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Die Architekten

Viele sogenannte DDR-Gegenwartsromane spielen auf Baustellen, und je mehr die Perspektive weise planender Leiter eingefordert wurde, auch in Architektenbüros. Konkrete Alltagsgeschichten konnten im Idealfall zu Gleichnissen über den Aufbau des Sozialismus werden. Als bekanntes Beispiel sei Erik Neutschs ursprünglich gar nicht systemkritisch gemeinter Roman "Spur der Steine" genannt. Kritisch zugespitzte Fassungen des Stoffs in der Form eines DEFA-Spielfilms und in einer Bühnenfassung von Heiner Müller wurden verboten. Die Architektin Franziska Linkerhand in Brigitte Reimanns gleichnamigen Roman bot Mitte der 70er Jahre ein Beispiel kritischen und letztlich vergeblichen Aufbegehrens gegen die Unwirtlichkeit der industriell normiert aus dem Boden gestampften Neubaustädte. Erich Loest hat noch 1995 in seinem Roman "Nikolaikirche" eine Stadtplanerin als Hauptfigur gewählt, die den Verfall Leipzigs nicht mehr hinnehmen will, sich durch solchen Subjektivismus vom Arbeitskollektiv isoliert deswegen aus der SED ausgeschlossen wird und sich oppositionellen Friedensgruppen anschließt. Mit Auseinandersetzungen unter Architekten setzte Loest einen Schlußstein - die DDR der späten Achtziger Jahre war dabei,unterzugehen.

Manfred Jäger | 27.10.2000
    Jetzt wird uns - zu allgemeiner Verblüffung - ein bislang unveröffentlichter, ja verborgen gehaltenr Architektenroman von Stefan Heym vorgelegt - oder besser nachgereicht, der im ersten Jahrzehnt der DDR, im Sommer 1956, spielt. Der Autor hat 1963 daran zu arbeiten begonnen und das Manuskript Ende 1966 abgeschlossen. In der Spätphase der Ulbricht-Ära nach dem Kahlschlag des berüchtigten 11. Plenums des SED-Zentralkomitees schien eine Veröffentlichung aussichtslos. Immerhin war der selbstbewußte Heym couragiert oder leichtsinnig genug, den Text seinem Londoner Verleger zukommen zu lassen. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn das in den Augen der SED-Führung gewiß als "konterrevolutionär" geltende Werk das Licht der westlichen Öffentlichkeit erblickt hätte.

    Die Firma Cassell's hatte jedoch Interesse. Vermutlich hätte sich die vereinigte Leserschaft des englischen Sprachraums voller Neugierde auf den Roman gestürzt - trotz mancher völkerverbind herzhafter Vergleiche, von der Art, daß was dem Briten sein Heim, dem Deutschen sein rundum befestigter Strandkorb sei.

    Was Stefan Heym für die Nachwelt sei und mit welchem prüfenden Auge man auf ihn zurückblicke, beschäftigt den Autor seit langem. Er wüßte gar zu gern, welchen Nekrolog zum Beispiel die "New York Times" für ihn vorbereitet hat, und er läse gern Korrektur. Seine Autobiographie hat er "Nachruf" genannt - er will alles im Griff haben. Voriges Jahr schwer erkrankt, ist er dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen. Da man nicht definiv wissen kann, was die Überlebenden mit dem Nachlaß anstellen, hat er nun selber für die Publikation des alten Textes gesorgt. Der von den Nazis in die Vereinigten Staaten Vertriebene folgte noch in den sechziger Jahren der Gewohnheit, in der Sprache des Gastlandes zu schreiben. Jetzt hat der 87jährige das Manuskript selber aus dem Englischen, oder wie er früher betonte, aus dem Amerikanischen in unsere Sprache übersetzt. Vielleicht nutzte er diese Gelegenheit auch zu einer erneuten Überarbeitung. Denn der auf die DDR gerichtete kritische Blick erweist sich als für die damalige Zeit äußerst scharf. Das Buch ist sogar kompromißloser als sein Romanprotokoll über den Aufstand von 1953, "Tage im Juni".

    Der Roman beginnt mit einem inneren Monolog des deutschen Juristen Julian Goltz, der nach dem Tod seiner Frau in sowjetischer Haft und nach dem Stalin-Hitler-Pakt an Nazideutschland ausgeliefert werden soll. Als er auf der Grenzbrücke fliehen will, trifft ihn die tödliche Kugel, und es bleibt offen, ob sie aus Gewehren der Braunen oder der Roten stammt. Der Held des Romans,der im Moskauer Exil mit dem Ehepaar Goltz befreundete Arnold Sundstrom, kümmert sich um deren Tochter Julia und heiratet sie. In der DDR avanciert Sundstrom zum Stararchitekten, der nach den Vorgaben der Bauherren, also der Spitenfunktionäre, mit dem biederen schlechten Geschmack, die prächtige Straße erbaut, die zuerst den Namen des Generalissimus führt und nach dessen Tod "Strasse des Weltfriedens" heißt. Gewiss soll der Leser an Hermann Henselmann denken, den Erbauer der Stalinallee, der den Idealen des Bauhauses abschwor, die als dekadenter, kosmopolitischer Formalismus galten,und dem SED-Spitzenfunktionär Tolkening gab Heym nicht nur die fistelnde Sing-Sa-ng-Stimme Walter Ulbrichts. Die Szene, in der Tolkening frühstückt und dabei sorgfältig einen Apfel schält, ohne dem Besucher etwas anzubieten, ist einem aus Heyms Autobiographie vertraut, als er bei Ulbricht zur Audienz vorgelassen wurde.

    Es handelt sich gleichwohl nicht um einen Schlüsserroman. Henselmann war nicht im sowjetischen Exil, und die Romanhandlung spielt nicht in Berlin, sondern in irgendeiner Bezirkshauptstadt, Tolkening ist also kein kleiner Ulbricht. Es kommt Heym vor allem darauf an,die Verunsicherung nach Stalins Tod und nach der Geheimrede Chrustschows über die Untaten des Diktators sichtbar werden zu lassen. Die Rückkehr eines Freundes, der das Straflager verlassen durfte und schließlich rehabilitiert wurde, verschärft die Unsicherheiten. Das Opfer erweist sich als lästiger Zeitzeuge. Die Verknüpfungen sind überaus störend denn sämtliche Fäden waren in Blut getaucht. Der karrierebewußte Sundstrom trägt eine Mitschuld am schlimmen Schicksal der Eltern seiner jungen Frau, der er die Wahrheit über die Moskauer Jahre, von ein paar wohldosierten Andeutungen abgesehen,verschwieg. Nur Außenseiter wollen,daß "die Skelette aus dem Schrank geholt werden". Sogar die Stalin-Gegner ärgern sich über das Ableben des Tyrannen, denn sie wissen nicht mehr genau,in welche Richtung sie heucheln müssen. Heym thematisiert sogar die Ähnlichkeit der Monumentalarchitektur mit Entwürfen des Hitler-Lieblings Albert Speer und attackiert die altmodische wie prätentiöse Allee für Siegesdemonstrationen, die steingewordene "Heuchelei in Beton und Ziegeln". Der Autor liebt sprechende, symbolträchtige Namen. Der aufrechte Störenfried, der die Utopie der menschenfreundlichen Stadt mit viel Bewegungsfreiheit für jedermann hochhält, heißt Tieck - wie der heute kaum noch bekannte deutsche Romantiker. Im Vorzimmer der Macht sitzt ein Genosse namens Kloppermann - die Idealisten,die auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz hoffen,haben so kaum eine Chance. Ein neues Gesicht sei vonnöten, gar ein neues Herz? Man werde allenfalls ein oder zwei Nasen plastisch umbauen, schreibt der sarkastische Heym, der auch die ungeheuerlichsten Lebenskrisen als gewöhnliche Fälle "sozialistisch-realistischer Depression" einstuft.

    Die Intrigen und Liebesaffären bedient Heym auch hier oft genug nach dem Klischee des Kolportageromans. Er jongliert so wie seine opportunistischen Figuren mit zu vielen Bällen. Wenn er Sex und Politik zusammenrührt, entsteht ein seltsamer Brei. Nicht immer kommt eine Groteske zustande, wie in der Beschreibung eines mecklenburgischen Nacktbadestrandes. Auch diesmal geistern pralle Busen, saftige Schenkel und deren unansehnliche Gegenteile trivial durch die Handlung. Über die Mixtur von sozialistischem Realismus und publikumswirksamer amerikanischer Magazin-Story muß hinweglesen können, wer nach mehr als drei Jahrzehnten die Sprengkraft des Textes erspüren will. Jenseits der melodramatischen Exzesse, gegen die erpreßte Versöhnung eines privaten "happy end" der einander "wahrhaft Liebenden" hat Stefan Heym - damals vermutlich wider Willen - schon geahnt, daß die Architekten,die Erbauer der vermeintlich neuen Gesellschaft, einzig durch Selbstbetrug den Untergang ein paar Jahre verzögern konnten.