Es war am 13. August 1876, als in Bayreuth die ersten Richard Wagner Festspiele eröffnet wurden. Auf dem Programm stand die erste komplette Aufführung des "Rings des Nibelungen". Die Tetralogie wurde dreimal wiederholt. Das gesellschaftliche Echo war zwiespältig, die Pressereaktionen überwiegend ablehnend. Ein gewaltiges finanzielles Defizit ließ künftige Festspiele in weite Ferne rücken. Erst sechs Jahre später, 1882, wurden sie mit der Uraufführung des "Parsifal" zum international gefeierten Erfolg. Ein Jahr später starb Richard Wagner. Seine Ehefrau Cosima übernahm die Leitung der Festspiele, die sie 1908 an ihren Sohn Siegfried abtrat. Cosima hatte aus dem Familienbetrieb ein florierendes Unternehmen entwickelt. Doch Erster Weltkrieg und Inflation veränderten die Situation. Die alten Wagnerianer blieben weg. Man spielte nur noch mit oft jahrelangen Unterbrechungen. Als Siegfried Wagner 1930 starb, waren die Bayreuther Festspiele nahezu bankrott. Siegfrieds Witwe Winifred wurde Herrin des Hügels und machte sich bewusst zum Steigbügelhalter für Hitler. Der revanchierte sich und stellte die Bayreuther Festspiele unter seinen persönlichen Schutz. Er rettete die Bayreuther Festspiele vor der Pleite und finanzierte sie bis zu deren Schließung 1944 in beträchtlichem Maße.
Neuanfang mit "Neu-Bayreuth"
1951 wurden mit einem neuen "Parsifal" unter Leitung von Hans Knappertsbusch die sogenannten "Neubayreuther Festspiele" aus der Taufe gehoben. Die Siegfried-Söhne Wieland und Wolfgang leiteten sie, nachdem ihre Mutter wegen ihrer Naziverstrickungen abdanken musste. Neue Sänger, neue Dirigenten und neue Regiekonzeptionen zogen ins Bayreuther Festspielhaus ein. Man sprach von "Entrümpelung". Es war eine szenische Revolution der Wagnerbühne. Mit erstklassigen Sängern und Dirigenten gelang den Brüdern aber noch einmal die Verwirklichung dessen, was Richard Wagner ursprünglich vorgeschwebt hatte: modellhafte, mustergültige, maßstabsetzende Produktionen.
Als Wieland Wagner 1966 - kaum 50 Jahre alt – starb, fiel seinem Bruder Wolfgang das alleinige Erbe der Festspielleitung zu. Wolfgang machte Bayreuth zum Spiegel des europäischen Opernmarktes. Er bescherte in seiner selbsternannten "Werkstatt Bayreuth" viel Mittelprächtiges, aber auch Sternstunden des Musiktheaters, nicht zuletzt Patrice Chéreaus "Jahrhundertring". Unter Wolfgang Wagner avancierten die Bayreuther Festspiele zu einem der erfolgreichsten Festspielunternehmen der Welt. 10 Jahre betrug im Durchschnitt die Wartezeit auf eine Karte. 2008 erklärte Wolfgang Wagner nach langen Querrelen um seine Nachfolge seinen Rücktritt als Festspielleiter. Er gab das Amt an seine Töchter Eva Wagner-Pasquier und Katharina Wagner ab. Die beiden Festspielleiterinnen haben vor allem mit der Auswahl ihrer Regisseure einen Großteil des treuen, wagnerinteressierten Publikums verärgert und vertrieben. Das Publikum hat sich verändert:
"Es ist ein Eventpublikum geworden. Man merkt, dass man sich mit Leuten nicht mehr inhaltlich unterhalten kann. Es geht nur noch um Äußerlichkeiten. Merk ich, haben von Wagner keine Ahnung, es sind keine Wagnerianer mehr."
Bröckelnder Bayreuth-Mythos
Unter Katherinas inzwischen alleiniger Führung schlingern die Bayreuther Festspiele in komplizierter gewordener Rechtsform durch rauhe See einer ungewissen Zukunft entgegen. Während die Fassade des Festspielhauses in diesem Jahr nach jahrelanger Sanierung in neuem Glanz erstrahlt, bleibt ein Großteil des alten Publikums weg. Der Mythos Bayreuth bröckelt. Noch nie war es so leicht, an Karten zu kommen.
Die Bayreuther Traumfabrik hat gewaltig an Anziehungskraft, Aura und Nimbus eingebüßt. Keinen Familienskandal gab es in diesem Jahr. Und zum ersten Mal gab es keinen roten Teppich. Das traditionelle Schaulaufen von VIPs, Stars, Sternchen und Polit-Prominenz wurde aufgrund der jüngsten Attentate in Deutschland abgesagt. Die Festspiele fanden unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und mit großem Polizeiaufgebot statt.
Eröffnet wurden die Wagner-Festspiele in diesem Jahr mit einer Neuinszenierung des "Parsifal". Doch nur wenige Wochen vor der Premiere hatte Dirigent Andris Nelsons das Handtuch geworfen. Angeblich habe ihm der neuinstallierte Musikdirektor Christian Thielemann zu viel reingeredet, so hörte man. In letzter Minute sprang der Parsifalspezialist Hartmut Haenchen für ihn ein. Ein Glücksfall, denn er rettete die verunglückte, ins allzu Religiöse und Stadttheaterhaft-Konventionelle, von der Kritikerzunft ziemlich einhellig verrissene Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg. Der war der Lückenbüßer für den gechassten Jonathan Meese. Auf der Internetplattform "nachtkritik" holte Laufenberg zum Gegenschlag aus und hielt Kritikern wie Kollegen des sogenannten "Regietheaters" eine gepfefferte Gardinenpredigt. Hartmut Haenchen hatte hingegen keinen Grund zur Beschwerde. Er wurde von Publikum wie Presse gefeiert für sein schlankes, flüssiges, unpathetisches "Parsifal"-Dirigat, das erstmals in der Geschichte Bayreuths Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis aufgriff.
Gute Besetzungen, mäßige Inszenierungen
Mit Klaus Florian Voigt in der Titelpartie, der neuen hochdramatischen Elena Pankratova als Kundry und dem überragend wortverständlichen Georg Zeppenfeld als Gurnemanz war dieser "Parsifal" gesanglich bestens besetzt. Was man nicht von allen übrigen Aufführungen sagen konnte. Es gab allerhand Um- und Neubesetzungen bei den diesjährigen Festspielen. Die ansonsten kaum mehr öffentlich in Erscheinung tretende Intendantin der Bayreuther Festspiele, der seit April dieses Jahres Holger von Berg als geschäftsführender Direktor zur Seite steht, hat sich nach der Wiederaufnahmepremiere ihres "Tristan" dem Publikum gezeigt und erntete reichlich Buhs.
Im Mittelpunkt der diesjährigen Festspiele stand wieder Frank Castorfs "Ring"-Inszenierung, die auch in ihrem vierten und vorletzten Durchgang das Publikum spaltete. Gespannt war man allerdings auf Marek Janowski, den neuen Mann am Pult dieses "Rings". Der erfahrene Wagnerdirigent, der zuletzt in Berlin einen aufsehenerregenden konzertanten "Ring" dirigierte, nachdem er sich eigentlich von der Opernbühne zurückgezogen hatte, überraschte mit einem dramatisch-romantischen Dirigat. Trotz aller Kontroversen um Castorfs politisches Musiktheater muss man angesichts vieler belangloser "Ringe" in der jüngeren Bayreuther Vergangenheit seiner Inszenierung bescheinigen, dass sie, man mag zu seiner Personenführung stehen wie man will, ein außergewöhnliches, denkanregendes Theaterereignis ist. 2020 wird es einen neuen "Ring" geben. Und schon im nächsten Jahr eine neue "Meistersinger"-Inszenierung von Barrie Kosky. Man darf gespannt sein. Wie auch immer diese Produktionen ausfallen werden: Die Wirkung des Narkotikums Bayreuth hat spürbar nachgelassen. Schon jetzt müssen die Bayreuther Festspiele um ihr Publikum kämpfen.