten- und Profitdruck; bereits heute analysieren Algorithmen die Pflege in Krankenhäusern: Männer brauchen weniger pflegerische Zuwendung, Frauen zwischen 35 und 45 am meisten - alles wird auf die Minute berechnet, die Krankenschwestern tragen Sensoren, die ihre Zuwendungszeit optimal programmieren.
Es fällt dem Denken nicht schwer, sich einen Endzustand vorzustellen, in dem homo faber, das werkzeugproduzierende Tier, nur noch der flüssige Rohstoff, das Gleitmittel der großen Automaten ist. Die Philosophin Hannah Arendt schrieb schon vor einem halben Jahrhundert:
"In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholdern, und dieses verlangt...kaum mehr als ein automatisches Funktionieren. Und so endet die Neuzeit in der tödlichsten, sterilsten Passivität, die die Geschichte je gekannt hat. [...] Arbeit und die in ihr erreichbare Lebenserfahrung wird zunehmend aus dem menschlichen Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein."
Und Arendts knappes Résumé:
"Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, entwickeln wir uns zurück. In eine Tiergattung."
Das Anthropozän - in solcher Perspektive wäre es die Epoche des Abschieds vom Menschenbild nicht nur der Neuzeit, sondern auch des homo sapiens. Die Werkzeuge, die er geschaffen hat, wären zum gigantischen Apparat einer zweiten Natur geworden, und sein Schöpfer zum
"Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammenschrumpfen, die sachlich von ihm erwartet werden."
Das ist der Befund von Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung.
An Schwarzen Utopien ist kein Mangel. Aber wie steht es um die Gegenkräfte? Sie sind so alt wie die westliche Neuzeit. Ihre Geschichte, sagen wir realistischerweise ihre Geistesgeschichte, ist voll von road maps für den Weg in ein "Anthropozän", das zu Recht ein "Zeitalter der Menschen" genannt werden könnte. Das reicht von Immanuel Kants aufgeklärter Idee einer föderalistischen Weltrepublik, die Ernst mit dem kategorischen Imperativ machte; und mit dem Gedanken, dass die "Oberfläche der Erde" zu gleichen Teilen das Eigentum aller Menschen ist bis zu den Blaupausen für eine "Große Transformation", für globale "New Deals" und Klimabündnisse unserer Tage.
Vom italienischen Mönch Campanella im 16. Jahrhundert über die bürgerlichen Ökonomen des 19. bis zum großen John Maynard Keynes und den Technologie-Hippies an der kalifornischen Küste im 20. Jahrhundert war die Entfesselung der menschlichen Produktivität nie ein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum wirklichen Reichtum, dem Reichtum an Lebenszeit und der Freisetzung für höhere Tätigkeiten, für Muße, menschliche Begegnungen, Spiel, Naturgenuss, Meditation.
Automation – auch für Karl Marx war sie ein Werkzeug der Befreiung. Und sein Anthropozän war eine Gesellschaft, die
"ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regelt und unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringt, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden, ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten Bedingungen vollzieht".
Kein Schlaraffenland, sondern ein "Reich der Notwendigkeit", jenseits desselben erst das Reich der Freiheit blühen könne. Dessen Grundbedingung aber sei die "Verkürzung des Arbeitstags". 100 Jahre lang war diese auch die Vision der organisierten Arbeiterschaft. Heute kämpft keine Gewerkschaft mehr dafür und das Ideal der allseitigen Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten - es klingt altbacken und abwegig in einer Zeit, in der in Europa der Kampf um den Achtstundentag wieder aktuell wird - als wäre 100 Jahre nichts geschehen; in einer Zeit, in der wir die Bildungsrepublik ausrufen, aber Millionen von jungen Menschen ohne Arbeit, ohne Bildung und damit ohne Zukunft auf den freien Markt entlassen.
Die Vision von der solaren Weltgesellschaft
Bildung aber ist die wichtigste Ressource der Zukunft, wenn auch nicht die Verallgemeinerung des Bildungsbürgertums, von der die humanistischen Ökonomen der Vergangenheit und die gymnasialen Studienräte bis vor kurzem noch träumen mochten. Heute geht es darum, ein massenhaftes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer zivilisatorischen Wende und die Qualifikationen für ihre Durchsetzung zu entwickeln. Denn das Aufgabenbuch für das Anthropozän ist umfassend und erschreckend. Die Vermeidung einer geohistorischen Katastrophe - das ist die dringlichste, aber nicht die einzige Aufgabe. Es geht um nichts weniger als um das Management der Atmosphäre und eine Art globaler Verwaltung des natürlichen und moralischen Menschheitserbes. Die Fruchtbarkeit der Böden, die Ergiebigkeit und Sauberkeit der Meere, die Rettung der Fauna, der Schutz vor neuartigen Epidemien, die Menschenrechte, die Frauenrechte, der gleiche Zugang zu den Technologien der Gesundheit, der Kultur, die Teilhabe an den Produkten der Arbeit - das sind nur einige der Probleme, die a tempo in Angriff genommen werden müssen, wenn dieses Jahrhundert nicht im Kampf aller gegen alle enden soll.
Das ist nichts weniger, wenn man es zusammendenkt, als der Übergang in eine neue, postkapitalistische Produktionsweise. Eine Epochenwende, und noch dazu eine globale aber kann man nicht politisch dekretieren oder technokratisch planen. Auch heute reden Philosophen angesichts der Problemlage zwar von der Notwendigkeit einer Weltregierung. Auf dem Weg zu einer "bewussten Gesamtregierung" auf globalem Maßstab aber, so warnte vor dem Jahrhundert der Weltkriege Friedrich Nietzsche, würde sich die Menschheit zugrunde richten. Nur ein allgemeines Bewusstsein für die Bedingungen einer neuen Kultur könne eine "ökumenische" Praxis begründen.
Hunderttausende von Nichtregierungsorganisationen, die seit den 70er-Jahren entstanden sind und die gegen die Verwüstung der Erde, gegen das Artensterben ebenso wie gegen unerträgliche Arbeitsbedingungen und für globalen Reichtumsausgleich, fairen Handel und Gemeineigentum am natürlichen und kulturellen Erbe der Menschheit eintreten - sie sind der Anfang einer solchen Ökumene - der Selbstaufklärung, des Lernens, des Gründens. Archen der Zukunft im Strudel der Klima-, der Finanz-, der Hunger- und der politischen Krisen. Oder, um das Bild technologisch auf die Höhe der Zeit zu bringen: Insassen des Raumschiffs Erde, die wissen, dass die Fahrt in die Zukunft nur gelingen kann, wenn die Passagiere den Proviant gerecht teilen und mit dem Treibstoff haushalten.
Wollte man einen alles überspannenden Namen, ein gemeinsames Ziel für diese vielfältigen Aufbrüche finden, dann wäre es vielleicht: die Solare Weltgesellschaft. Eine Vision, die weit mehr umfasst als die Ersetzung fossiler durch Erneuerbare Energien: den Übergang zu einer Wirtschaftsweise, die das gemeinsame Erbe der Menschheit verwaltet, zu einer Lebensweise, deren ökologischer Fußabdruck mit dem Fortbestand der Erde vereinbar ist.
Die jüngste technologische Revolution könnte diese Befreiung fördern. Algorithmen und Computernetzwerke können Menschen kontrollieren, destruktive Bedürfnisse wecken, Wachstum hochpeitschen, Drohnen lenken, jedes Jahr neue Generationen virtueller Welten und Spaßmaschinen entwerfen und vertreiben, Menschen zum passiven Gleitmittel einer amoklaufenden Wirtschaft degradieren. Aber Algorithmen und Computer können auch von harter, routinierter, geistloser Arbeit befreien, sie können die Umstellung von Energiezentralen auf dezentrale vernetzte Einrichtungen regeln, sie können öffentliche Verkehrsmittel attraktiv machen, die Systeme der Steuererhebung gerechter transparenter und effizienter machen, das Wissen der wirklichen Welt allen zugänglich machen - und so Zeit gewinnen für die Arbeit am Anthropozän.
Es ist so viel von Freiheit und Individualität die Rede, wenn in diesen Tagen - gegen die drohende Invasion der Barbaren und gegen den Verfall der zivilgesellschaftlichen Werte - von allen Seiten das "Menschenbild Europas" beschworen wird. Von einem europäischen Wert ist dabei, wenn ich mich nicht täusche, selten die Rede. Dabei ist er konstitutiv - für die Individualität jedes Einzelnen und für die Freiheit aller: Der Mensch, so gilt es seit Aristoteles, ist von Natur und Geschichte ein zoon politicon, ein soziales und politisches Wesen, ein geselliges und ein Gesetze machendes Tier. Zur europäischen Idee des guten Lebens gehörte seit Beginn der Neuzeit die Abschaffung des Mangels durch Arbeit, Wissenschaft und Technik. Und dies zur Erleichterung des Lebens, zum Genuss der Kultur und zur Befähigung aller Menschen zur Teilnahme an der Gestaltung und Verwaltung des Gemeinwesens und seiner Institutionen. Alle Menschen sollen gleichberechtigte Bürger werden können, auch die "zweibeinigen Werkzeuge", an deren Emanzipation der Sklavenbesitzer Aristoteles und die Denker des 18. Jahrhunderts noch nicht dachten.
Angesichts der Skepsis auch der informiertesten Bürger, ob ihre Repräsentanten die Gestaltungsmacht über die Form der zukünftigen Technik und Lebenswelt gegen die global agierenden privatwirtschaftlichen Konzerne, Kartelle und Finanzoligarchien zurückgewinnen können; angesichts des anschwellenden, dumpfen Zweifels, ob sie das überhaupt noch wollen; angesichts der grassierenden Furcht vor einem technischen Totalitarismus und angesichts der hartnäckigen Furcht vor Konsumbeschränkung in den reichen Ländern ist die wichtigste Arbeit im Anthropozän die Instandbesetzung der erodierenden demokratischen Institutionen auf allen Ebenen. Und die wichtigste, aber derzeit knappste Ressource dafür, die Neugier, der Optimismus, die Wut und die Energie des zoon politicon. Und die optimistischste Hoffnung ist diejenige, dass es sich dabei um eine demokratische, dezentrale, erneuerbare und rechtzeitig nachwachsende Energie handelt.
Und wer soll das alles machen, diese Instandbesetzung?
Auf diese Frage pflegte der französische Soziologe und Aktivist Pierre Bourdieu zu sagen: "Ach, Sie fragen nach dem historischen Subjekt? Nun, das sind diejenigen, die es machen."