"Zwischen Oostende und Middelkerke fahren wir direkt neben dem Meer auf dem Deich. Wenn die Sonne im Wasser untergeht, ist das schön zu sehen. Auch wenn es stürmt, der Wind den Sand über die Gleise bläst, ist das schön. Das ist nicht ganz einfach beim Fahren, aber das ist schön. Mein Name ist Jeffrey Roones und ich arbeite hier seit 20 Jahren als Straßenbahnfahrer."
Gerade hat Jeffrey Pause. Im neugebauten Bürogebäude neben dem Bahnhof von Oostende ruht er sich aus, plaudert mit den Kollegen. Es ist erst kurz nach halb neun. Die Frühschicht hat schon um vier Uhr begonnen. Am Bahnhofgleis nebenan ist gerade der Zug aus Brüssel angekommen. Die Reisenden strömen zur Straßenbahn.
Pause vorbei. Jeffry steigt die drei Stufen hinauf in seine Straßenbahn und öffnet die Tür zum Fahrerabteil.
"Wenn wir anfangen zu fahren, müssen wir immer erst unsere Maschine, um Tickets zu verkaufen, fertigmachen."
Verkehrsmittel und Touristenmagnet
Auf der Küstentram gibt nur eine Linie: Die Nummer Null fährt auf der gesamten Strecke von einem Ende bis zum anderen. Oostende liegt etwa in der Mitte. Jeffry fährt dorthin, woher der Wind kommt, Richtung Südwesten.
"Bis de Panne an der belgischen Grenze mit Frankreich. Eine Stunde, 20 Minuten. So, jetzt sind wir fertig und bereit für die Fahrt."
Die weißen Straßenbahnzüge der Küstentram unterscheiden sich kaum von denen in anderen Städten. Drei Waggons, 30 Meter lang, zweieinhalb Meter breit. Vorne ein Fahrerabteil, wo man auch Fahrtkarten kaufen kann, in der Mitte ein niedriger Wagen für Kinderwagen und Rollstuhlfahrer.
67 Kilometer lang ist die Strecke. Von de Panne im Südwesten nahe dem französischen Dunkerque führt sie über die Hafenstädte Oostende und Zeebrügge in den mondänen Badeort Knokke-Heist an der niederländischen Grenze im Norden – durch größere und kleinere Küstenorte und dazwischen immer an der Küste entlang. Die ältesten Streckenabschnitte sind schon über 120 Jahre alt.
Alle 20 Minuten fährt eine Bahn, im Sommer sogar alle zehn Minuten. Dann drängen sich die Touristen in die Bahnen. Außerhalb der Hochsaison haben die Anwohner ihre Küstentram größtenteils für sich.
"Middelkerke und Oostende fährt sie ein ganzes Stück am Wasser entlang, da hat man einen sehr schönen Blick. Alles zentral, man bekommt überall an die Küstenbad. Also, wenn es mit der Tram geht, sollte man die Tram nehmen. Das machen auch viele. Und es ist auch günstig: Ab 65 hat man für 50 Euro eine Jahreskarte, da kann man herumfahren, so viel man will."
Kostengünstiges Fortbewegungsmittel
Eine Fahrt mit der Streifenkarte kostet 1,60 Euro, die Tageskarte sieben Euro. Möglich machen das großzügige Subventionen, mit der die Region Flandern die Bahn fördert. Nahverkehr für alle, auch auf dem Land.
"Ich fahre ins psychiatrische Zentrum. Alle drei Wochen ungefähr bin ich dort beim Psychologen. Und danach mache ich Einkäufe in der Stadt. Dafür ist die Tram sehr praktisch."
"Morgens sind das die Leute, die zur Arbeit gehen. Da sieht man, die kenne ich, die kenne ich. Dann von den Leuten bekommt man immer einen 'Guten Tag'."
Die 17-jährige Leni Vanover nimmt die Tram jeden Tag zur Schule. Dann ist die Bahn zwar voller Schulkinder. Aber sonst ist es ganz praktisch, um ins Kino zu kommen zum Beispiel.
Seit jeher ist die Straßenbahn auch für Touristen ein beliebter Anlaufpunkt – Transportmittel und Attraktion zugleich. Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert war die belgische Küste ein Ferienziel für das Bürgertum. Die Eisenbahn brachte Urlauber aus den Industriegebieten im belgischen Hinterland, aus Wallonien und der Hauptstadt Brüssel. Von Dover kamen Dampfer mit Reisenden aus Großbritannien nach Oostende. Weiter ging es dann mit der Küstentram, in die Grand Hotels direkt am Strand.
"Ans Meer zu fahren, war früher etwas ganz Besonderes. Wir haben schon Wochen vorher davon gesprochen. Als ich Kind war, gab es noch kein Fernsehen. Da war das Meer wirklich aufregend. Das kann ich den Leuten heute gar nicht mehr erklären."
Vivianne D’Arras blickt aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Dünen. Das Meer ist ihr Lieblingsort, erklärt die 70-Jährige. Und das kann sie aus der Küstentram am besten beobachten.
Zugegeben: So schnell wie die echten Züge ist die Straßenbahn nicht. Zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt von einem Ende bis zum anderen. Aber hier an der Küste hat man Zeit.
"Die Bahn ist schon viel schneller als früher. Außerdem sind wir ja zum Entspannen hier am Meer."
Und ihr Mann Egid Lelong, schon weit über 70, fügt noch einen Vorteil der Tram hinzu: Wer mit ihr unterwegs ist, kann beim Mittagessen mit Freunden auch einen Aperitif trinken – ohne an die Promillegrenze denken zu müssen.
Ein Museum voller Bahngeschichte
Alles mechanisch, so gefällt es Patrick van den Berg. Für ihn ist die Küstentram mehr als nur ein Verkehrsmittel. Der pensionierte Verwaltungsbeamte steht im alten Straßenbahndepot von de Panne, so wie fast jeden Tag.
Zwei Abstellgleise führen in die kleine Halle, vollgestellt mit historischen Straßenbahnwaggons – alle historisch korrekt in Cremegelb gestrichen und liebevoll restauriert von den Liebhabbern des örtlichen Straßenbahnvereins.
Stolz präsentiert Patrick den ältesten Waggon der Sammlung. Einige Dutzend alte Waggons besitzt der Verein: offene Promenadenwagen aus der Zeit, als die Straßenbahnwaggons noch von Dampflokomotiven gezogen wurde. Und eine der ersten elektrischen Trambahnen von 1908. Und auch Güterwaggons – denn bis in die 60er-Jahre transportierte die Kusttram auch Waren entlang der Küste.
An der Außenplattform eines anderen Waggons hängt eine weitere Kuriosität: ein grüner, metallener Briefkasten.
"Der Briefkasten stammt aus der Zeit der Dampfstraßenbahn. Wenn die Leute damals einen Brief aus de Panne nach Oostende schicken wollten, steckten sie ihn in diesen Briefkasten. Mit der Straßenbahn fuhr er nach Oostende und wurde dort zugestellt."
Der Königswaggon
Manche Waggons hatten sogar ganze Abteile, in denen Postbeamte während der Fahrt Briefe sortierten. Die Fahrgäste saßen auf Holz- oder Rattanbänken, in der ersten Klasse auf samtbezogenen Sitzen mit Mahagoni-Einlagen unter kunstvoll gestalteten Deckenlampen. Mit der Straßenbahn zu fahren, war einst chic. Sogar der belgische König besaß einen eigenen Waggon.
"Der war besonders luxuriös, mit bequemen Sitzen aus Samt und nur König und Königin und ihrem Gefolge vorbehalten. Der Waggon steht zurzeit im Museum in Brüssel. Mein Traum wäre es, ihn hierherzuholen und mit unserem jetzigen König die Küste entlangzufahren. Aber das ist bisher nur ein Traum."
Auch ohne den König bieten Patrick und der Verein regelmäßig Sonderfahrten an: mit historischen elektrischen Straßenbahnen und manchmal sogar mit Pferdebahnen.
Für die meisten Anwohner ist die Kusttram aber einfach ein verlässliches Verkehrsmittel. Dank ihr sind selbst die kleinsten Küstenstädtchen sehr gut angebunden. Von früh morgens um vier bis spät nach Mitternacht fahren die Bahnen.
"Die Tram ist sehr wichtig"
Davon profitieren auch die kleinen Geschäfte entlang der Linie. In der Vitrine von Laurence Demay stapeln sich feine belgische Pralinen und französische Torten.
"Die Tram ist sehr wichtig. Sie bringt uns viele Urlauber, die aus Knokke bis de Panne fahren. Wir sind fast die letzte Station, die Haltestelle ist gleich da drüben. Und danach gehen alle ans Meer."
Ganz in der Nähe der Straßenbahn liegt auch der Laden von Inga Citron. Hobbyangler finden hier alles - von der Rute bis zum passenden Haken.
"Ich habe viele Kunden, die mit der Tram kommen. Die kein Auto haben und trotzdem an der Küste angeln wollen. Sie kommen hierher, kaufen ihr Material und fahren dann direkt mit der Tram an den Strand."
Machmal müssen sie die Sandbläser anwerfen
Von den Haltestellen zum Meer ist es nie weit. Dass die Bahnstrecke teilweise direkt am Strand verläuft, hat aber auch seine Tücken. Stetig drückt der Wind gegen die Bahnen. Und bläst immerfort feinen Sand auf die Gleise.
"Wenn es wenig ist, fahren wir einfach durch. Aber wenn es zu viel ist, kann die Straßenbahn nicht mehr fahren. Zehn Zentimeter sind kein Problem, aber wenn es mehr ist, müssen wir mit Bussen fahren."
Regelmäßig sind deswegen spezielle Reinigungswagen auf der Strecke unterwegs, die den Sand zurück auf den Strand pusten.
Die Küstentram war die Triebfeder für die wirtschaftliche Entwicklung und Erschließung der Region. Und so zieht vor den Fenstern der Kusttram neben dem Meer auch die Geschichte der belgischen Küste vorbei.
Im Badeort de Haan stehen vor allem Gebäude vom Beginn des 20. Jahrhunderts – Hotels und mondäne Villen, umgeben von grünen Gärten prägen den Anblick. Andernorts dominieren zehngeschossige Wohnblöcke das Bild - Retortenviertel aus den jüngeren Jahrzehnten. Besonders im Süden, zwischen Oostende und de Panne ist kaum ein Fleck der Küste noch frei.
Das wilde Meer, die verkitschte Erinnerung an eine goldene Zeit und die manchmal bittere Wirklichkeit - diese Widersprüche sind vielleicht der Grund, wieso der flämische Chansonnier Arno seine Heimatstadt Oostende mit so viel Wehmut besingt: verkracht und gebrochen.
Der besungene Regen fällt hier häufig – auf den Strand, auf die Ferienhäuser und Campingplätze – und auf die Küstentram. Die fährt auch vorbei an den Lkw, die im Hafen von Zeebrügge darauf warten, auf die Fähren nach Großbritannien zu fahren.
Hier überquert die Bahn das Schleusenbecken zum Hafen. Je nachdem, ob gerade ein Schiff ein- oder ausläuft und welches Schleusentor geöffnet ist, nimmt die Bahn eine andere Route.
"Für den Hafen müssen die großen Schiffe da durchfahren. Wenn die eine Brücke hochgeht, müssen wir die andere nehmen. Das ist wie beim Auto: Man biegt ab und es geht."
Verrostete Geschütze zielen noch Richtung Meer
Die Bahn verbindet auch die Geschichte zweier Weltkriege, die hier an der Küste ihre Spuren hinterlassen haben. An vielen Orten entlang der Stecke sieht man zwischen grasbestandenen Dünen graue Betonbunker. Verrostete Geschützrohre zielen noch immer Richtung Meer, Flak-Stellungen ragen in den Himmel. Die Überreste des Atlantikwalls, mit dem die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg eine Landung der Alliierten verhindern wollten.
Damals transportierte die Küstentram Munition, Soldaten und Verletzte. Als die Alliierten 1940 vom Deutschen Vormarsch überrascht wurden, wurden über 300.000 Soldaten mit Schiffen nach England evakuiert – unter anderem vom Strand von de Panne.
Auch die Glocken der Liebfrauenkirche in Nieuwpoort erinnern an den Krieg. Im Ersten Weltkrieg stoppten belgische Soldaten kurz vor der Stadt den Angriff der Deutschen Armee, indem sie mit dem Wasser der Yser die nahen Felder überfluteten. Vier Jahre verlief hier die Front. Ständiger Artilleriebeschuss, Giftgasangriffe, Schützengräben. 1918 standen von dem Fischerstädtchen nur noch Mauerreste. Nieuwpoort wurde zum Symbol der sinnlosen Zerstörung. Am wiederaufgebauten Marktplatz mit seinen prachtvollen Häuserfassaden im flämischen Stil erinnert eine Gedenktafel an die Ereignisse von damals.
Refugium der Alten
Die Deutschen, die heute nach Nieuwpoort kommen, tun das in friedlicher Absicht. Rosemarie Pfanner zog vor fast 30 Jahren aus Köln hierher.
"Der Liebe wegen. (lacht)"
Sie fühlt sich wohl hier, wegen des Meers und seiner Anwohner.
"Also, hier in Nieuwpoort-Stadt wohnen eigentlich die Ur-Nieuwpoorteners, das sind Fischer. Dann zieht man hier an die Küste, kauft sich ein Häuschen oder ein Apartment. Also, es ist so eine Mischung, kunterbunt."
Eine Wohnung mit Meerblick, der Traum vieler Belgier. Wahr wird er aber nur für die, die es sich leisten können.
"Eine Einzimmerwohnung fängt bei 160.000 Euro an, eine schöne Wohnung mit zwei Schlafzimmern kostet bis zu 400.000. Die belgische Küste ist eben kurz, nur etwa 65 Kilometer. Jeder will das Meer sehen, das treibt die Preise hoch."
Immobilienhändler Yves Mommerency hat sein Büro direkt an der Strandpromenade. Wohnungen hier sind bei seinen Kunden sehr begehrt.
"Das sind meistens ältere Menschen, das fängt um die 50 an. Das eigene Haus ist abbezahlt, da denken sie dann an eine Zweitwohnung, weil sie nicht mehr nach Spanien oder in die Türkei reisen wollen. In zwei Stunden ist man von Brüssel hier an der Küste."
Ein Fluchtort auch für Xenophobe
Und so gilt die belgische Küste als Refugium der Alten. Rentner und Pensionäre suchen die gesunde Seeluft – und manche treibt auch die Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit hierher, bisweilen an der Grenze zum Rassismus.
"Hier zu wohnen bedeutet, das alte Belgien wiederzufinden. Brüssel ist inzwischen voller Ausländer. Das ist nicht mehr unsere Stadt. Ich bin kein Rassist, aber das ist einfach nicht mehr die Stadt, wie wir sie aus unserer Jugend kennen. Hier gibt es noch das echte Belgien", sagt ein kürzlich hierher gezogener Rentner und schiebt sich die verspiegelte Sonnenbrille auf die Stirn.
Auch hier an der Küste spiegeln sich die Verwerfungen der belgischen Gesellschaft, zwischen Flamen und Wallonen, Eingesessenen und Migranten, Bürgerlichen und Armen. Und weit weg erscheint manchmal die Romantik, mit der eigentlich französischsprachige Jaques Brel sich einst an den flämischen Teil seiner Heimat wandte.
Die Kusttram hält das flache Land zusammen
Das flache Land an der belgischen Küste - die Kusttram hält es zusammen. In der Bahn wird geredet und getratscht, Nachbarn treffen sich auf dem Weg zum Einkaufen, Kinder fahren zur Schule. Für Straßenbahnfahrer Jeffrey ein Traumberuf.
"Jeden Tag ist etwas anderes. Die Strecke ist dieselbe, aber jeden Tag andere Leute, andere Situation jeden Tag."
Und auch das Meer ist niemals dasselbe. Beständig bleibt nur das Rattern der Küstentram.