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Die Astrid-Lindgren-Grundschule in Stendal

Wir leben hier einen Traum, hat die inzwischen pensionierte Initiatorin des jahrgangsübergreifenden Unterrichts an der Astrid Lindgren Grundschule einmal gesagt. Auf den ersten Blick scheint in der fast verlassenen Plattenbausiedlung in Stendal-Süd wenig Raum für Träume. Doch in der Schule, die eine ganztägige Betreuung anbietet, lebt das pädagogische Ideal vom freien Lernen weiter, berichtet die Lehrerin Renate Lier:

Von Jacqueline Boysen |
    In aller Regel lernen die Kinder voneinander. Das ist ein Geben und Nehmen. Das ist das Schöne in dieser Lernform, der Mitschüler ist Hilfe, ein kleiner Lehrer, sie brauchen nicht nur uns.

    Den Grundschülern wird in Kernstunden vormittags Deutsch, Mathe sowie Heimat- und Sachunterricht erteilt. Sie lernen in homogenen Gruppen nach Jahrgängen getrennt. Nach den Kernstunden folgt die Freiarbeit in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen - begleitet von Lehrerin Anke Junghanns.

    Der Vorteil ist, die Kinder lernen auch sozial. Das gibt es nicht diese Rangkämpfe unter Gleichaltrigen. Dafür ein System von gegenseitiger Hilfe.

    Schüler: Naja, ich hab einen Erstklässler, zum Beispiel wenn er seinen Wochenplan nicht lesen kann, fragt er mich, das macht schon Spaß.

    Die Elfjährige, die Zahlen mit unzähligen Nullen aufgeschrieben hat, beugt sich über das Heft ihrer achtjährigen Mitschülerin.

    Ich kann schon bis eine Million rechnen, aber sie, naja bis zehn oder hundert. - Ich hab manchmal ne Frage und das erklärt sie mir dann.

    Schulleiterin Annette Lenkeit kommt gerade aus einer sogenannten Jahrgangsklasse, in der sie Kernunterricht erteilt hat. Jetzt sind ihre Schüler mit anderen Kindern zusammen in der Freiarbeit und beschäftigen sich jetzt mit den Aufgaben auf ihrem Wochenplan, die sie selbstständig abarbeiten müssen.

    Ich war grade in meiner Jahrgangsklasse, jetzt machen die Schüler in der Lerngruppe mit zwei anderen Kolleginnen Freiarbeit. Die Kinder sind daran gewöhnt, mit dem Plan umzugehen. Dazu müssen wir sie natürlich anleiten, zeigen, wie es gemacht wird, sie lernen Selbständigkeit erst. Was mache ich zuerst, erst die leichten, dann die schwierigen Aufgaben und sie müssen es natürlich auch kontrollieren lassen. Das ist die Regel, die sie kennen müssen. Und sie wissen auch, dass sie in der Freiarbeit leise sein müssen.

    Im Raum der Lerngruppe 2 beschäftigt Renate Lier sich mit etwa 20 Kindern aus 4 verschiedenen Jahrgängen - ihr Thema : die Zeit.

    Das Rahmenthema ist für alle gleich: die Zeit als Schatz. Die Jüngeren gucken den Älteren über die Schulter.

    Die ABC-Schützen drehen große Zeiger auf überdimensionalen Zifferblättern und lesen die Uhrzeit ab, die Älteren sortieren alte Photographien mit historischen Straßenszenen, Kinder aus der Dritten Jahrgangsstufe fingern an einem improvisierten Webstuhl herum und lachen über Neandertaler im Lendenschurz und die Ältesten bekleben eine Zeitschiene mit historischen Daten - alles im selben Raum. Über Jahre haben die Pädagogen der Astrid Lindgrenschule ihr eigenes Prinzip des jahrgangsübergreifenden Unterrichts entwickelt - und die Kinder zu selbständigem Lernen zu erziehen.

    Das ist eine feste Struktur Und wenn ich merke, einem Kind würde es gut tun, die erste Jahrgangsstufe zu wiederholen, kann es das machen und bleibt zugleich in seiner Lerngruppe, da kommen nur Jüngere dazu, es merkt aber eigentlich nicht, dass es ein Jahr wiederholt.

    Der Aufwand für die Lehrer - vier pro Lerngruppe a 20 Kinder - sei im freien Unterricht immens, doch der Erfolg ihrer Arbeit eben auch, befinden die Lehrerinnen unisono.

    Es ist mehr Arbeit, aber ich bekomm es jeden morgen zurück von den Kindern. Die Arbeit ist auch auf mehr Schultern verteilt. In einer herkömmlichen Stunde muss ich ja auch noch für Disziplin sorgen, sei still, zappel nicht, das ist hier anders. Und für jede Kerngruppe sind noch zwei Kollegen verantwortlich, da treffen wir uns immer Donnerstags und besprechen Fortschritte der einzelnen Schüler, wie war der bei Dir und so.

    Anke Junghanns hat die Erfahrung gemacht, daß bei aller Selbstinspiration der Kinder in den Jahrgangsübergreifenden Lerngruppen ein wichtiger Verbündeter nicht fehlen darf: die Eltern:

    Es kann jedes Kind versuchen, aber es geht nur im Zusammenspiel auch mit den Eltern, die es begleiten müssen auf diesem Weg.