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Die archäologische Entdeckung einer alternativen Via Dolorosa

Der Verlauf der heutigen Via Dolorosa ist im Mittelalter entstanden, nachdem die Franziskaner die Pflege der Heiligen Stätten übernommen hatten. Nach historisch und topografisch belegbaren Erkenntnissen der Archäologen scheint Jesus aber auf einem anderen Weg zu seiner Kreuzigung gegangen zu sein.

Von Wolfram Nagel | 23.03.2012
    "Wir sind jetzt an einem Ort, der eigentlich, wenn man nachdenkt über Passionswege Jesu, erst mal überraschen könnte. Wir sind im Bereich des ... Jaffatores, also gut einige hundert Meter entfernt von der Via Dolorosa, die ja den Passionsweg Jesu für das christliche Bewusstsein in Jerusalem markiert. Und man kann sich fragen, warum wir das tun."

    Das Jaffator liegt im Süden der Altstadt von Jerusalem. Nach dem Berg Zion bildet es den höchsten Punkt der Altstadt. Von hier aus führt rechter Hand der Weg zum armenischen und jüdischen Viertel und geradeaus hinab zum Shuk, dem berühmten arabischen Markt.

    Auf der östlichen Seite des Jaffatores erhebt sich eine Festung, die "David-Zitadelle". Das trutzige Bauwerk aus Jerusalemer Kalkstein habe jedoch mit König David nichts zu tun, so Martin Vahrenhorst:

    "Kreuzfahrer haben daran mitgebaut, dann später die muslimischen Herrscher Jerusalems, die Osmanen, und, wenn man ganz genau hin guckt, sieht man aber noch Spuren aus dem 1. Jahrhundert. Wir haben hier einen ganz massiven Turm mit Steinen, mit Quadern, die typisch sind für die Art, wie Herodes gebaut hat. König Herodes auf der Wende zum 1. Jahrhundert, der Steine verwendet hat, die sogenannte Spiegel haben. Das nennt man herodianische Quader."

    Wie sie auch an der "Klagemauer" zu sehen sind, die von Juden verehrte Westwand des Tempels. Zur Zeit des Königs Herodes stand der Palast am Rand der ummauerten Stadt. Von hier aus hatte er einen exklusiven Blick auf den Tempelberg.

    "Das war natürlich für den König Herodes auch wichtig, dass er hier den Blick über seine Stadt hatte. Der König Herodes war allerdings, als Jesus gekreuzigt wurde, schon einige Jahrzehnte tot ... Dann haben die Römer das Heft selbst in die Hand genommen, dann ist das hier zur römischen Provinz gemacht worden ... Und einer dieser Statthalter war Pontius Pilatus, der in der Passionsgeschichte Jesu eine ganz bedeutende Rolle spielt."

    Eigentlich wohnte Pontius Pilatus in Cäsarea an der Mittelmeerküste, eine ebenfalls von König Herodes erbaute Stadtanlage mit Bädern, Theater, Hippodrom und einem Hafen. Ab und an musste der Prokurator seine Amtsgeschäfte auch in Jerusalem führen. Das hieß in der Regel, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, gab es doch in der Zeit Jesu immer wieder Aufstände. Solche Anlässe waren die großen jüdischen Wallfahrtsfeste wie Pessach:

    "Feste sind bis heute sensible Zeiten. Zeiten, in denen die Polizei hier Sonderschichten schieben muss. Wir wissen aus den Schriften des Josephus, das ist der Historiker dieser Zeit, und aus den Schriften eines anderen jüdischen Autors, Philon von Alexandrien, dass Pilatus, wenn er in Jerusalem war, den Herodespalast als seinen Amtssitz nutzte und von hier aus seine Amtsgeschäfte verwaltete."

    Es spricht also vieles dafür, dass die im Neuen Testament beschriebene Verurteilung Jesu nicht in der "Burg Antonia" in der Nähe des Löwentores am Beginn der heutigen Via Dolorosa stattgefunden hat, sondern in der David-Zitadelle am Jaffator. Zunächst aber wurde der im Garten Gethsemane verhaftete Aufrührer, der von sich behauptete, König der Juden zu sein, vor den Hohepriester gebracht. Der Palast des Kaiphas befand sich vermutlich in der Nähe der heutigen Kirche St. Peter in Galikanto am Westhang des Kidrontales. Von dort wurde Jesus dann zum Palast des Pilatus geführt, um verhört und verurteilt zu werden.

    "Es spricht einiges dafür, dass natürlicherweise der Weg vom Zion zur Grabeskirche am Palast des Pilatus vorbei geführt haben muss, auch wenn die Leute damals nicht gewusst haben, dass unter dem, was man heute sieht, der Pilatuspalast lag. Aber so funktioniert Geschichte, dass manchmal zufällig sich Dinge ergeben."

    Im Mittelalter erinnerte man sich noch an diesen alternativen Passionsweg, der von Osten her auf der Südseite Jerusalems zum Berg Golgatha führte. Dazu musste der zum Kreuzestod verurteilte Jesus den Querbalken seines Kreuzes nicht einmal durch die Stadt tragen. Von römischen Soldaten begleitet schleppte er sich durch ein landwirtschaftlich genutztes Tal bis zu jenem Steinbruch unter der heutigen Grabeskirche:

    "Wo vielleicht ein Felsen stehen geblieben ist, der die Form eines Schädels hatte, und diesem Ort dann seinen Namen gegeben hat. Und dann hat man ein recht plausibles Bild, wie das sein kann."

    "Also wir sind jetzt auf dem Weg im Markusshuk vom Jaffator weg, Richtung Grabeskirche. Rechts und links Geschäfte, die jetzt hier morgens aufmachen. Wie gesagt, für das Allgemeinbewusstsein ist das mit der Passion Jesu so gar nicht verbunden, aber das ist eine Frage, die uns speziell im westlichen Christentum immer beschäftigt. Dass wir da genau wissen wollen, was war denn eigentlich wo und wann ... Und dann kommt man eben dazu, dass man sagt, wahrscheinlicher ist, dass die Via Dolorosa nicht da war, wo sie heute gezeigt wird."

    Sondern auf dem Weg vom Jaffator zum Muristan, wo Kaiser Wilhelm II. 1898 die evangelische Erlöserkirche einweihte. Auf den Trümmern des zerstörten Jerusalem hatte der römische Kaiser Hadrian nach Niederschlagung des jüdischen Bar-Kochba-Aufstandes im Jahre 135 seine neue Stadt errichten lassen, die Aelia Capitulina.

    "Wir haben vor der Grabeskirche ein künstlich planiertes Feld, das ist heute bebaut. Das ist mal das römische Forum gewesen, das braucht eine römische Stadt... Die Geografie hat das nicht hergegeben, also hat Hadrian das Ganze aufschütten lassen. Später, zur Kreuzfahrerzeit, hat man das Muristan genannt. Das ist ein Wort, das kommt aus dem Persischen und bedeutet Krankenhaus. Denn das ist hier eine Gegend gewesen, wo Pilgerhospize waren, wo kranke Pilger versorgt wurden."

    Ohne es zu wissen ist Kaiser Wilhelm seinerzeit auf diesem alternativen Passionsweg vom Jaffator zur neuen evangelischen Grabeskirche geritten. Er wollte die Tradition der Kreuzritter und Johanniter zum Schutz der Heiligen Stätten übernehmen und knüpfte deshalb direkt an das Erbe des ersten christlichen Kaisers Konstantin an.

    "Und im Bereich des Muristan hat der preußische Staat damals, noch bevor Wilhelm deutscher Kaiser wurde, ... dieses Gelände geschenkt bekommen, auf dem dann später die Erlöserkirche gebaut wurde. In unmittelbarer Nähe zur Grabeskirche, was auch wieder eine Bedeutung hat."

    Schon wegen der preußischen Symbole, die bis heute an den Pilgerritt Kaiser Wilhelms auf der unbekannten Via Dolorosa in Jerusalem erinnern:

    "Hier oben haben wir diesen Torbogen und sehen ... den preußischen Adler. Das war Teil der Prachtstraße, die hier angelegt wurde, um den Einzug des deutschen Kaisers anlässlich der Einweihung der Erlöserkirche ... zelebrieren zu können. So preußische Adler haben wir an der Erlöserkirche auch noch dran. Das ist eben auch ein Stückchen deutsch-preußischer Geschichte hier in Jerusalem."

    Mehr zum Thema:
    Vom Löwentor bis zur Grabeskirche
    Eine archäologische Spurensuche auf der Via Dolorosa - Teil 1 und Teil 2